MayerhoferDoch die Menschen liebe ich über alles. Rosa Jochmann – Eine Biographie in Briefen
Verlag des ÖGB, Wien 2020, 672 Seiten, Paperback, € 36,–
MayerhoferDoch die Menschen liebe ich über alles. Rosa Jochmann – Eine Biographie in Briefen
Der Titel des vorliegenden Bandes ist der Schlusssequenz eines von Rosa Jochmann besonders geliebten Gedichtes von Georgi Ladonstschikow entnommen, welches sie mitunter ihren Briefen beigelegt hat. Und er wird dem Wesen von Rosa Jochmann, wie es sich in ihren Briefen entfaltet, sehr gerecht. Abgesehen von 353 zwei kleineren Publikationen aus den Achtzigerjahren* gab es zu Lebzeiten zwar manches über, aber wenig Biographisches von Rosa Jochmann. Sie war bekannt dafür, dass sie wenig davon hielt, sich mit ihrer eigenen Biographie zu beschäftigen, es sei denn, es ginge um die Überlieferung der Geschichte des Frauen-KZ Ravensbrück, in dem sie inhaftiert war, oder um andere zeitgeschichtlich wichtige Ereignisse, bei denen es ihr wichtig war, sie der Jugend zu vermitteln. Aus einem TV-Interview, das Traudl Brandstaller 1981 für „Prisma“ gestaltet hat, entstand zwar ein Buch von Sporrer/Steiner, doch enthält das vorliegende Buch Briefe an Herbert Steiner und Erich Pogats, mit denen Jochmann geradezu panisch das Erscheinen des damaligen Buches verhindern wollte (551 f). Sie hatte aber auch etwas gegen die Veröffentlichung ihrer Reden: „LESEN einer Rede – das würde gar keinen Eindruck machen“ (552).
Schon die Briefe zu runden Geburtstagen von Rosa Jochmann, die an den Beginn der Biographie gestellt sind, zeigen, dass sich ihre Zeitgenossen ihrer Bedeutung bewusst waren: als wesentliche Eigenschaften aus der Sicht der Weggefährten heißt es da, sie sei schon eine „Zierde der Arbeiterhochschule“ gewesen, die „beste, populärste und begeisterndste Rednerin“, als würdige Nachfolgerin der unvergesslichen Adelheid Popp führe sie ein Leben in der und für die Partei, sie sei ein „lebendes Denkmal“. Bewunderung für die Widerstandsfähigkeit in politischer Verfolgung und KZ-Haft* und für die „Reinheit der sozialdemokratischen Gesinnung“ uam wird in diesen Würdigungen deutlich.
Mangels eigener biographischer Aufzeichnungen erschließt sich Rosa Jochmann im Wesentlichen aus Reden und aus Briefen, wie man auch aus den früheren Publikationen sieht. Das Fehlen der Reden im vorliegenden Band ist dem Konzept des Herausgebers geschuldet, das nicht zu kritisieren ist, mag dieser Umstand da und dort auch störend wirken; so zB im Falle der Auseinandersetzung Rosa Jochmanns mit dem VdU-Abgeordneten Stüber, dem sie aus Anlass ihrer Rede zur Parlamentseröffnung am 9.11.1949 in Beantwortung seiner Entschädigungsforderungen für Entnazifizierte die Leviten gelesen hat: anerkennende Briefe auf diese Rede finden sich im vorliegenden Band (314 ff), Jochmanns Rede (also das eigentliche Ereignis) muss andernorts nachgelesen werden (zB bei Sporrer/Steiner [1983] 130 ff).
Rosa Jochmann war wahrscheinlich eine der letzten passionierten Briefschreiberinnen und sie hinterließ tausende Briefe, in denen sich die erste Republik, die politische Verfolgung im Ständestaat und unter dem NS-Regime bis hin zum KZ Ravensbrück und dann der Wiederaufbau Österreichs einschließlich seiner Vergangenheitsbewältigung widerspiegeln. Die von Rainer Mayerhofer getroffene und mit Zwischentexten versehene Auswahl, in denen der historische Hintergrund einerseits und die Biographie der in den Briefen erwähnten Personen andererseits erläutert wird, vermitteln ein atemberaubendes Panorama über das Leben einer der prägendsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Sozialdemokratie und der zweiten Republik. Wenn es einen Kritikpunkt in diesem Zusammenhang gibt, dann den, dass man in dem Buch, das vor Namen strotzt, ein Personenregister schmerzlich vermisst.
Die aus hunderten ausgewählten Briefen erstellte „Briefbiographie“ Mayerhofers beleuchtet mehrere Generationen und mehrere Perioden der Zeitgeschichte, von den großen alten Damen der Sozialdemokratie, wie Adelheid Popp(Jochmann pflegte sie die „Erweckerin der österreichischen Frauen“ zu nennen) oder Gabriele Proft, bis zur damals jüngeren Generation in der Partei, der auch Jochmann angehörte, wie zB Maria Emhart, Rudolfine Muhr, Helene Potetz und Frieda Nödl. Es zeigt ein berührendes Bild vom Denken der „alten“ Sozialdemokratie und den Konflikten, die dieser „linke“ Teil der SPÖ mit der ganz anderen und weniger skrupelhaften Denkweise eines Oskar Helmer und den „Parteirechten“, zB betreffend den Umgang mit der FPÖ (die Rosa Jochmann beharrlich als Nachfolgepartei der NSDAP eingestuft hat) und den Umgang mit den jüdischen Vertriebenen (Oskar Helmer-Zitat: „Ich bin dafür die Sache in die Länge zu ziehen“
), auszutragen hatte.
Zeitgeschichtliche Blitzlichter ganz banaler Art erlebt man, wenn Frieda Nödl sich darüber beschwert, dass sie bei einem Grabbesuch am Zentralfriedhof 1935 nicht zum Grab des nach den Februarkämpfen 1934 hingerichteten Floridsdorfer Feuerwehrkommandanten Friedrich Weissel gehen durfte (59) und wenn die an Tuberkulose leidende Maria Emhart auf der Flucht vor Versuchen der Heimwehr, sie zu liquidieren, bei Rosa Jochmann Unterschlupf findet und mit Hilfe der „roten Erzherzogin“ Elisabeth Windisch-Graetz in ein Schweizer Sanatorium nach Davos in Sicherheit gebracht wird (538). Es fehlt auch nicht die Geschichte um das Marienbild in Nussdorf/Attersee, das das Gesicht von Emma Adler, der Frau von Viktor Adler, zeigt (569 ff). Ungeachtet ihrer großen Verehrung für ihr Vorbild Otto Bauer (463) kritisierte sie an diesem retrospektiv, dass die Sozialdemokratie nicht 1933 losgeschlagen hatte, als die christlich-soziale Partei das Parlament ausschaltete (489).
Der Band enthält zahlreiche Zeugnisse enger und ungetrübter Freundschaften (mit Maria Emhardt, und vor allem Josefine Muhr) und Briefe aus der und in die Haft Rosa Jochmanns im Ständestaat, vereinzelt auch bei der Geheimen Staatspolizei (GESTAPO) und schließlich im KZ. Besonders beeindruckend sind Rosa Jochmanns Bemühungen um den Rücktransport der in Ravensbrück befreiten österreichischen Überlebenden. Erst als sie sich selbst unter unglaublichen Schwierigkeiten nach Wien durchgeschlagen hatte, war sie in der Lage, mit Hilfe des Bundespräsidenten Renner einen Bus und einen LKW zu organisieren, mit dem sie nach Ravensbrück zurückkehrte (210 f, 214). Bei ihrem ersten Auftreten in ihrem Heimatbezirk Simmering im Oktober 1945 steht der halbe Bezirk jubelnd Spalier 354 (an Karl Kolb 342 ff). Derart ehrliche Begeisterung wurde Rosa Jochmann nicht immer zuteil. Denn Jubel über die Rückkehr von KZ-Insassen war auch in der SPÖ eher selten; im Gegenteil: man war über jedes jüdische Opfer froh, das nicht zurückkam und das wurde bis hin zu Parteigranden wie Adolf Schärf, Oskar Helmer und Julius Deutsch auch offen ausgesprochen. Rosa Jochmann läuft gegen Mauern, als sie versucht, die Rückkehr eines großen alten Mannes der Partei, nämlich Wilhelm Ellenbogen, aus den USA zu betreiben (358 ff). Sie schreibt, dass sie manchmal „kerzengrad in die Luft gehen möchte“ (361). Ellenbogen sollte erst 1951 in der Urne, dann aber immerhin in ein Ehrengrab der Stadt Wien zurückkehren. Die Briefe aus der Nachkriegszeit enthalten zahlreiche Hinweise, auf „die internen Verhältnisse innerhalb unserer Familie“ (= SPÖ), unter denen sie sichtlich gelitten hat, über die sie aber mit Rücksicht auf die damals noch herrschende Zensur der alliierten Besatzer nicht offen schreiben wollte. Sie betrafen offenbar vorwiegend das Verhältnis „der Familie“ zur FPÖ (zB 586).
„Niemals“ wollte sie es Karl Renner verzeihen, dass er 1938 „die Mörder begrüßt hat“, ohne dafür zumindest die Bedingung zu stellen, die politisch Inhaftierten der ersten Stunde („1. Dachau-Transport“) aus dem KZ zu entlassen (491). Sie kritisiert heftig, dass Adenauer in einer Kundgebung der eigenen Partei als Vorbild hingestellt wurde, obwohl er sich mit Nazis umgeben und dafür gesorgt hatte, dass die Kommunisten verboten wurden (238), ebenso die Versorgung Neubachers, des NS-Bürgermeisters von Wien (323).
Rosa Jochmanns Beziehungen zu den Kommunisten war ein heikles Kapitel. Durch lange Jahre war mit Cilly Helten bis zu deren Tode 1974 eine deutsche Kommunistin ihre Lebensgefährtin, ein Umstand, der offenbar sogar mit der Ravensbrücker Lagergemeinschaft zu Auseinandersetzungen führte, wie in einem Brief an Berta Lauscher (ebenfalls KPÖ) angedeutet wird (265 f). Während die Parteispitze, getrieben von der „Volksfront“-Propaganda der ÖVP, die größtmögliche Distanz zur KPÖ forderte, war Rosa Jochmann mit manchen Funktionärinnen des KPÖ, die ursprünglich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) der Jahre bis 1934 angehört hatten und mit denen sie in Ravensbrück inhaftiert gewesen war, befreundet und noch dazu überzeugt davon, dass nicht die Trennung, sondern nur ein Zusammenschluss der Arbeiterschaft die politische Lage verbessern könne. Ihre freundschaftliche Korrespondenz mit Hella Postranecky gibt davon ebenso beredtes Zeugnis (407 ff) wie der in warmen Worten gehaltene Kondolenzbrief an Hilde Koplenig zum Tod Johann Koplenigs (650), der nicht nur langjähriger Vorsitzender der KPÖ, sondern auch gemeinsam mit Renner, Schärf und Kunschak als Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung vom 27.4.1945 Mitbegründer der 2. Republik gewesen ist.*
Trotz ihrer stets ungebrochenen Loyalität zur SPÖ wurde von deren rechten Hardlinern, von denen Oskar Helmer wohl einer der schlimmsten war, stets der Verdacht genährt, dass sie in „gewissen Kreisen“ (gemeint: kommunistischen) verkehre. Die in einem Brief aus 1956 erfolgte Abrechnung Rosa Jochmanns mit Oskar Helmer (413 ff), der nicht nur Frauenfunktionärinnen, sondern auch ehemalige KZ-Häftlinge nicht ausstehen konnte, weil sie sein Harmoniebedürfnis mit den Rechten störten, ist lesenswert. Allerdings schwingt auch Resignation mit, wenn sie schreibt, „du und ich sind zwei Welten ... aber deine Meinung teilen die meisten in der Partei auf die es ankommt und wir sind eine verschwindende Minorität“
. In der politischen Auseinandersetzung blieb Rosa Jochmann dennoch fair und zurückhaltend, wie man zB in der Auseinandersetzung mit Otto Scrinzi und dem Journalisten Viktor Reimann (beide bekanntlich weit rechts) in einem Club 2 entnehmen kann: Sie sagte ihnen mit Rücksicht auf ihre schuldlosen Familien die (ungeschminkte) Meinung, was sie von ihnen hält, vor der Sendung und nicht öffentlich in der Sendung (an Maria Sporrer 557).
Die Erlebnisse im KZ haben nicht nur das weitere Leben der Rosa Jochmann entscheidend geprägt, sondern auch ihre differenzierten Auftritte als Zeugin einerseits gegen bestialische NS-Schergen, andererseits aber auch für unschuldig Verdächtigte (221). Ein eigenes Kapitel (275 ff) gibt Auskunft über ihre Inanspruchnahme „auf der Suche nach den Tätern“, das auch Rundschreiben und Prozessberichte an „ihre“ Lagergemeinschaft enthielt, für die sie sich ihr Leben lang verantwortlich gefühlt und der sie einen Großteil ihres Lebens nach 1945 gewidmet hat. Dass Rosa Jochmann von ihren Erlebnissen im KZ ihr Leben lang gepeinigt wurde, ergibt sich aus Bemerkungen in ihren Briefen, so etwa, wenn sie an Herbert Steiner schreibt, dass sie niemals mit jemandem das Zimmer teilen könne, da sie mitunter aus ihren KZ-Träumen schweißgebadet und schreiend erwache (545). Sie bezeichnet ihre Erlebnisse im KZ als „Zeit, mit der ich NIEMALS fertig werden kann“
(an Sporrer 548).
Rosa Jochmann diente dessen ungeachtet dem „Niemals vergessen!“ vom Augenblick ihrer Befreiung aus dem KZ an in einzigartiger und kompromissloser Weise. Sie schreibt Herbert Steiner 1979: „ich ... würde dringend eine Erholung brauchen, aber ich kann sie mir nicht leisten, denn dem Ruf der Jungen muss ich folgen“
(546). Im Gefolge ihrer Teilnahme an einem Club 2 aus Anlass der Ausstrahlung des TV-Dreiteilers „Holocaust“ im Jahre 1979 (546) bestürmt man sie erfolgreich, als Zeitzeugin in Vorträgen, vor allem auch in Schulen, aufzutreten, dem sie bereitwillig den Rest ihres Lebens nachkommt. Denn: „Es gibt eine Verpflichtung, die erst dann aufhört, wenn man nicht mehr ist“
(an Otto König 330).
Rosa Jochmann war im Bewusstsein, dies der Jugend zu schulden, auf diese Weise bis ins hohe Alter unermüdlich „zwischen Neusiedlersee und Bodensee“ unterwegs, wie sie in einem Brief an den Rezensenten 1987 geschrieben hat – da war sie 86 Jahre alt –, als Zeitzeugin, als ehemalige Widerstandskämpferin und als Überlebende des NS-Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück.
Dankbarkeit war eine wichtige Kategorie im Leben der Rosa Jochmann. Ein besonders berührendes Beispiel ist ein Leserbrief Jochmanns in der AZ vom 28.6.1984: aus Anlass der Ehrungen für den höchst angesehenen Arzt Univ.-Prof. Karl Fellinger zu dessen 80. Geburtstag erinnert sie an den 30-jährigen Fellinger, der fast jeden Tag „zur Erweckerin der österreichischen
355Frauen, zur Genossin Adelheid Popp, gekommen ist“
, um die nahezu mittellose, schwer erkrankte Frau bis zu ihrem Tod am 7.3.1939 unentgeltlich medizinisch zu betreuen. Sie führte auch eine ausführliche Korrespondenz mit der Oberin der Trinitarierschwestern (572 ff), deren Mitglied die in Ravensbrück inhaftierte und in Auschwitz ermordete Nonne Angela Autsch war. Die letztendliche, kürzlich erfolgte Seligsprechung durch Papst Franziskus ist auf zahlreiche Zeugnisse von Ravensbrücker Kameradinnen zurückzuführen.
Briefwechsel mit zahlreichen Kulturschaffenden, wie Erich Maria Remarque und Erich Fried, sowie den Schauspielerinnen Grete Zimmer und Dorothea Neff und mit Freunden, runden den Band und das Bild Rosa Jochmanns ab.
Schreibt man eine Rezension über dieses Buch, dann ertappt man sich nach einigen Zeilen dabei, nicht über das Buch, sondern eigentlich über Rosa Jochmann zu schreiben, so eindringlich tritt ihre Gestalt aus dieser Briefsammlung hervor. Die reiche Fülle des Gebotenen kann hier nur spärlich angedeutet werden. Dem Autor und dem ÖGB-Verlag ist zu diesem Buch zu gratulieren und für die Mühe des Zusammentragens und Aufschließens der Dokumente durch zahllose Anmerkungen und Zwischentexte herzlich zu danken. Das Werk schafft nicht nur ein literarisches Denkmal der großen Demokratin und Sozialistin Rosa Jochmann, es entfaltet zugleich ein historisches Panorama der Parteigeschichte der SPÖ im Besonderen, aber auch der politischen österreichischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen. Dem Lebensmotto Jochmanns „Niemals Vergessen“ trägt dieser Band auf hervorragende Weise Rechnung. Es sind ihm viele, vor allem auch junge LeserInnen und dementsprechend viele Auflagen zu wünschen, ab der zweiten Auflage aber bitte mit einem Namensregister, das die mühsame Suche durch 675 Seiten erspart. Noch ein Hinweis: Es gibt mittlerweile eine hervorragende Website „Rosa Jochmann“ als ein Projekt des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) und des Bundes Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen, Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen, die zahlreiche Bilder und Dokumente zum Leben der Rosa Jochmann enthält und deren Besuch ich ergänzend zu dem Buch empfehle.*