EgleDie „ex tunc“-Nichtigkeit von Dauerschuldverhältnissen nach § 142 Abs. 1 BGB
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2020, 351 Seiten, € 89,90
EgleDie „ex tunc“-Nichtigkeit von Dauerschuldverhältnissen nach § 142 Abs. 1 BGB
Das Buch beinhaltet die von Philip Egle im Jahr 2019 an der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg eingereichte Dissertation. Aus dem Untertitel ergibt sich der konkrete Inhalt: „Eine dogmatische Diskussion der Rechtsfolge des § 142 Abs 1 BGB anhand der exemplarischen Untersuchung angefochtener Dauerschuldverhältnisse“.
§ 142 Abs 1 BGB besagt – vergleichbar mit § 877 Abs 1 ABGB –, dass ein Rechtsgeschäft mit Wirksamwerden der Anfechtung als von Anfang an nichtig gilt. Ähnlich wie in Österreich wird auch in Deutschland vielfach vertreten, dass insb Dauerschuldverhältnisse keiner ex tunc-Nichtigkeit anheimfallen können, weil diese Rechtsfolge nicht der Eigenart der Dauerschuldverhältnisse entspricht. Speziell bei Arbeits- und Gesellschaftsverträgen wird eine ex tunc-Nichtigkeit vielfach grundsätzlich verneint (vgl zur österreichischen Diskussion OGH6 Ob 641/79 MietSlg 31.084; OGH7 Ob 553/82 MietSlg 34.131; OGH4 Ob 141/84
; OGH 27.1.1995, 7 Ob 515, 516/95; OGH 26.11.1996, 1 Ob 2169/96v; Welser/Zöchling-Jud, Bürgerliches Recht II14 [2015] Rz 34; Gschnitzer, Die Kündigung nach deutschem und österreichischem Recht, JherJB 76 [1926] 396 ff; Engelhart, Anfechtung von Arbeitsverträgen oder Verdrängung durch Auflösung aus wichtigem Grund? wbl 2016, 485; anders hingegen bezüglich der Nichtigkeit gem § 879 ABGB: Engelhart, Die Nichtigkeit von Arbeitsverträgen [2020] mwN; siehe auch Gschnitzer in Klang, ABGB IV/12 [1968] 137; krit P. Bydlinski/Ibler, Die Wirkung der Anfechtung von Dauerschuldverhältnissen wegen eines Willensmangels, JBl 2016, 15 ff; Tutschek, Irrtums- und Listanfechtung im Arbeitsrecht [2017]). Aus diesem Grund hat sich Egle zum Ziel gesetzt, die Vereinbarkeit von Dauerschuldverhältnissen mit der Rechtsfolge des § 142 Abs 1 BGB umfassend dogmatisch aufzuarbeiten.Egle beschäftigt sich im ersten Teil seines Werks explizit mit den Anfechtungsregularien der §§ 142 ff BGB und analysiert deren Funktion im Gesamtbild der Beendigungsmechanismen sowie insb die Rechtsfolge des § 142 Abs 1 BGB. Dabei erörtert er mögliche Konkurrenzbeziehungen der Anfechtung, wie zB die Abgrenzung zum versteckten Dissens oder auch das Verhältnis zu Mängelgewährleistungsrechten. Im weiteren Verlauf des Grundlagenkapitels wird neben den Grundbegriffen des Anfechtungsgegners und der Anfechtungsfrist auf das Anfechtungsrecht genauer eingegangen und so die Voraussetzungen einer wirksamen Anfechtung einführend abgehandelt. Anschließend erörtert der Autor die ex tunc-Nichtigkeit bei Willensmängeln, die Ausnahmen im Familienrecht und die Ersatzpflicht eines etwaigen Vertrauensschadens gem § 122 BGB. Da sich letztere auch aus der culpa in contrahendo (§§ 280 Abs 1, 311 Abs 2, 241 Abs 2 BGB) ergeben kann, wird auch auf diese Thematik Bezug genommen. Vielfach Hintergrund der Annahme, dass Dauerschuldverhältnisse nicht mit ex tunc- Wirkung angefochten werden können, ist, dass für diese besondere Art von Vertragsverhältnissen eigene Beendigungsmechanismen gesetzlich verankert wurden. Bei Nicht-Leistung und nicht vertragsgemäßer Leistung kann bei Zielschuldverhältnissen vom Vertrag zurückgetreten werden, wohingegen nach hM zutreffend die Kündigung des Dauerschuldverhältnisses dem Rücktritt gleichzusetzen ist. Auf den ersten Blick kann hingegen der Anfechtung keine vergleichbare Beendigungsmöglichkeit gegenübergestellt werden, weshalb Egle sinnvollerweise speziell auch die Funktion der Anfechtung im Gesamtbild der Beendigungsmechanismen des BGB beleuchtet. Abschließend beinhaltet das Grundlagenkapitel noch eine umfassende Abhandlung des Bereicherungsrechts gem §§ 812 ff BGB. Immerhin 366 dient dieses im Falle einer ex tunc-Nichtigkeit einer für die Parteien angemessenen und deren Risiken berücksichtigenden Rückabwicklung.
Der zweite Abschnitt ist der Aufbereitung der methodisch dogmatischen Rechtsanwendung und der Auslegung der Rechtsfolge des § 142 Abs 1 BGB gewidmet. Nach Ansicht des Autors ist der Wortlaut des § 142 Abs 1 BGB insoweit klar, als dass nach Auslegung der Bestimmung eine ex tunc-Nichtigkeit der Anfechtung als Rechtsfolge stimmig erscheint. Das Argument des fehlenden Schutzes des Rechtsverkehrs schränkt die Anfechtung zu sehr ein und kann diese als sensible Regelungsmaterie mit Blick auf die Rückabwicklung von Verträgen gesehen werden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Vertrauen des Rechtsverkehrs auf einen Dauerschuldvertrag nicht minder geschützt ist, als jenes bei punktuellen Schuldverhältnissen.
Um die Problematik der ex tunc-Nichtigkeit bei Dauerschuldverhältnissen analysieren zu können, bedarf es sinnvollerweise einer Abhandlung der besonderen Natur der Dauerschuldverhältnisse. Die Grundlage dafür wird im dritten Kapitel gelegt, bevor beispielhaft auf einzelne Vertragstypen, wie zB den Arbeitsvertrag oder den Gesellschaftsvertrag, eingegangen wird. Richtigerweise kann aus dem Wortlaut der Bestimmung allein eine Beschränkung auf Zielschuldverhältnisse nicht angenommen werden. Egle führt zutreffend aus, dass auch eine solche Einschränkung systematisch nicht begründet werden kann, da für das Institut der Aufhebung der Ehe in §§ 1313 ff BGB und der Aufhebung der Annahme als Kind in §§ 1759 ff BGB gesonderte Rechtsfolgen normiert wurden. Daraus schließt der Autor, dass im Allgemeinen alle weiteren Dauerschuldverhältnisse der Anfechtung nach § 142 Abs 1 BGB unterstellt sind. Er lässt dabei auch nicht die zeitliche Komponente bei Dauerschuldverhältnissen außer Acht, sondern argumentiert, dass im Hinblick auf die Interessen des Anfechtenden eine Abschwächung der Rechtsfolgen nicht nachvollziehbar ist. Immerhin stellt der angemessene Schutz des Anfechtenden den Zweck der Anfechtung dar. Wie schon erwähnt, wird in weiterer Folge auf den Arbeitsvertrag, den Gesellschaftsvertrag, den Mietvertrag und das Zeitungsabonnement näher eingegangen und deren Vereinbarkeit mit der Anfechtung in der bisherigen Rechtspraxis dargelegt.
In einem vierten Abschnitt werden die Rechtsfolgen der Anfechtung in Bezug auf Dauerschuldverhältnisse diskutiert. Insb in Bezug auf den Arbeitsvertrag ist auszuführen, dass Egle keine Probleme bei einer möglichen Rückabwicklung sieht. Die Arbeitsleistung des AN ist zutreffend als Bereitstellung der Arbeitskraft und Bindung an den AG zu verstehen. Diese Zurverfügungstellung kann nach Ansicht des Autors unter § 812 Abs 1 Satz 1 BGB subsumiert und demnach ein Wertersatz gem § 818 Abs 2 BGB berechnet werden. Auch in der Schutzbedürftigkeit des AN sieht Egle keinen Hinderungsgrund für eine etwaige Rückabwicklung. Dafür müsste sich eine unvereinbare Schutzlosigkeit des AN mangels angezeigter Schutzrechte als Regelungslücke erkennen lassen. Bestärkt wird er in seiner Annahme durch die Rsp, da diese bei Anstellungsverhältnissen des Vorstands aufgrund vermeintlicher Rückabwicklungsprobleme eine ex tunc-Wirkung verneint und daher den Schutzrechten der AN keine ausschlaggebende Bedeutung zumisst. In ausführlicher Weise erörtert Egle in weiterer Folge die Rechtsfolgen einer ex tunc-Wirkung in Bezug auf den Insolvenz-, Lohn- und Pfändungsschutz, auf das Urlaubsentgelt, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, den Mutterschutz, die Kündigungsschutzrechte und die sozialversicherungsrechtliche Ebene/Absicherung, wie auch die steuerrechtliche Erfassung.
Im Schlusskapitel hat Egle einen Lösungsvorschlag erarbeitet, um die Vereinbarkeit von Dauerschuldverhältnissen und Anfechtung aufzeigen zu können. Grundsätzlich unterscheidet er zwischen dem Gesellschaftsvertrag und allen anderen Dauerschuldverhältnissen. Bei Letzteren ist zwingend die normierte ex tunc-Rechtsfolge nach § 142 Abs 1 BGB ausschlaggebend, wohingegen Gesellschaftsverträge nach Ansicht des Autors einer „Ausnahmelösung“ bedürfen. Diese gesonderte Behandlung von Gesellschaftsverträgen argumentiert Egle zu Recht mit der gesellschaftsrechtlichen Besonderheit des von den Gesellschaftern losgelösten Haftungssubjekts.
Abschließend ist festzuhalten, dass dem Autor eine umfangreiche und umfassende Aufarbeitung und Analyse der Anfechtung von Dauerschuldverhältnissen gelungen ist. Die Verknüpfung der zivilrechtlichen Grundlagen mit Konstellationen aus dem Sonderprivatrecht ist nicht immer einfach und dennoch zeigt die Untersuchung, dass eine dogmatische Lösung mit den bestehenden Regelungen durchaus gefunden werden kann, selbst wenn es auf den ersten Blick so scheint, als müssten für Dauerschuldverhältnisse immer gesonderte Regelungen gelten. Dem Autor kann insb zugestimmt werden, dass das Argument einer problematischen Rückabwicklung nicht als ausreichend empfunden wird, um eine Regelungslücke anzunehmen. Dennoch ist bereits bestehenden (Sonder-)Regelungen Beachtung zu schenken, weshalb zB für Arbeitsverträge in Österreich mE primär – aufgrund der explizit normierten Gründe, die einer Anfechtung entsprechen – die Entlassungs- und Austrittsregelungen Geltung erlangen.