Deinert/Maksimek/Sutterer-KippingDie Rechtspolitik des Sozial- und Arbeitsrechts – HSI-Schriftenreihe Band 30

Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2019, 619 Seiten, kartoniert, € 34,90

MAGDALENALENGLINGER (WIEN)

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um das Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojektes mit dem Ziel, Widersprüche zwischen den Regelungen des deutschen Arbeits- und Sozialrechts aufzudecken. Ausgangspunkt ist die – in Österreich ohnehin stärker vertretene – Auffassung, Arbeitsrecht und Sozialrecht nicht getrennt voneinander zu betrachten, weil diese Rechtsgebiete ineinander verzahnt sind und sich gegenseitigstark beeinflussen. Anhand von ausgewählten Beispielen werden Fehlentwicklungen aufgezeigt und im Anschluss gesetzessystematisch passende Lösungen angeboten. Behandelt werden drei in Deutschland viel diskutierte Themen: atypische Beschäftigung, dis- kontinuierliche Erwerbsbiografien samt deren negative Auswirkung auf die Altersversorgung sowie die erodierende Tarifautonomie. Dazu wird nicht nur die geltende Rechtslage analysiert und ein rechtshistorischer Rückblick vorgenommen, um rechtspolitische Leitbilder aufzuzeigen, sondern auch die Auswirkung anhand von empirischen Daten erforscht. Besonders spannend ist dabei die Bewertung, inwiefern die beabsichtigten Ziele auch tatsächlich eingetreten und statistisch nachweisbar sind. Dies ist jedenfalls auch für Personen gewinnbringend, die nicht im Detail mit der deutschen Rechtslage vertraut sind.

Als Beispiel aus dem Kapitel atypische Beschäftigung soll die Befristung von Arbeitsverträgen herausgegriffen werden. Anders als in Österreich bestehen in Deutschland detaillierte gesetzliche Regelungen. Für Befristungen sind sachliche Gründe erforderlich, welche § 14 Abs 1 deutsches Teilzeit- und Befristungsgesetz (dTzBfG) demonstrativ auflistet. Fehlen diese, dürfen befristete Arbeitsverträge nur maximal zwei Jahre dauern. Dauern diese kürzer, sind drei Verlängerungen möglich, wobei die Gesamtdauer auf zwei Jahre begrenzt ist (§ 14 Abs 2-3 dTzBfG). Zusätzlich können Gerichte auch bei Vorliegen eines Sachgrundes Kontrollen vornehmen, da im Einzelfall ein missbräuchlicher Einsatz von Kettenbefristungen vorliegen kann (EuGH 26.1.2012, C-586/10, Kücük).

Als rechtspolitische Ziele von Befristungen werden die Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen und mehr Flexibilität für Unternehmen genannt. Zudem sollen sie als Brücke in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis dienen. An dieser Stelle ziehen die AutorInnen aus einer Analyse der Arbeitslosenquote und der Quote der befristeten Arbeitsverhältnisse den Schluss, dass Befristungen weniger die beabsichtigte Brückenfunktion erzielen, sondern de facto als Drehtür fungieren. Denn mehr als die Hälfte der befristeten Arbeitsverträge werden wiederum befristet fortgesetzt oder laufen aus (S 175).

Außerdem hat die Befristung von Arbeitsverträgen negative Effekte auf das Sozialrecht. So setzt ein Anspruch aus der AlV gewisse Zeiten der Anwartschaft voraus und Zeiten ohne Erwerbstätigkeit aufgrund von fehlender Anschlussbeschäftigung wirken sich rentenvermindernd auf die Altersversorgung aus. Dazu kommt, dass die Wiederaufnahme eines neuen Arbeitsverhältnisses regelmäßig zu ungünstigeren Bedingungen stattfindet. Auch ist es – trotz Bemühungen um Portabilität der Ansprüche (vgl EU-MobilitätsRL 2014/50/EU) – erheblich schwieriger, in den Genuss von unverfallbaren Anwartschaften für Betriebspensionen zu kommen. Oft werden die erforderlichen drei Jahre Betriebszugehörigkeit zum Entstehen eines Anspruchs nicht erreicht, da in 76 % der deutschen Betriebe die befristeten Arbeitsverträge nicht länger als ein Jahr dauern (S 190).

Die AutorInnen kommen zum Ergebnis, dass befristete Beschäftigungen ein hohes Prekaritätsrisiko bergen und bieten mehrere Lösungsansätze an. Zentral ist dabei die Forderung, sachgrundlose Befristungen gänzlich abzuschaffen. Der soziale Kündigungsschutz in Deutschland besteht ohnehin erst nach sechs Mona 370 ten (§ 1 Abs 1 deutsches Kündigungsschutzgesetz [dKSchG]) und Vereinbarungen einer Probezeit mit verkürzter Kündigungsfrist sind zulässig (§ 622 Abs 3 deutsches Bürgerliches Gesetzbuch [dBGB]). Somit sind AG sowieso in der Lage, die Arbeitsleistung von AN in den ersten sechs Monaten zu erproben, ohne dem Risiko von Kündigungsfristen oder Anfechtungen ausgesetzt zu sein. Allerdings stellt sich die Frage, ob durch die gänzliche Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen zu stark in die Privatautonomie eingegriffen wird. Hier ist meiner Meinung nach zwischen der ersten Befristung, bei der die AN nicht zwangsläufig schutzbedürftig sind, und neuerlichen Befristungen zu differenzieren. Während die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung überschießend ist, erscheint es mir zweckmäßiger, für erneuerte Befristungen mehr Schranken vorzusehen.

Zusätzlich wird die Abschaffung des Sachgrundes zur Erprobung gefordert, da ohnehin in den ersten Monaten Kündigungen erleichtert werden. Für Ausnahmefälle, in denen eine Erprobungszeit von sechs Monaten nicht ausreicht, wird der Sachgrund des außergewöhnlichen Erprobungsbedarfes empfohlen, ohne diesen genauer zu definieren. Alternativ wird vorgeschlagen, den Sachgrund der Erprobung zur Gänze zu streichen und es der Rsp zu überlassen, einen außergewöhnlichen Erprobungsbedarf anzuerkennen. Dies ist mE nicht nur aus Sicht der Gewaltenverteilung bedenklich, nach der es Aufgabe der demokratisch legitimierten Gesetzgebung ist, klare Entscheidungen zu treffen. Andererseits birgt der Plan, Sachgründe zuerst aus einer Aufzählung zu streichen, in der Hoffnung, dass die Rsp diese dann in Ausnahmefällen doch anwendet, die Gefahr der Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten.

Zusätzlich wird bei neuerlicher Befristung eines Arbeitsplatzes eine beschäftigungsfreie Karenzzeit angedacht. Wird ohne Unterbrechung erneut ein befristeter Arbeitsvertrag abgeschlossen, wird dieser in einen unbefristeten umgedeutet. Zudem wird ein höheres Arbeitsentgelt für befristete Beschäftigte (vgl dazu in Österreich als ähnliches Steuerungsinstrument den Abschlag von 25 % bei befristeten Wohnungsmieten gem § 16 Abs 7 MRG) diskutiert. Ebenso könnte eine Abfindung („Prekaritätsprämie“) für das Ablaufen der Befristung ohne Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis erwogen werden. Dabei ist in Bezug auf die Abfindung und des erhöhten Entgelts darauf hinzuweisen, dass dies aus österreichischer Sicht wohl Aufgabe der Sozialpartner wäre.

Ein anderes Kapitel widmet sich der erodierenden Tarifautonomie in Deutschland. Anders als der Abschnitt über atypische Beschäftigung ist dieses Thema von geringerer Bedeutung in Österreich. Während 98 % der österreichischen AN durch Kollektivverträge geschützt sind (https://www.kollektivvertrag.at/cms/KV/KV_3.2/der-kollektivvertrag/warum-kollektivvertraegehttps://www.kollektivvertrag.at/cms/KV/KV_3.2/der-kollektivvertrag/warum-kollektivvertraege), geht in Deutschland seit Jahren die Tarifbindung zurück. Konkret führte das dazu, dass 2017 nur noch 49 % der westdeutschen und 34 % der ostdeutschen AN verbandstarifgebunden arbeiteten (S 548). Auch dazu werden mehrere Lösungen angeboten, wie zB die Erstreckung eines Mindestschutzes für Außenseiter, um einen Wettbewerb von unterbietenden Arbeitsbedingungen zu begrenzen, die Schaffung von Tarifverträgen für On-site-Solo-Selbstständige, die in die betriebliche Organisation eingebunden sind, oder die Beitragsentlastung für organisierte oder tarifgebundene AG in die SV. Jedenfalls zuzustimmen ist der Ansicht, dass die Stärkung der Tarifautonomie kein rein arbeitsrechtliches Thema ist, sondern zugleich auch die Grundbedingung für die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme darstellt. Denn die Höhe der Entgelte wirkt sich meist auch wesentlich auf die Höhe der Versicherungsleistungen aus.

Ob man den Vorschlägen folgen möchte oder nicht, wird jedem Leser freigestellt. Jedenfalls sind es höchst interessante Beiträge zu einer rechtspolitischen Diskussion, welche im Gegensatz zu Einzelproblembetrachtungen eine systematische Analyse des Arbeits- und Sozialrechts anstrebt. Neben der Schaffung von kohärenten Ansätzen durch diese ganzheitliche Betrachtung zeichnet sich das Werk vor allem durch die zahlreichen Daten aus, die es dem Leser ermöglichen, die Relevanz der jeweiligen Probleme zu erkennen. Dadurch stellt das Werk einen Gewinn für eine datenbasierte Diskussion dar und erlaubt eine Überprüfung, ob einzelne (rechtspolitische) Annahmen so auch tatsächlich empirisch nachweisbar sind. Insgesamt handelt es sich um eine Lektüre, die zum Nachdenken und Hinterfragen einlädt. Gerade in Krisenzeiten ist dies wertvoll, da sich dann die enorme Bedeutung von funktionierenden Systemen der sozialen Absicherung zeigt.