30Unterschiedliches Pensionsalter für Frauen und Männer ist unionsrechtskonform
Unterschiedliches Pensionsalter für Frauen und Männer ist unionsrechtskonform
Österreich hat berechtigt von der von der RL 79/7/EWG eingeräumten Möglichkeit, die Festsetzung des Rentenalters vom Anwendungsbereich dieser RL auszuschließen, Gebrauch gemacht.
Die durch die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG ermöglichte Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Festsetzung des Rentenalters verstößt nicht gegen die in Art 21, 23 Abs 1 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung.
Ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Klärung der Frage, ob die österreichischen Regelungen zur Angleichung des unterschiedlichen Regelpensionsalters von Männern und Frauen mit dem Unionsrecht vereinbar sind, ist nicht zu stellen.
Mit Bescheid vom 19.6.2018 anerkannte die Bekl den Anspruch des im Mai 1955 geborenen Kl auf Korridorpension ab 1.6.2018 in Höhe von 3.084,54 € brutto monatlich. Im Hinblick darauf, dass der Kl das Regelpensionsalter von 65 Jahren erst am 1.6.2020 erreicht, war gem § 5 Abs 2 APG ein Abschlag von 5,1 % pro Jahr (somit insgesamt 10,2 %) vorgenommen worden. Ohne diese Abschläge wäre die monatliche Bruttopension um 350,36 € höher. [...]
Die Bekl bestritt und beantragte die Abweisung der Klage. Die Korridorpension sei der Höhe nach gesetzeskonform berechnet worden. Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Kl seien unberechtigt.
Das Erstgericht stellte fest, dass der Anspruch des Kl auf Korridorpension ab 1.6.2018 in Höhe 3.084,54 € monatlich besteht. Das Mehrbegehren, die Bekl sei schuldig, dem Kl für Juni 2018 eine Differenzzahlung in Höhe von 350,36 € zu leisten, sowie das Feststellungsbegehren, dass der Anspruch auf Korridorpension ohne Abschläge bestehe, wurden abgewiesen. [...]
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. [...]
Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung nicht zu, dass es sich bei seiner Entscheidung an einer gesicherten Rsp orientieren habe können.
Die – nach Freistellung der Revisionsbeantwortung – von der Bekl beantwortete Revision des Kl ist zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.
Der Revisionswerber macht vorerst geltend, das Anknüpfen an das gesetzlich (noch immer) unterschiedliche Regelpensionsalter von weiblichen und männlichen Versicherten im Zusammenwirken mit § 5 Abs 2 und 4 APG führe zu einer Ungleichbehandlung in einer Art und in einem Ausmaß, das durch die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG nicht mehr zu rechtfertigen sei. Die im BVG Altersgrenzen vorgesehene Angleichung des Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen bis Ende 2033 stelle keine vorübergehende Ungleichbehandlung zu Zwecken der schrittweisen Angleichung des Pensionsalters mehr dar, sondern habe bereits Dauerrechtscharakter. § 5 Abs 2 APG hätte deshalb von den Gerichten unangewendet bleiben müssen. 308
Dazu ist auszuführen:
[...]
2. Zum unionsrechtlichen Sekundärrecht:
[...]
2.4. Zu der Frage, ob das Unionsrecht (RL 79/7/EWG iVm Art 21 und 23 GRC) dahin auszulegen sei, dass die österreichischen Regelungen zur etappenweisen Angleichung des Regelpensionsalters von Frauen an jenes von Männern erst ab dem Jahr 2024 den sich aus Art 21 Abs 1 und Art 23 GRC ergebenden Gleichheitsgeboten widersprechen, hat der OGH zuletzt in der Entscheidung 10 ObS 44/14i (SSV-NF 28/74) zu § 130 Abs 1 GSVG Stellung genommen. Nach dieser Entscheidung verstößt diese Regelung nicht gegen die in Art 20, 21 Abs 1 und Art 23 Abs 21 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, die Österreich bei der Umsetzung der RL 79/7/EWG gem Art 51 Abs 1 GRC zu beachten hat. Betont wurde insb der den Mitgliedstaaten bei der Wahl der zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele geeigneten Maßnahmen offenstehende weite Entscheidungsspielraum und die in den Mitgliedstaaten unterschiedlichen Endzeitpunkte der laufenden Anpassungsprozesse (RIS-Justiz RS0129869). Eine Vorabentscheidung des EuGH wurde nicht eingeholt (dazu kritisch Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210; Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen? ZAS 2015, 222).
3. Die kritischen Stellungnahmen erfordern eine neuerliche Überprüfung durch den OGH dahin, ob ein Vorabentscheidungsersuchen einzuholen ist.
3.1. Art 7 Abs 1 lit RL 79/7/EWG erlaubt die Festsetzung eines nach Maßgabe des Geschlechts unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für die Gewährung von Alters- und Ruhestandsrenten sowie Formen der Diskriminierung, die notwendig mit dem Unterschied verbunden sind (EuGHC-9/91, The Queen/Secretary of State for Social Security, Rn 20). Der Unionsgesetzgeber wollte mit dieser Regelung die Mitgliedstaaten ermächtigen, die den Frauen zuerkannten Vorteile im Zusammenhang mit dem Ruhestand vorübergehend aufrecht zu erhalten, um es diesen Staaten zu ermöglichen, die Rentensysteme in dieser Frage schrittweise zu ändern, ohne das komplexe Gleichgewicht dieser Systeme zu stören. Zu diesen Vorteilen gehört auch die Möglichkeit für Arbeitnehmerinnen, Rentenansprüche früher geltend zu machen als (männliche) AN (EuGHC-423/04, Richards, Rn 35 mwN).
Aufgrund der Sensibilität der Materie und der damit verbundenen Belastung für den Staatshaushalt wurde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich des Sozialrechts nur schrittweise zu verwirklichen. Die Mitgliedstaaten haben aber die Kommission über die Gründe, die eine etwaige Beibehaltung der geltenden Bestimmungen in den unter Art 7 Abs 1 genannten Bereichen rechtfertigen, sowie über die Möglichkeit einer späteren Revision zu berichten (Art 8 Abs 2 RL 79/7/EWG). Abgesehen von der ständigen Überprüfungspflicht gilt der Ausnahmetatbestand des Art 7 RL 79/7/EWG zeitlich unbegrenzt.
3.2. Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG stellt eine Ausnahme vom Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots dar und nicht bloß einen Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung. Ein Zeitpunkt, zu dem die Gleichbehandlung in dem von deren Geltung ausgenommenen Bereich der Festsetzung eines nach Maßgabe des Geschlechts unterschiedlichen gesetzlichen Rentenalters für die Gewährung von Alters- und Ruhestandsrenten (Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG) in der gesamten Union verwirklicht sein muss, wird nicht festgelegt (Art 7 Abs 2 RL 79/7/EWG; EuGH 7.7.1992, Rs C-9/91, The Queen/Secretary of State for Social Security, Rn 15; Bieback/Khalil-Wolff in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 [2018], Teil 5 Richtlinie 79/7/EWG Art 7 Rz 2; Spiegel, Auswirkungen des EG-Rechts auf das unterschiedliche Pensionsalter für Frauen und Männer [Teil II], DRdA 2004, 116 [129] mwN).
3.3. Die zeitlich unbegrenzte Geltung der Ausnahme sollte durch einen ergänzenden Richtlinienentwurf der Kommission vom 27.10.1987 zur ergänzenden Verwirklichung der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit geändert werden. Mit diesem Entwurf sollte eine weitgehende Aufhebung der Ausnahme vorgesehen werden. Dieser Richtlinienentwurf wurde jedoch nicht verabschiedet. Auch danach kam es zu keiner Reform der RL 79/7/EWG (Husmann, Reformbedarf in der Richtlinie 79/7/EWG, ZESAR 2014, 70 [79]).
Bis heute ist nur einer der fünf Ausnahmetatbestände (Art 7 Abs 1 lit e) obsolet geworden.
3.4. Im Hinblick darauf, dass das Ziel der RL in der schrittweisen Verwirklichung der Gleichbehandlung liegt, wurden in der Lehre wiederholt Bedenken gegen die Unionsrechtskonformität der im BVG Altersgrenzen gewählten Übergangsfristen dahin geäußert, dass die gewählte Zeitspanne zu lang sei, um noch den Vorgaben des Art 7 zu entsprechen (Wolfsgruber, Pensionsalter und Europäisches Sozialrecht, DRdA 2001, 81; Tomandl, Ungleiches Pensionsalter, ecolex 1993, 102 [103]; Rebhahn, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, ZESAR 2015, 210; Kapuy, ZAS 2015, 222).
3.5. Dem ist entgegenzuhalten, dass die von der RL bezweckte schrittweise Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ihren Niederschlag in den Ausnahmebestimmungen (darunter Art 7 Abs 1 lit a) findet und sich nicht nur im Fehlen eines festgelegten Zeitpunkts für die Abschaffung der Ausnahmebestimmung zeigt, sondern auch in dem in Art 7 Abs 2 iVm Art 8 Abs 2 der RL 79/7/EWG vorgesehenen Abwägungsverfahren zur Überprüfung der Notwendigkeit der Beibehaltung der auf die Ausnahmebestimmungen gestützten nationalen Maßnahmen eines Mitgliedstaates. Dieses Verfahren verpflichtet die Mitgliedstaaten, in regelmäßigen Abständen die ausgeschlossenen Bereiche zu überprüfen, um festzustellen, ob es unter Berücksichtigung der sozialen Entwicklung 309 in dem Bereich gerechtfertigt ist, die betreffende Ausnahme aufrecht zu erhalten (EuGH C-377/96, De Vriendt ua, Rn 26). Die Mitgliedstaaten haben der Kommission über das Ergebnis zu berichten und sie über die Gründe, die eine etwaige Beibehaltung der geltenden Bestimmungen in den unter Art 7 Abs 2 RL 79/7/EWG genannten Bereichen rechtfertigen, sowie über die Möglichkeiten einer diesbezüglich späteren Revision zu unterrichten (Art 8 Abs 2 Satz 2 RL 79/7/EWG; EuGHC-9/91, The Queen/Secretary of State for Social Security, Rn 14). [...]
4. Zur Grundrechte-Charta:
4.1. Am 1.1.2009 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verbindlich. Nach ihrem Art 21 Abs 1 sind Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten. Nach Art 23 GRC ist die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen – auch im Bereich der sozialen Sicherheit – zu gewährleisten. Art 23 Abs 2 GRC erlaubt aber die Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht und erklärt positive Maßnahmen, die ein Geschlecht gegenüber einem anderen bevorzugen, für zulässig. Auch nach Art 14 EMRK sind Ungleichbehandlungen mit dem Ziel, „faktische Ungleichheit“ auszugleichen, erlaubt, sofern die Maßnahmen verhältnismäßig sind (EGMR 65731/01 ua, Stec ua/Vereinigtes Königreich, Rn 51).
4.2. Art 23 GRC verpflichtet den Unionsgesetzgeber, Ungleichheiten zu beseitigen, belässt den Grundrechtsverpflichteten aber erhebliche Spielräume. Sofern dies sachlich gerechtfertigt ist, genügt eine auch nur schrittweise Beseitigung. Die RL 79/7/EWG mit ihren in Art 7 aufgezählten Ausnahmetatbeständen entspricht dieser Vorgabe und kann insoweit als Konkretisierung der in Art 21 und 23 GRC verankerten Grundrechte verstanden werden (vgl Jarass in Jarass, GRC3 [2016] Einleitung Rz 54). Es ist nicht erkennbar, dass aus der GRC eine Verpflichtung zu einer zeitlich früheren Angleichung des Pensionsantrittsalters abzuleiten wäre.
4.3. Bereits in der Vorentscheidung 10 ObS 44/14i (SSV-NF 28/74) ging der OGH davon aus, dass die Mitgliedstaaten an die Chartagrundrechte auch dann gebunden sind, wenn sie Maßnahmen erlassen, mit denen trotz Ausnützung einer Ausnahmebestimmung ein unionsrechtlich vorgegebenes Ziel verfolgt wird. Auch die Ausnahmevorschrift des Art 7 RL 79/7/EWG ist daher grundrechtskonform auszulegen.
4.4. Einschränkungen der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten sind aber nicht ausgeschlossen (Art 52 Abs 1 GRC). Art 51 Abs 1 Satz 2 verlangt außerdem, bei der Anwendung der Charta die Grenzen der Zuständigkeiten der Union zu achten und das Subsidiaritätsprinzip zu wahren. Daraus wird ein Gebot der Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatlichen Sozialmodelle abgeleitet (Jarass in Jarass, GRC3 Art 51 Rz 8 mwN).
4.5. Im Bereich der sozialen Sicherheit geht der EuGH bei der Prüfung der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen von der Formulierung aus, dass Art 4 Abs 1 RL 79/7/EWG einer diskriminierenden nationalen Maßnahme entgegensteht, sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Dies ist der Fall, wenn die gewählten Mittel einem legitimen Ziel des Mitgliedstaats dienen und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind (EuGHC-343/92, Roks ua, Rn 33; EuGHC-161/18, Villar Laiz, Rn 48).
4.6. Art 23 Abs 2 GRC hat somit klarstellenden Charakter in Bezug auf die Voraussetzungen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen und führt zu keiner anderen Auslegung des Art 7 Abs 1 lit a iVm Art 7 Abs 2 RL 79/7/EWG. Die durch die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG ermöglichte Ungleichbehandlung verstößt daher auch nicht gegen die in Art 21, 23 Abs 1 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung.
[...]
6. Aus diesen Erwägungen sieht sich der OGH – in Fortschreibung seiner bisherigen Rsp – nicht veranlasst, zu der Frage, ob die österreichischen Regelungen zur Angleichung des unterschiedlichen Regelpensionsalters von Männern und Frauen mit dem EU-Recht vereinbar sind, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen (10 ObS 334/01t SSV-NF 15/141; 10 ObS 49/02g; 10 ObS 17/03b; 10 ObS 35/12p SSV-NF 26/29; zuletzt 10 ObS 44/14i SSV-NF 28/74 dazu kritisch Rebhahn, DRdA 2015, 538; Kohlbacher, ZESAR 2015, 210; Kapuy, ZAS 2015, 222).
[...]
10. Zusammenfassend erweist sich die Revision als nicht berechtigt. [...]
Vor 30 Jahren konnte unbestritten die Feststellung getroffen werden, dass in „nahezu allen Ländern (...) das Pensionsalter für Frauen und Männer noch unterschiedlich bestimmt“ ist (Eichenhofer, Gleiches Pensionsalter für Mann und Frau nach EG-Recht? ZAS 1991, 145). Diese Zeiten sind mittlerweile vorbei. Vielmehr wird in den meisten EU-Mitgliedstaaten im Hinblick auf das gesetzliche Renteneintrittsalter nicht mehr zwischen Frauen und Männern unterschieden (siehe dazu die Tabelle unter www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/292781/altersgrenzen-und-alterserwerbstaetigkeitwww.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/292781/altersgrenzen-und-alterserwerbstaetigkeit [abgerufen am 4.5.2021]). Österreich ist hier eine Ausnahme, da bekanntlich bis zum Jahr 2033 Frauen früher die Regelalterspension antreten können als Männer (Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics5 [2020] 183 f). Die vorstehend abgedruckte E beschäftigt sich mit den potentiellen Auswirkungen des Unionsrechts auf die Aufrechterhaltung der unterschiedlichen Altersgrenze für Männer und Frauen im Recht der gesetzlichen PV. Die E bewegt sich dabei in den Bahnen der einschlägigen Vorjudikatur und lässt sich damit als Bekräftigung der bereits entwickelten Positionen lesen. Zwei Aspekte sind dabei von besonderem Interesse. Zum einen die Ankündigung des OGH, auf jene Stimmen aus der 310 Fachliteratur antworten zu wollen, die sich mit seiner Auffassung nicht einverstanden erklären (unter 1.) und zum anderen der Umgang des OGH mit den Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben (unter 2.).
Der OGH hat zuletzt in der E 10 ObS 44/14s (DRdA 2015/52, 541 [Rebhahn] = ZAS 2015/35, 222 [Kapuy]) umfassend zur Problematik Stellung genommen. Das Höchstgericht kam dabei zum Ergebnis, dass weder die GRC noch die RL 79/7/ EWG die unterschiedlichen Altersgrenzen im Recht der gesetzlichen PV in Frage stellen können. An dieser sehr klaren Markierung entzündete sich die ebenso deutliche Kritik. So hielt es Rebhahn für keineswegs ausgeschlossen, dass die Ausnahmeregelung von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG, der zufolge die Mitgliedstaaten das ansonsten von der RL vorgesehene Gebot zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Bereich der sozialen Sicherheit in Bezug auf die Festsetzung des Renteneintrittsalters suspendieren können, vom EuGH als Verstoß gegen die höherrangigen grundrechtlichen Gewährleistungen der GRC verworfen werden könnte, sodass damit auch die unterschiedlichen österreichischen Altersgrenzen ihre rechtfertigende Grundlage verloren hätten (Rebhahn, Pensionsversicherung: Geschlechtsspezifisches Antrittsalter für die Alterspension [EAnm], DRdA 2015/52, 541 [544]). Kapuy ortete ein mangelndes Interesse des OGH an der Überprüfung des BVG Altersgrenzen (BGBl 1992/832) auf seine Unionsrechtskonformität und kritisierte daher die Nichteinholung einer Vorabentscheidung des EuGH zur Frage, ob die Ausnahmeregelung von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/ EWG noch den Anforderungen der GRC entspricht (Kapuy, Unionsrechtswidrigkeit des unterschiedlichen Pensionsantrittsalters von Männern und Frauen? [EAnm], ZAS 2015/35, 226 [226, 229]). Auch Kohlbacher monierte eine Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht durch den OGH, da sich der EuGH bislang noch nicht zum Verhältnis von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG zur GRC geäußert hätte (Kohlbacher, Diskriminierung durch ungleiches Pensionsantrittsalter – wie lange noch? ZESAR 2015, 210 [216]).
Angesichts dieser kritischen Stimmen ist die in der vorliegenden E vom OGH artikulierte Bereitschaft, auf diese einzugehen und seine eigene Position einer Prüfung zu unterziehen, ausdrücklich zu begrüßen. Trotz der von den Kritikern angeführten Argumente hält aber der OGH an seiner Auffassung fest, kein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten zu müssen. Drei Aspekte sind für den OGH maßgeblich: Neben der Berufung auf die themeneinschlägige Rsp des EuGH und der bis dato unterbliebenen Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission ist für das Höchstgericht entscheidend, dass Art 7 Abs 2 RL 79/7/EWG auf die Fixierung eines Endzeitpunkts für die an sich vorgesehene Angleichung des Renteneintrittsalters („Übergangsfrist“) verzichtet. Bezogen darauf ist es zutreffend, dass in Art 7 RL 79/7/EWG die Mitgliedstaaten ohne zeitliche Höchstgrenze verpflichtet werden, in regelmäßigen Abständen die Berechtigung der Aufrechterhaltung eines geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Renteneintrittsalters lediglich zu überprüfen. Auch der EuGH anerkennt, dass es für den Wegfall der Ausnahmeregelung von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG keinen festgelegten Zeitpunkt gibt (EuGH 7.7.1992, C-9/91, Secretary of State for Social Security, Slg 1992, I-04297), betont aber gleichzeitig, dass der Zweck dieser Ausnahmebestimmung nur auf die vorübergehende Aufrechterhaltung eines früheren Renteneintrittsalters für Frauen gerichtet ist (EuGH 27.4.2006, C-423/04, Richards, Slg 2006, I-03585 Rz 35 = ZAS-Judikatur 2006/125, 182). Dementsprechend stellt sich zentral die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Mitgliedstaaten ihre Befugnis zur Nutzung der Ausnahmeregelung von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG verlieren, oder in Bezug auf die österreichische Rechtslage bezogen ausgedrückt: Ist aus unionsrechtlicher Sicht betrachtet die in Österreich geltende, bis zum Jahr 2033 dauernde Übergangsfrist zu lang angesetzt?
In der Fachliteratur finden sich dazu unterschiedliche Einschätzungen. Ausgehend von Wolfsgruber, die in zwei Publikationen aus demselben Jahr die Unbedenklichkeit der österreichischen Übergangsfrist einmal bezweifelt (Pensionsalter und Europäisches Sozialrecht, DRdA 2001, 81 [90 f]) und einmal bejaht (Pensionsanfallsalter und Europarecht, RdW 2001/687, 675 [678]) erachten Karl (Alterssicherung und demographische Entwicklung in Österreich, in Reinhard [Hrsg], Demographischer Wandel und Alterssicherung [2001] 153 [174]) und Egger (Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung2 [2005] 324 f) die Übergangsfrist als zu lang (tendenziell auch Schrammel, Gleichbehandlung und Sozialversicherung, ZAS 1999, 33 [37]), während Husmann (Reformbedarf in der Richtlinie 79/7/EWG, ZESAR 2014, 70 [80]) eine in den EU-Mitgliedstaaten erst im Jahre 2040 abgeschlossene Komplettangleichung des Renteneintrittsalters als „gerade noch hinnehmbar“ bezeichnet. Dass es damit Stimmen gibt, die der Sichtweise des OGH entgegentreten, bedeutet aber nicht, dass damit die Verneinung der Vorlagepflicht iSd Annahme einer acte-clair-Situation ausgeschlossen wäre (Broberg/Frenger, Theorie und Praxis der Acte-clair-Doktrin des EuGH, EuR 2010, 835 [850]; zum Zusammenhang zwischen der von Art 267 AEUV geforderten Erforderlichkeit und der Acte-clair-Doktrin: Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633 [634 f]), zumal es ja auch abweichende Einschätzungen gibt und sich der OGH in seiner E auch mit den Kritikern seiner Rsp argumentativ auseinandersetzt (so in Entsprechung der Forderung von Kühling/Drechsler, Alles „acte clair“? – Die Vorlage an den EuGH als Chance, NJW 2017, 2950 [2952]).
Es mag sein, dass die Ausnahmebestimmung von Art 7 RL 79/7/EWG mit ihrer fehlenden zeitlichen Begrenzung normativ inkonsequent erscheint (so 311Stahlberg, Geschlechtergleichstellung in der sozialen Sicherheit, EuroAS 1997, 82; Husmann, Die Richtlinie 79/7 im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, RVaktuell 2010, 100 [101] zufolge wird dadurch die rechtliche Bedeutung der RL aber nicht geschmälert). Tatsache ist, dass diese Bestandteil eines Rechtsaktes ist, der als RL zu seiner Realisierung auf die Mitwirkung und damit auf die Akzeptanz der Mitgliedstaaten angewiesen ist. Richtlinien dienen nämlich auch dazu, den politischen und kulturellen Besonderheiten in den jeweiligen Mitgliedstaaten Raum zu geben (Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext I3 [2017] Rz 870, der ausdrücklich darauf hinweist, dass in politisch sensiblen Bereichen wie der Sozialpolitik Richtlinien deshalb bevorzugt eingesetzt werden, da diese nur Ziele vorgeben und der Weg zum Ziel in der Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten belassen werden kann). Insoweit lässt sich die fehlende zeitliche Begrenzung in Art 7 RL 79/7/EWG als zulässige und vor dem Hintergrund, dass trotz Art 153 Abs 1 AEUV die zentrale Zuständigkeit zur Gestaltung der Sozialpolitik bei den Mitgliedstaaten verbleibt (Axer in Schlachter/Heinig [Hrsg], Europäisches Arbeitsund Sozialrecht2 [2021] § 3 Rz 8; Puetter, Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU [2009] 141), mE gebotene Respektierung der Besonderheiten des in den jeweiligen Mitgliedstaaten gesellschaftlich ausgehandelten Sozialmodells auffassen. Insofern sollte es auch nicht verwundern, dass sich die Mitgliedstaaten weiterhin auf die Ausnahmebestimmung von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG berufen können (Huster/Kießling in Schlachter/Heinig [Hrsg], Europäisches Arbeits- und Sozialrecht2 § 6 Rz 46), sodass diesbezüglich aus unionsrechtlicher Sicht die Lage klar und eindeutig geklärt ist.
Richtlinien sind an den Vorgaben der GRC zu messen (Mohr in Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht3 [2020] Art 21 GRC Rz 8; Hartmann, Diskriminierung durch Antidiskriminierungsrecht? Möglichkeiten und Grenzen eines postkategorialen Diskriminierungsschutzes in der Europäischen Union, EuZA 12 [2019] 24 [34]). Dies gilt auch für die RL 79/7/EWG (Husmann, ZESAR 2014, 78, 80). Die vom OGH hier in Bezug genommenen Art 21 und 23 GRC sind dabei die zutreffenden Referenzpunkte. Art 21 Abs 1 GRC verbietet ua Diskriminierungen wegen des Geschlechts und Art 23 Abs 1 GRC verpflichtet dazu, die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen sicherzustellen, wobei sich aufgrund des Spezialitätsverhältnisses (Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 [2021] Art 23 Rz 7; Greif/Ulrich, Legal Gender Studies und Antidiskriminierungsrecht2 [2019] Rz 248) die Überprüfung der Ausnahmebestimmung von Art 7 RL 79/7/EWG auf ihre Grundrechtskonformität auf Art 23 GRC zu konzentrieren hat. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass alle Gleichheitsrechte und damit auch Art 23 GRC nicht absolut gelten, sondern eingeschränkt werden können (Kugelmann in Merten/Papier [Hrsg], Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa VI/1 [2010] § 160 Rz 19, 46). Dies wird bereits durch die alle unionalen Gleichbehandlungsnormen überwölbende Maxime deutlich gemacht, wonach „vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden [dürfen], es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist“ (EuGH 11.4.2013, C-401/11, Soukupová, ECLI:EU:C:2013:223 Rz 29 = wbl 2013/163, 459; siehe auch Schmahl in Grabenwarter [Hrsg], Europäischer Grundrechteschutz [2014] § 15 Rz 144).
Das „Unterschiedliche“ in Bezug auf die vorliegende Situation liegt eben in der den Frauen aufgebürdeten Doppelbelastung aus Erwerbstätigkeit einerseits und familiärer Care-Arbeit andererseits, die eben Männer typischerweise nicht in demselben Umfang und Ausmaß trifft (statt vieler Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen, Gender Equality Index 2017. Measuring gender equality in the European Union 2005-2015 [2017] 19 ff; Höllinger¸ Einstellungen zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Familie, in Bacher/Grausgruber/Haller/Höllinger/Prandner/Verwiebe [Hrsg], Sozialstruktur und Wertewandel in Österreich [2019] 243 [260 f]). Dass es möglich ist, die spezifische Situation von Frauen bei der Festsetzung des Pensionsantrittsalters zu berücksichtigen, hat der EuGH in der Rs Kleist nicht beanstandet und damit der unterschiedlichen Lebenssituation, in der sich Frauen gegenüber Männern befinden, Beachtung geschenkt (EuGH 18.11.2010, C-356/09, Kleist, Slg 2010, I-11939 Rz 38 = DRdA 2011, 157 = ZAS 2011/32, 190 [Wachter]; siehe auch die Anerkennung der Frauen betreffenden beruflichen Nachteile in EuGH 16.9.1999, C-218/98, Abdoulaye, Slg 1999, I-5723 Rz 19 f; ganz generell ist mit Renten(Pensions-)versicherungssystemen die Erwartung verbunden, in deren Rahmen ökonomische und gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen auszugleichen: Igl, Grundsatzfragen der Alterssicherung – Sinn und Ausprägung der Rentenversicherung, in FS Franz Ruland [2007] 43 [49]). Die von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG ermöglichte Begünstigung von Frauen (so Bieback, Mittelbare Diskriminierung der Frauen im Sozialrecht, ZIAS 4 [1990] 1 [2]) lässt sich damit als gleichheitsrechtlich gebotene Anerkennung der nach wie vor bestehenden gesellschaftlich bedingten nachteiligen Lebenssituation von Frauen verstehen, sodass die Vereinbarkeit mit der GRC mE nicht zweifelhaft ist (siehe auch Bieback/Kahil-Wolff in Fuchs [Hrsg], Europäisches Sozialrecht7 [2018] Art 7 RL 79/7/ EWG Rz 5, denen zufolge das von Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG ermöglichte frühere Pensionsantrittsalter mit der Doppelbelastung von Frauen gerechtfertigt wird). 312