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Kostenerstattung für ausländische Wahlarztbehandlung in Höhe von 80 % des inländischen Vertragstarifs ist nicht unionsrechtswidrig

PIA ANDREAZHANG
VO 883/2004; § 131 ASVG; § 7b SV-EG; PatientInnenmobilitätsRL

Es liegen zwingende Gründe des Allgemeininteresses bezogen auf die öffentliche Gesundheit vor, die die Kostenerstattung iHv 80 % des Kassentarifs auch bei der Inanspruchnahme von ausländischen Wahlärzten rechtfertigen.

Sachverhalt

De Kl unterzog sich am 1.3.2019 einer Varizen-Operation in einer Ordination niedergelassener Fachärzte in Deutschland. Die Operation wurde tageschirurgisch in Lokalanästhesie durchgeführt, da eine Vollnarkose beim Kl aufgrund seiner COPD-Erkrankung kontraindiziert ist. Die Ordination ist keine bettenführende Einrichtung und steht auch in keinem Vertragsverhältnis zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Für die Leistung bezahlte der Kl € 1.835,65.

In Österreich besteht die Möglichkeit einer tageschirurgischen Varizen-Operation in Lokalanästhesie in Krankenanstalten oder bei niedergelassenen Ärzten. Die Wartezeiten übersteigen dabei nirgends drei Monate. Der Kassentarif für die Varizenoperation bei einem niedergelassenen Arzt beträgt in Österreich insgesamt € 279,33, 80 % davon sind daher € 223,38.

Verfahren und Entscheidung

Der Kl beantragte am 25.1.2019 bei der ÖGK die Kostenübernahme für die geplante Operation. Die Vorabgenehmigung wurde mit der Begründung abgelehnt, dass eine zeitnahe und vergleichbare Behandlungsmöglichkeit auch in Österreich bestehe. Mit Bescheid vom 19.3.2010 lehnte die Bekl den Antrag des Kl auf Kostenerstattung gem § 7b Abs 6 Sozialversicherungs-Ergänzungsgesetz (SV-EG) ab.

Der Kl erhob dagegen Klage und brachte vor, dass die Bekl gegen Art 8 der RL 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung („Patientenmobilitätsrichtlinie“) verstoße. § 7b SV-EG setze die Vorgabe des Art 8 RL 20011/24/EU unzureichend um.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Umfang von € 223,38 statt und das Urteil erwuchs in diesem Umfang mangels Anfechtung in Rechtskraft. Das Mehrbegehren wurde mit der Begründung abgewiesen, dass dem Kl aufgrund der Inanspruchnahme eines ausländischen Wahlarztes gem § 131 ASVG 80 % des Vertragstarifs gebühren.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Es bestehe kein Anspruch auf Ersatz der tatsächlichen Kosten, da eine ausreichende Krankenbehandlung im Inland als Sachleistung zur Verfügung stand. Ein solcher Anspruch ergebe sich auch nicht aus der RL 2011/24/EU. Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU ermögliche zwar einen Kostenerstattungsanspruch auch ohne Vorabgenehmigung, aber bloß nach den Vorschriften des Mitgliedstaates, in diesem Fall also nach § 131 ASVG. Die Beschränkung auf 80 % des Vertragstarifs sei nicht diskriminierend. Selbst wenn man aber von einer Diskriminierung ausgehen wolle, läge ein objektiver Rechtfertigungsgrund vor, weil eine Erhöhung der Kostenerstattung auf 100 % des Vertragstarifs das finanzielle Gleichgewicht der KV gefährde und das Gesamtsystem in Frage stelle.

Die außerordentliche Revision des Kl hielt der OGH zwar zur Klarstellung der Rechtslage für zulässig, jedoch für nicht berechtigt. Die vorgebrachten unionsrechtlichen Bedenken gegen § 131 ASVG teilte der Gerichtshof nicht. Er kam zu dem Ergebnis, dass zwingende Gründe des Allgemeininteresses bezogen auf die öffentliche Gesundheit vorliegen, die die Beschränkung der Kostenerstattung bei Inanspruchnahme von Wahlärzten auch in anderen Mitgliedstaaten der Union auf 80 % des Kassentarifs gem § 131 Abs 1 ASVG rechtfertigen.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…] 1. Zur Verordnung (EG) Nr 883/2004 […]

[…] Nach Art 20 Abs 1 VO 883/2004 muss ein Versicherter, der sich – wie der Kläger – zur medizinischen Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, grundsätzlich die Genehmigung des zuständigen Trägers einholen. […]327

1.2 Im Anwendungsbereich des Art 20 VO 883/2004 hat der Versicherte in zwei Fällen einen Kostenerstattungsanspruch gegen den zuständigen Träger in Höhe dessen, was dieser Träger normalerweise übernommen hätte, wenn der Versicherte über eine solche Genehmigung verfügt hätte. […] erstens, wenn die Genehmigung unbegründet versagt wurde […] und zweitens, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen oder wegen der Dringlichkeit einer Krankenhausbehandlung außerstande war, eine solche Genehmigung zu beantragen bzw die Entscheidung […] abzuwarten […].

1.3 Darauf braucht im vorliegenden Fall nicht weiter eingegangen zu werden, weil der Kläger seinen Anspruch auf Kostenerstattung nicht (mehr) auf Art 20 VO 883/2004 stützt, sondern nur mehr auf Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU.

2. Zum Verhältnis der VO 883/2004 zur RL 2011/24/EU

2.1 Die Anwendbarkeit von Art 20 VO 883/2004 und Art 26 DVO 987/2009 auf einen bestimmten Sachverhalt schließt nicht aus, dass dieser auch in den Anwendungsbereich von Art 56 AEUV fällt und der Betroffene parallel einen Anspruch aus dieser Bestimmung auf Zugang zur Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat hat. Dieser Anspruch ist jedoch nach anderen Kostenübernahme- und Kostenerstattungsbedingungen als denen, die in Art 20 VO 883/2004 und Art 26 DVO 987/2009 vorgesehen sind, zu beurteilen (EuGHC-368/98, Vanbraekel ua, Rn 36 bis 53; C-777/18 […]).

2.2 Gemäß ErwGr 31 RL 2011/24/EU sollen die Patienten nicht die ihnen vorteilhafteren Ansprüche nach den VO 883/2004 und DVO 987/2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit verlieren, wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind. Deshalb sollte jeder Patient, der eine Vorabgenehmigung für eine auf seinen Gesundheitszustand abgestimmte Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat beantragt, stets diese Genehmigung erhalten, sofern die betreffende Behandlung nach dem Recht seines Heimatmitgliedstaats zu den Leistungen gehört, auf die er Anspruch hat, und wenn der Patient diese Behandlung in seinem Heimatmitgliedstaat nicht innerhalb eines – unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Krankheitsverlaufs – medizinisch vertretbaren Zeitraums erhalten kann.

2.3 Wenn jedoch der Patient ausdrücklich verlangt, eine Behandlung nach Maßgabe der RL 2011/24/EU in Anspruch zu nehmen – wovon auch im vorliegenden Fall auszugehen ist –, so sollte sich die Kostenerstattung auf die Leistungen beschränken, die unter diese Richtlinie fallen (ErwGr 31 RL 2011/24/EU). […] Bei der Umsetzung der RL 2011/24/EU in einzelstaatliche Rechtsvorschriften und bei deren Anwendung sollen Patienten nach der ausdrücklichen Intention der Richtlinie nicht dazu ermuntert werden, Behandlungen in einem anderen als ihrem Versicherungsmitgliedstaat in Anspruch zu nehmen (ErwGr 4 RL 2011/24/EU).

3. Zur Dienstleistungsfreiheit gemäß Art 56 AEUV

3.1 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH fallen entgeltliche medizinische Leistungen in den Anwendungsbereich der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr […].

3.3 Maßnahmen, die die Dienstleistungsfreiheit beschränken, sind nur unter vier Voraussetzungen zulässig: Sie müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie müssen zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist […].

4. Zur Kostenerstattung nach der RL 2011/24/EU

[…] 4.4 […] Gemäß Art 7 Abs 1 RL 2011/24/EU stellt der Versicherungsmitgliedstaat unbeschadet der VO 883/2004 und vorbehaltlich der Art 8 und 9 RL 2011/24/EU sicher, dass die Kosten, die einem Versicherten im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung entstanden sind, erstattet werden, sofern – was hier unstrittig der Fall ist – die betreffende Gesundheitsdienstleistung zu den Leistungen gehört, auf die der Versicherte im Versicherungsmitgliedstaat Anspruch hat.

4.5 Die Erstattung von Kosten für grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung darf gemäß Art 7 Abs 8 RL 2011/24/EU nicht von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden. Ausgenommen davon sind nur die Fälle des Art 8 RL 2011/24/EU.

5. Zu den in Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU geregelten Fällen

5.1 Nach der Rechtsprechung des EuGH läuft es in Bezug auf Krankenhausbehandlungen und aufwändige Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern Art 56 AEUV grundsätzlich nicht zuwider, wenn das Recht eines Patienten, solche […] Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erhalten, von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht wird […]. Diese Fälle regelt Art 8 (iVm Art 9) RL 2011/24/EU.

5.2 Einen der in Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU genannten Fälle […] behauptet der Revisionswerber jedoch gar nicht […].

5.3 Zwischenergebnis: Da der Kläger seinen Anspruch weder auf die für ihn günstigere VO 883/2004 stützt noch einen der Fälle des Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU geltend macht, bedarf es im vorliegenden Fall keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, für die vom Kläger in Anspruch genommene Behandlung in Deutschland eine Vorabgenehmigung zu erteilen.

6. Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU als Anspruchsgrundlage

6.1 Der Kläger stützt seinen Anspruch auf Art 7 Abs 4 Unterabs 1 RL 2011/24/EU […].

6.2 Die von Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU vorgesehene Kostenerstattung kann nach der Rechtsprechung des EuGH einer doppelten Begrenzung unterliegen. Zum einen wird sie auf der Grundlage328 der für die Gesundheitsversorgung im Versicherungsmitgliedstaat geltenden Gebührenordnung berechnet. Zum anderen werden […] nur die tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten erstattet. […]

6.4 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH kann sich der Einzelne jedoch nur in den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber einer staatlichen Einrichtung wie der Beklagten auf sie berufen […].

6.5 Diesen Anforderungen genügt Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU, auf den sich der Kläger zur Begründung seines Anspruchs beruft, schon deshalb nicht, weil sich die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs nicht aus dieser Bestimmung ergibt […].

6.6 Zwischenergebnis: Unmittelbar auf Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU kann der Kläger seinen Anspruch daher nicht stützen.

7. Zur Frage der Kostenerstattung nach § 7b SV-EG

[…] 7.3 Jene Fälle, für die besondere Kostenerstattung gemäß § 7b Abs 6 SV-EG gebührt, sind in § 7b Abs 4 SV-EG geregelt. Sie entsprechen den bereits dargestellten Fällen von Krankenhausbehandlungen und aufwändigen Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern nach Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU, in denen die RL 2011/24/EU den Mitgliedstaaten ein System der Vorabgenehmigung gestattet. Einen der Fälle des § 7b Abs 4 SV-EG macht der Kläger jedoch – ebenso wenig wie die Fälle des Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU – geltend.

7.4 Ein Fall der besonderen Kostenerstattung gemäß § 7b Abs 6 SV-EG ist im vorliegenden Fall daher nicht zu beurteilen.

8. Zum Anspruch auf Kostenerstattungsanspruch nach § 131 ASVG

8.1 […] Werden keine Vertragspartner zur Leistung der Krankenbehandlung in Anspruch genommen, richtet sich die Kostenerstattung nach § 131 ASVG […] im Ausmaß von 80 % des Betrags, der bei Inanspruchnahme der entsprechenden Vertragspartner des Versicherungsträgers von diesem aufzuwenden gewesen wäre. […]

8.2 Der EuGH sprach erstmals in den Entscheidungen C-120/95, ECLI:EU:C:1998:167, Decker und C-158/96, ECLI:EU:C:1998:171, Kohll, aus, dass eine Krankenkasse unter dem Regime der Dienstleistungsfreiheit bei einer Heilbehandlung bzw beim Erwerb eines Sehbehelfs in einem anderen Mitgliedstaat unter den gleichen Bedingungen Kostenersatz gewähren muss, wie dies bei Inanspruchnahme einer solchen Dienstleistung im Inland der Fall wäre. […]

8.3 § 131 Abs 1 ASVG ist verfassungsgemäß (VfGH G 24/98 ua). Es ist zulässig, den durch die Inanspruchnahme eines Wahlarztes entstehenden Mehraufwand auch in pauschalierter Form den Verursachern (Wahlarztpatienten) anzulasten. […]

8.4 Durch das Sachleistungsprinzip im österreichischen Krankenversicherungsrecht soll eine flächendeckende, qualitativ hochwertige und gleichzeitig kostenschonende Versorgung der Versicherten erreicht werden: […] Eingebettet in dieses System der Gesamtversorgung ermöglicht es § 131 Abs 1 ASVG dem Versicherten, ärztliche Leistungen auch durch Ärzte in Anspruch zu nehmen, die nicht Vertragspartner der Beklagten sind. Grundgedanke und Zweck des § 131 ASVG ist, den Krankenversicherungsträger nicht mit höheren, aber auch nicht mit niedrigeren Kosten zu belasten, als wenn der Versicherte einen Vertragsarzt oder eine Vertragseinrichtung in Anspruch genommen hätte (RIS-Justiz RS0073064). […]

9. Zur behaupteten Unionsrechtswidrigkeit des § 131 Abs 1 ASVG

9.1 Der Revisionswerber macht geltend, dass die Regelung des § 131 Abs 1 ASVG insofern nicht unionsrechtskonform sei, als nur 80 % des Kassentarifs bei Inanspruchnahme eines Wahlarztes ersetzt werden, während einem inländischen Vertragsarzt 100 % des Kassentarifs bezahlt werden.

9.2 Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU sieht (lediglich) vor, dass Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bis zu den Höchstbeträgen ersetzt werden, die der Versicherungsmitgliedstaat bei gleicher Behandlung im Inland übernommen hätte. […]

10. Zum Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung durch die Kostenerstattungsregel des § 131 Abs 1 ASVG

10.1 […] Da ein Vertragsarzt für eine Behandlung, wie sie der Kläger in Anspruch nahm, 100 % des Kassentarifs von der Beklagten erhält, stellt sich die Frage, ob die Vergütung mit lediglich 80 % des Kassentarifs an einen Wahlarzt in einem anderen Mitgliedstaat gegen Art 56 AEUV verstößt. […]

10.3 In Lehre und Schrifttum wird zur Problematik der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Kostenerstattungsregelung des § 131 ASVG unterschiedlich Stellung genommen […]:

10.4 § 131 Abs 1 ASVG unterscheidet nicht zwischen in- und ausländischen Wahlärzten, sodass diese Regelung nicht unmittelbar diskriminiert (Pfeil, DRdA 2010, 12 [19 f]). Zweifelsohne sprechen aber gute Gründe für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung von (Wahl-)Ärzten in anderen Mitgliedstaaten, weil die reduzierte Kostenerstattung nach dieser Bestimmung die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen in anderen Mitgliedstaaten, wie die dargestellte Rechtsprechung des EuGH und die Argumente der Lehre zeigen, potentiell weniger attraktiv machen kann […].

11. Zum Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes

11.1 Sekundärrechtlich werden die Vorgaben der schon dargestellten Rechtsprechung des EuGH zur bereits dargestellten „Gebhard“-Formel (EuGHC-55/94) in Art 7 Abs 9 und 11 RL 2011/24/EU (vgl dazu auch die ErwGr 11 und 12 RL 2011/24/EU) umgesetzt. […]

11.2 Nach der Rechtsprechung des EuGH zählen zu den Zielen, die eine Beschränkung des freien329 Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können, im hier zu beurteilenden Zusammenhang […] unter anderem: eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten; einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde im Inland zu bewahren, sowie eine Planung zu ermöglichen, mit der bezweckt wird, zum einen im betreffenden Mitgliedstaat einen ausreichenden, ständigen Zugang zu einem ausgewogenen Angebot hochwertiger Versorgung sicherzustellen und zum anderen die Kosten zu begrenzen […].

11.3 Da solche Ziele als legitim anzusehen sind, ist es nach der Rechtsprechung des EuGH Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob die nationalstaatliche Regelung – hier § 131 Abs 1 ASVG – im Hinblick auf die Erreichung dieser Ziele auf das notwendige und angemessene Maß begrenzt ist. […] Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des EuGH ist der Anregung des Klägers, ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH einzuleiten […] nicht zu folgen. […]

11.5 Generell lässt sich die Rechtsprechung des EuGH zu den Erfordernissen der Vorabgenehmigung von Auslandsbehandlungen nicht auf die hier zu beurteilende Kostenerstattungsregelung übertragen:

11.5.1 Auch ein finanzieller Zusatzaufwand kann nach dieser Rechtsprechung ein generelles Vorabgenehmigungssystem im ambulanten Bereich nicht rechtfertigen […]. Ein System, wonach die Kostenerstattung wegen Verfügbarkeit der Behandlung im Inland mangels Vorabgenehmigung zur Gänze entfällt, beschränkt die Dienstleistungsfreiheit jedoch wesentlich stärker als eine bloß um 20 % geringere Höhe der Kostenerstattung im Vergleich zum Vertragspartnertarif […].

Auch im hier eröffneten Anwendungsbereich des § 131 Abs 1 ASVG sind die Versicherten […] nicht gehindert, jederzeit eine Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat der Union in Anspruch zu nehmen. Ihnen gebührt dafür derselbe Kostenersatz wie bei Inanspruchnahme eines inländischen Wahlarztes. Da die RL 2011/24/EU wie ausgeführt ausdrücklich nicht zur Inanspruchnahme einer Krankenbehandlung im Ausland ermuntern will und den Versicherten im Inland in einem Fall wie dem vorliegenden primär ein Sachleistungsanspruch zu- und offensteht, ist die Kostenerstattungsregelung des § 131 Abs 1 ASVG schon aus diesen Gründen als eine gerechtfertigte Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit anzusehen.

11.5.2 Es erscheint fraglich, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt, trägt doch der Krankenversicherungsträger auch im Fall einer Auslandsbehandlung genau jene Kosten, die er im Fall der Inanspruchnahme einer inländischen Behandlung zu tragen hätte. […]

11.5.3 Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Einschränkung der Kostenerstattung auf 80 % des Kassentarifs einen wesentlichen Einfluss für die Entscheidung inländischer Versicherter hätte, eine Krankenbehandlung im Ausland in Anspruch zu nehmen. Neben den bereits genannten Kriterien (Sprachbarrieren, Kosten eines Auslandsaufenthalts, fehlende Information und fehlendes Vertrauensverhältnis zum behandelnden Arzt, räumliche Entfernung) ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass selbst bei Ersatz von 100 % des Kassentarifs die tatsächlichen Behandlungskosten in der Regel auch im Fall einer Inlandsbehandlung zu einem nicht unwesentlichen Teil vom Versicherten selbst zu tragen sind. Dies gilt umso mehr bei einer schon wegen der Reise- und Aufenthaltskosten regelmäßig teureren Behandlung im Ausland. […]

11.5.5 Die Anhebung der Kostenerstattung auf 100 % des Kassentarifs würde überdies auch die Behandlung bei inländischen Wahlärzten betreffen. Denn es ist – schon zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes […] davon auszugehen, dass in diesem Fall die Kosten auch bei Inanspruchnahme inländischer Wahlärzte zu 100 % des Kassentarifs erstattet werden müssten. Dies würde einen problematischen Eingriff in die legitimen Planungs- und Steuerungsinteressen des Staates darstellen […] und eine solche Änderung beträfe eine Vielzahl von Behandlungen. Andererseits stellte sich für inländische Ärzte verstärkt die Frage nach der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit eines Vertragsabschlusses mit einem Krankenversicherungsträger […].

Erläuterung

In dieser ausführlichen Grundsatzentscheidung befasst sich der OGH – nach einer kurzen Auseinandersetzung mit der VO 883/2004, der Patientenmobilitäts-RL und der innerstaatlichen Umsetzung des § 7b SV-EG – vor allem mit der Frage, ob eine Begrenzung der Kostenerstattung für Behandlungen durch ausländische WahlärztInnen auf 80 % des inländischen Kassenvertragstarifs unionsrechtlich zulässig ist.

Gem § 131 Abs 1 ASVG werden einem Versicherten, der für die Erbringung der Sachleistung einer Krankenbehandlung keinen Vertragspartner in Anspruch nimmt, die Kosten in Höhe von 80 % des Kassenvertragstarifs erstattet. Dies unabhängig davon, ob er die Behandlung im Inland oder im Ausland in Anspruch nimmt.

Im vorliegenden Fall wurde eine Behandlung, die auch in Österreich bei Vertragspartnern verfügbar gewesen wäre, in Deutschland durchgeführt und dem Versicherten 80 % des Vertragstarifs an Kosten erstattet. Der OGH hat sich mit der Frage, ob dem Versicherten eine Vorabgenehmigung für seine Behandlung nach der VO 883/2004 oder Art 8 Abs 2 der RL 2011/24/EU hätte erteilt werden müssen, nicht näher befasst, da der Kl seinen Anspruch nicht darauf gestützt hat. Der Kl kann seinen Anspruch auch nicht unmittelbar auf die RL 2011/24/EU stützen, da die relevante Bestimmung – Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU – nicht hinreichend bestimmt ist.330

Der OGH beschäftigt sich umfassend mit der Kostenerstattung nach § 131 ASVG und deren unionsrechtlicher Zulässigkeit. So hat der EuGH bereits in der Rs Decker (EuGHC-120/95, ECLI:EU:C:1998:167) und Rs Kohll (EuGHC-158/96, ECLI:EU:C:1998:171) ausgesprochen, dass die Kostenerstattung bei Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat unter denselben Bedingungen erfolgen muss, wie dies bei Inanspruchnahme im Inland der Fall wäre. Dies ist bei der Kostenerstattung nach § 131 ASVG der Fall, weshalb auch keine unmittelbare Diskriminierung vorliegt.

Es könnte aber eine mittelbare Diskriminierung vorliegen, da die Regelung eine Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen in anderen Mitgliedstaaten potentiell weniger attraktiv machen kann. Eine solche ist aber nach Ansicht des OGH gerechtfertigt, da zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen, wie insb das legitime Planungs- und Steuerungsinteresse des Staates, die Inanspruchnahme von Leistungen bei VertragsärztInnen zu fördern. Zusätzlich sei die Begrenzung auf 80 % wohl nicht wesentlich für die Entscheidung, ob eine Behandlung im Ausland in Anspruch genommen wird, sondern vielmehr Kriterien wie Sprachbarrieren und Kosten eines Auslandsaufenthalts.