Aufsichtsräte ohne Mitbestimmung: Diversität und Ausgewogenheit fehlen häufig

HANNESSCHNELLER

Im September 2020 traf der OGH eine Entscheidung, mit der drei Aufsichtsratsmitglieder zu jeweils rund € 100.000,- Schadenersatz samt Verfahrenskosten verurteilt wurden.* Es handelte sich um das mit drei von der Hauptversammlung gewählten Mandataren bloß mindestbesetzte Kontrollorgan (§ 86 Abs 1 AktG) der E* AG, die im Mehrheitsbesitz einer „Eigentümerfamilie“ gestanden war. Betriebsräte und damit AN-VertreterInnen im Aufsichtsorgan hatte es, wie so oft bei patriarchalisch geführten Unternehmen, nicht gegeben. Damit erinnert die Causa an die aktuellen Aufsicht-Skandalfälle Wirecard und Commerzialbank Mattersburg, wo ebenfalls jegliche Belegschaftsmitbestimmmung im Aufsichtsrat vermieden, oder rechtlich genauer: umgangen worden war. Im erstgenannten Fall juridisch-trickreich,* im letzteren rustikal-plump.*

1..
Einleitung: Qualifikations- und Diversitätsanforderungen des Gesellschaftsrechts

Die oben erwähnte E* AG war konzernmäßig zwischen der Bio*Holding AG und der L*AG gewissermaßen eingeklemmt gewesen, die drei Aufsichtsratsmitglieder hatten allen drei Aufsichtsräten der genannten Aktiengesellschaften des Familienkonzerns angehört. Geklagt hatte der Insolvenzverwalter des im Dezember 2011 – also neun Jahre vor der endgültigen Schadenersatzverurteilung – eröffneten Konkurses über das Vermögen der E* AG.

Die höchstgerichtliche Bestätigung (Revisionsabweisung) der Schadenshaftung erfolgte wegen sorgfaltswidriger Genehmigung einer Darlehensgewährung der E* AG an die Bio*Holding AG, also im Zusammenhang mit einem zustimmungspflichtigen Geschäft gemäß Aktiengesetz (AktG). Weitgehend ungeprüft, weil auf ausdrücklichen Wunsch der Hauptaktionäre, war dem Vorstand die Zustimmung zur Krediteinräumung und Darlehensauszahlung (§ 95 Abs 5 Z 6 AktG) erteilt worden, und das trotz „angespannter Liquiditätslage“ der Darlehensgeberin an die konzerninterne Darlehensnehmerin, die „über praktisch keine Einnahmen aus dem operativen Geschäft verfügte“, so der OGH wörtlich.

Der aus drei Personen bestehende Aufsichtsrat hatte sich wie folgt zusammengesetzt: ein Bundesfunktionär einer politischen Partei Österreichs, ein Landesfunktionär derselben Partei, „der Sohn“ der Hauptaktionärsfamilie.* Die seit 2005 und 2009 sowie nochmals verstärkt seit 2012* vorgeschriebenen fachlichen und persönlichen Qualifikations- und Diversitätsanforderungen an das Kontrollorgan, nämlich „im Hinblick auf die Struktur und das Geschäftsfeld der Gesellschaft fachlich ausgewogen“ zusammengesetzt zu sein (§ 87 Abs 2 und Abs 2a AktG, ähnlich § 30b Abs 1a GmbHG), werden bei der chemisch-technischen Treibstoffkomponentenerzeuger E* AG vermutlich nicht idealtypisch erfüllt gewesen sein.

Im Folgenden, insb unter 6. unten, soll der seit einigen Jahren empirisch untersuchten These* nachgegangen werden, dass mitbestimmte Aufsichtsorgane integrer und iS von „Good Corporate Governance“ (Unternehmensführung, Organe-Zusammenarbeit, Kontrolle)* sowie „Compliance“ (Regeltreue) funktionstüchtiger sind als reine Gesellschafter-Gewählte-Aufsichtsräte. Davor sollen kurz die für „Kapitalvertreter“ (Aktionäre- oder Eigentümervertreter) ebenso wie für AN-VertreterInnen geltenden Haftungsprinzipien des Kapitalgesellschaftsrechts überblicksartig dargestellt werden. Die eingangs erwähnte OGH-E nimmt auf diese Grundsätze in einigen Leitsätzen Bezug.

2..
Erste einschlägige Rechtsprechung zur Business Judgement Rule (BJR)

Die 2016 in das Aktiengesetz (§ 84) und das GmbH-Gesetz (§ 25) eingefügte BJR wurde nun erstmals auf Aufsichtsratsmitglieder einer AG – für diese aber letztlich erfolglos – angewendet. Bei anderen vergleichbaren Unternehmensrechtsformen, wie etwa Genossenschaft oder Privatstiftung,* würde diese „Rule“ ebenso angewendet werden, denn es geht stets um die „selbständige treuhändige Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen“ (OGH 15.9.2020, 6 ObA 58/20b, Erwägungsgrund 1.1*). Nach der dem US-amerikanischen Insolvenzrecht entstammenden „Zweifelsregel in Haftungsfragen“ wird vermutet, dass die Vorgangsweise dann sorgfältig und rechtmäßig war, wenn bei

  • unternehmerischen (dh nicht zwingend vorgegebenen) Prognose-Entscheidungen

  • unbefangen („disinterested and independent“)

  • auf der Grundlage angemessener Informationen (größen-, risiko- und situationsadäquat!)

  • sowie in der objektiv und subjektiv nachvollziehbaren, gutgläubigen Überzeugung zum Wohl der Gesellschaft zu agieren,

ein Geschäftsführungs- und/oder Aufsichtsratsbeschluss bzw ein faktischer Geschäftsführungs-Entschluss gefasst wurde. Kein haftungsfreier unternehmerischer Ermessensspielraum besteht hingegen bei Kompetenzüberschreitungen, Insichgeschäften (Befangenheit, Vorteilszuwendung) und bei Missachtung klar bindender Vorgaben (argumentum: kein Ermessen).*

Wo aber finden sich die (Rechts-)Grundlagen unternehmerischer Entscheidungen „nach ökonomischem Ermessen“, wo liegen die Grenzen dieses Ermessens? Dazu muss nicht nur in einschlägige Gesetze und Verordnungen, sondern viel genauer noch in Satzung, Gesellschafterbeschlüsse (Hauptversammlungs-Dezisionen) und branchen337übliche Standards guter Unternehmensführung – Compliance, Corporate Governance – sowie uU in Aufsichtsratsbeschlüsse zur Ausrichtung der Geschäftspolitik* geblickt werden.

3..
Geschäftsgegenstand → Geschäftsmodell → Geschäftspolitik → Geschäftsführung im Lichte des § 70 Abs 1 AktG

Weil vor allem aus marktliberalen Gründen nur wenige gesetzlich-ausdrückliche Vorgaben für die Geschäftsführung bestehen,* sollten Kontrollorganmitglieder die soeben genannte „Kaskade“, vom satzungsgemäßen Geschäftsgegenstand (-gegenständen) über Ziel- und Schwerpunktsetzungen und (Markt-)Strategien* bis hin zur faktischen Geschäfts(aus)führung, diese konsekutiv aufeinander folgenden „4 G“ also, bei der Überwachung der GeschäftsführerInnen ganz besonders im Auge behalten. Die zu überwachenden Vorstandsmitglieder bzw GeschäftsführerInnen haben gem § 70 Abs 1 AktG* das Unternehmenswohl unter Berücksichtigung der Interessen von Gesellschaftern, AN und Volkswirtschaft („Berücksichtigung des öffentlichen Interesses“) zu beachten. Und dieses „Wohl“, in der Literatur einhellig als „Sicherung des Fortbestands der Gesellschaft“ verstanden, hat sich wiederum am Zweck und Gegenstand des Unternehmens zu orientieren. Als gewichtige Stimme in der österreichischen Gesellschaftsrecht-Wissenschaft postuliert Johannes Reich-Rohrwig: „Der Rahmen für die Verfolgung des Unternehmenswohls [dauerhafte Rentabilität] ist der satzungsmäßig festgelegte und damit den Vorstand bindende Unternehmensgegenstand.“* Konsequenterweise ist sE daraus zu folgern: „Die kurzfristige Gewinnmaximierung ist von der dauerhaften Rentabilität zu unterscheiden und kann nicht aus § 70 Abs 1 AktG als allgemeine Zielvorgabe abgeleitet werden. Pflichtwidrig handelt daher der Vorstand, wenn er ausschließlich kurzfristige Gewinnmaximierungen und Ergebnisverbesserungen verfolgt, […] zugleich aber – langfristig gesehen – mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende größere Schäden für die Rentabilität des Unternehmens verursacht.“*

Rechtswidrigkeit und Verschulden sind, neben der Feststellung eines Schadens und kausalem Verhalten des Organwalters (Aufsichtsratsmitglieds), Voraussetzungen für die Pflicht zum Schadenersatz. Von den vier Schadenersatz- bzw Haftungsvoraussetzungen gem §§ 1293 ff ABGB ist bei gesellschaftsrechtlichen Organen das Kriterium „Rechtswidrigkeit“ oft am schwierigsten zu beurteilen, da wie gesagt nur wenige ausdrückliche Ge- und Verbote bestehen. Gesetzliche Vorschriften, die das Handeln oder Unterlassen der GeschäftsführerInnen determinieren oder pönalisieren, gibt es nur wenige, meist im steuer- und abgabenrechtlichen Bereich einschließlich Rechnungslegung* gem UGB oder IFRS sowie betreffend Internes Kontrollsystem (IKS), weiters im Firmenbuchrecht oder in branchenspezifischen Gesetzen und Verordnungen.

Satzung oder Gesellschaftsvertrag haben als „verbandsrechtliche Vorschriften“ daher, wie oben gesagt, erhebliche Bedeutung; aber auch diese Regelwerke können die tägliche Geschäftsführung iA nicht exakt determinieren, weshalb ja bei unternehmerisch-ökonomischen Ermessensfragen eine gewisse Haftungserleichterung und Großzügigkeit gemäß der oben erwähnten BJR eingeräumt wird. Bei rechtmäßigem Verhalten ist die Haftung ausgeschlossen, es lag dann eben „nur“ eine unternehmerisch-wirtschaftliche Risikoverwirklichung vor: Selbst „gewagte“ Geschäfte sind den Vorstandsmitgliedern und den zustimmenden Aufsichtsratsmitgliedern nicht als Verschulden anzulasten, wenn bei Vornahme des Geschäfts (ex ante-Beurteilung) die Möglichkeit oder naheliegende Wahrscheinlichkeit bestand, dass es sich als günstig für die Gesellschaft erweisen werde: „Das Fehlschlagen unternehmerischer Entscheidungen ist daher nur bei Verletzung branchenadäquater, größenadäquater und situationsadäquater Bemühungen pflichtwidrig.“*

Hintergrund der Verpflichtung zur Angabe des Unternehmenszwecks (der Unternehmenszwecke) im Gesellschaftsvertrag (Satzung) ist:*

  • Bindung der GeschäftsführerInnen https://rofan.team/geschaeftsfuehrer-bei-gmbh-und-ug/https://rofan.team/geschaeftsfuehrer-bei-gmbh-und-ug/ an den Willen der Gesellschafter;

  • Schutz von Minderheitsgesellschaftern;

  • Überprüfbarkeit der Betätigung der Gesellschaft durch das Firmenbuchgericht;

  • Informationen für Außenstehende wie Lieferanten und Gläubiger über das Tätigkeitsfeld der Gesellschaft.

Rechtmäßig in Kombination mit zweckmäßig/wirtschaftlich bedeutet zusammengefasst: Die das Geschäftsführungshandeln bindenden Vorgaben im Innenverhältnis sind einzuhalten, es muss338 zweckmäßig („zum Zweck, d.h. zur Verwirklichung des Unternehmensgegenstands oder der Unternehmensgegenstände“) und ökonomisch sinnvoll gehandelt oder unterlassen werden. Die GeschäftsführerInnen bzw Vorstände haben unter Beachtung des § 70 Abs 1 AktG all jene Beschränkungen einzuhalten, die die Satzung (der Gesellschaftsvertrag) oder der Aufsichtsrat – oder aber ein Beschluss der Gesellschafterversammlung (Haupt- oder Generalversammlung) – ihnen auferlegt. Ihre ÜberwacherInnen, die Aufsichtsratsmitglieder also, haben das sorgfältig zu beachten, vor allem bei der Entgegennahme, Diskussion und Plausibilitätsprüfung* von Berichten, Forecasts (Vorschaurechnungen, Budgets, Investitionsberechnungen etc) und ähnlichen Planungsunterlagen.

In diesem Sinn judiziert der OGH in der eingangs angeführten E:*„Nach der Rechtsprechung hat, wenn widerstreitende Interessen abzuwägen sind, dies das Vorstandsmitglied mit pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung vorzunehmen; hält es sich im Rahmen dieses Ermessens, missbraucht es also das Ermessen nicht durch einseitige Bevorzugung einer der zu berücksichtigenden Interessen, so ist die gebotene Sorgfaltspflicht gewahrt (RS0049482). Diese Grundsätze lassen sich zwanglos auf die Aufsichtsratsmitglieder übertragen, allerdings sind in Anlehnung an § 70 AktG auch die Interessen der Öffentlichkeit, der Arbeitnehmer und der Gläubiger in die Entscheidung, was dem Unternehmenswohl dient, einzubeziehen (RS0049482 [T1]). Unternehmerische Entscheidungen der Aufsichtsratsmitglieder haben sich – unter Berücksichtigung der Interessen der Aktionäre und der Arbeitnehmer und des öffentlichen Interesses – primär am Unternehmenswohl zu orientieren (RS0049482 [T2]).“

4..
Kontrollpflichten bei zustimmungspflichtigen Geschäftsführungsmaßnahmen

Bei der Prüfung von Genehmigungen gegenüber GeschäftsführerInnen oder Vorständen, dh bei den zustimmungspflichtigen Geschäften des § 95 AktG oder § 30j GmbHG uä, hat der Aufsichtsrat insb die Auswirkungen auf die künftige Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft und die Veränderung der Risikoposition durch die geplante Geschäftsführungsmaßnahme als Kriterien heranzuziehen.* Nach der Rsp bestehe die Aufgabe darin, die Gründe und Motive des Vorstands kritisch zu prüfen sowie sich darüber umfassend informieren zu lassen. Auf dieser Basis sei eine „Kollegialorgan“-Meinung darüber zu bilden und beschlussmäßig zu entscheiden, „ob die Maßnahme im Interesse der Gesellschaft liegt, den durch die Satzung und die allgemeine Geschäftspolitik des Unternehmens gezogenen Rahmen einhält und ob der Vorstand nach Überzeugung des Aufsichtsrats die Chancen und Risken der geplanten Maßnahme zutreffend abgewogen hat“.*

Der Aufsichtsrat habe zu prüfen, ob sich die Vorstandsmitglieder im Rahmen eines unternehmerischen Ermessens halten; er habe eine Plausibilitätsprüfung des Vorstandshandelns (des geplanten Vorhabens) samt eigener wirtschaftlicher Bewertung vorzunehmen bzw anzufügen.* Bei angespannter Unternehmenslage oder sonstigen risikoträchtigen Besonderheiten habe der Aufsichtsrat seine Überwachungstätigkeit zu intensivieren. „Ist der Aufsichtsrat nicht der Auffassung, dass die Maßnahme dem Wohle des Unternehmens entspricht, darf er der Maßnahme nicht zustimmen. […] Die maßgebliche Aufgabe gemäß § 95 AktG besteht gerade darin, den Vorstand zu kontrollieren, und nicht eine Handlung schon deshalb zu genehmigen, weil der Vorstand sie befürwortet.“ In Anbetracht der angespannten wirtschaftlichen Situation des ihnen zur Geschäftsführungsüberwachung anvertrauten Unternehmens „hätten die Beklagten die Tätigkeit und den Vorschlag des Vorstands besonders kritisch betrachten müssen“ (OGH 15.9.2020, 6 ObA 58/20b, Erwägungsgrund 2.6.).

Die eingangs erwähnte E* GmbH hatte den Geschäftsgegenstand Kredit- und Darlehensvergabe offenbar nicht einmal als Annex-Betätigung in ihrer Satzung verankert; mit 75 % Stimmenmehrheit in der Hauptversammlung hätten die Mehrheitsaktionäre („die Familie“) hier zwar im Wege einer Satzungsänderung* erweitern können, haben sie aber nicht. Weil das „Wohl“ des Unternehmens aufs Engste mit der Orientierung an dem Unternehmensgegenstand bzw an den Unternehmensgegenständen und deren zweckmäßiger und wirtschaftlicher Verwirklichung durch die GeschäftsführerInnen verknüpft ist, ist im eingangs angeführten Judikat aus 2020 konsequenterweise zu lesen: „es erkläre sich nicht, inwieweit die Darlehensgewährung günstig für die AG hätte sein können, zumal dies gar nicht zum Unternehmensgegenstand gehörte“.

Merke daher: Wenn der satzungsgemäß vorgegebene Pfad der Geschäftsgegenstände, der sich daraus ergebenden Businessmodelle und der satzungs- oder weisungsgemäß vorgegebenen Geschäftspolitik* durch eine konkrete GeschäftsführerInnenaktivität verlassen werden soll, bedürfte es schon sehr einhelliger und unanfechtbarer Expertisen,* dass339 diese außerordentliche Geschäftsführungsmaßnahme „außerhalb unseres üblichen Geschäftsbereichs“ mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Unternehmen zum Vorteil gereichen wird. Und zwar „der Gesellschaft“, rechtlich völlig getrennt vom „Wohl der Gesellschafter“. Denn es besteht im Kapitalgesellschaftsrecht, anders als im Recht der Personengesellschaften, ein striktes Trennungsprinzip sowie, zur Hintanhaltung von dessen Umgehung, das Verbot offener oder verdeckter Einlagenrückgewähr, also Schmälerung des Nennkapitals (§ 52 AktG, § 82 GmbHG).

5..
Bestätigung der strikten Trennungstheorie (pönalisiertes Konzern-Finanz-Karussell)

Kapitalgesellschaften „gehören“ nicht den Anteilsinhabern, Hauptaktionären oder Großinvestoren, sondern „sich selbst“. Als juristische Personen sind sie Rechtssubjekte unserer Sozial- und Wirtschaftsordnung und stehen jedenfalls mit ihrem Nennkapital (Grund- oder Stammkapital) für Verbindlichkeiten ein. Das ergibt daraus die Grundwertung der verbands- oder aktienrechtlichen Haftungsverfassung: Die Gläubiger- und Schuldnerkreise der AG und ihrer Aktionäre sind strikt voneinander zu trennen.

Diese scharfe Trennung der Vermögens- und Rechtssphäre der AG einerseits und ihrer Aktionäre andererseits wird als „Sphärentrennung“ oder „Trennungsprinzip“ (§ 48 AktG, § 82 GmbHG) bezeichnet. Wünsche oder Weisungen, selbst eines Alleinaktionärs oder Alleingesellschafters, sind für den Aufsichtsrat und für den Vorstand unbeachtlich, wenn sie diese Sphärentrennung beeinträchtigen würden.

„Zum Wohl der Gesellschaft“ und „zum Wohl der Gesellschafter/Aktionäre“ darf nicht verwechselt werden, so der OGH: Die im Rechtsmittel besonders hervorgehobene „enge geschäftliche und gesellschaftsrechtliche Verbindung von AG und Darlehensnehmerin war ganz offensichtlich das Motiv, das Darlehen trotz unzureichender Bonität zu gewähren“. Auf die Bonität der Hauptaktionäre-Familie komme es jedoch nicht an, weil nicht die Familie, sondern die Bio* Holding-AG Darlehensnehmerin wurde. Die Gewährung eines Überbrückungskredits an die Konzernschwester oder -mutter wäre „nicht Aufgabe der darlehensgewährenden Aktiengesellschaft, sondern vielmehr der Gesellschafter der Darlehensnehmerin gewesen“.*

6..
Mitbestimmung (§ 110 ArbVG) hebt nachweislich die Qualität der Unternehmensführung

Zweck der Mitwirkung im Aufsichtsrat, wie sie § 110 ArbVG für das Aufsichtsorgan von Kapitalgesellschaften, Genossenschaften und einigen andere Rechtsformen festlegt, ist die Übertragung von Mitgestaltung und Verantwortung für unternehmerische Entscheidungen an „die Belegschaft“, der ja die betriebsverfassungsrechtlichen Ansprüche zustehen (vgl § 113 ArbVG). Auszuüben sind die Mitwirkungsrechte durch die Belegschaftsorgane (vor allem BR, Zentral-BR, Konzernvertretung), aus deren Mitte die AN-VertreterInnen entsandt werden.* Bei konstruktiver Ausübung der Mitwirkungsrechte können die Belegschaftsvertreter eine wirkliche Bereicherung für das Überwachungsgremium darstellen, da sie (1.) eine Fülle von wichtigen Beobachtungen aus ihrem Arbeitsalltag einbringen und (2.) die tatsächliche Umsetzung von Aufsichtsratsbeschlüssen im Unternehmen aufgrund ihrer Anwesenheit im Betrieb entsprechend überwachen können.*

Die Belegschaftsvertreter trifft nicht nur das Recht und die Verpflichtung, AN-Interessen im Rahmen ihrer Aufsichtsratsaktivitäten zu verfolgen, sondern nach Gahleitner auch die Pflicht, ihr betriebliches Know-How einzubringen. Sie sind im Regelfall mehr als jeder Kapitalvertreter in den täglichen Betriebsablauf eingebunden und anders als die Kapitalvertreter, die ja gem § 90 Abs 1 AktG bzw § 30e GmbHG nicht Angestellte der Gesellschaft sein dürfen, als einzige in der Lage, betriebsinternes Wissen und Erfahrung mit den internen Abläufen einzubringen.*

Dass ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu valideren Unternehmenskennzahlen und Bilanzen führt, hat ua eine Studie von Ökonomen der Universität Duisburg-Essen vor rund einem Jahr ergeben.* Die Ergebnisse sollen hier nur schlagwortartig wiedergegeben sein:

  • 1.

    Unternehmen mit starker Mitbestimmung betreiben deutlich seltener Steuervermeidung. Sie zahlen im Durchschnitt 4 Prozentpunkte mehr Steuern auf den erwirtschafteten Gewinn.

  • 2.

    Je stärker die Mitbestimmung im Unternehmen verankert ist, desto seltener werden Bilanzierungsspielräume ausgenutzt. Hingegen reizen Unternehmen mit schwacher Mitbestimmung Bilanzierungsspielräume häufig aus, um ihre wirtschaftliche Lage besser darzustellen als sie tatsächlich ist.

  • 3.

    Mitbestimmung trägt zu einer verantwortungsbewussten und weitsichtigen Unternehmensführung bei. Unternehmen mit aggressiver (übertrieben optimistischen) Finanzbericht340erstattung weisen zwar kurzfristig eine höhere Performanz auf, schneiden jedoch langfristig schlechter ab.

Auch eine Studie der Wiener Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) aus dem Jahr 2019* enthält einige Ergebnisse zur stärker diversifizierten Berücksichtigung aller vier Interessen gem § 70 Abs 1 AktG, also nicht nur der Dividendeninteressen. Mitbestimmung führt somit von der vorrangigen oder gar ausschließlichen Orientierung am Shareholder-Value hin zum sogenannten Stakeholder-Value, der auch die Gläubiger, Abnehmer, Lieferanten usw im Fokus hat.

Zur „Frauenquote“, also dem Gleichstellungsgesetz von Frauen und Männern im Aufsichtsrat, kurz GFMA-G (BGBl I 2017/104BGBl I 2017/104), ist den Gesetzesmaterialien zu entnehmen: Studien haben belegt, dass die Diversität nicht nur durch die größere Heterogenität der Fähigkeiten, Perspektiven und Ideen zu einer Erweiterung der Ressourcen führen, sondern dass auch durch geschlechterspezifische Verhaltensunterschiede eine Stärkung der Corporate Governance erreicht werden könne.*

7..
Menschenwürdige Arbeit durch Mitbestimmung

Menschenwürdige Arbeit und humane Arbeitsplätze („decent work“, ein Hauptziel der Internationalen Arbeitsorganisation [ILO]) können nur verwirklicht werden, wenn die Beschäftigten nicht bloß das Objekt („verdinglicht“) von Unternehmensentscheidungen sind. Der humanistische Ansatz des ArbVG gebietet es, die AN als Menschen und nicht als betriebswirtschaftliche Faktoren oder gar nur als Produktionsmittel wahrzunehmen.* Die Mitwirkung* durch demokratisch gewählte Belegschaftsrepräsentanten* in jenem Gesellschaftsorgan, das die Unternehmensleitung überwacht und strategisch berät, ist von hoher Bedeutung für die Verwirklichung dieses humanistischen Ziels, und gleichzeitig ein gewichtiger Faktor zur Umsetzung von Vielfalt (Diversität) und unternehmensinterner Kenntnisbreite im Aufsichtsrat. Wie empirische Untersuchungen zeigen (siehe oben 6.), kann die Aufsichtsratsmitbestimmung in aller Regel zu einem kritischen Ausbalancieren der vielfältigen Stakeholder-Interessen beitragen, also zur wechselseitigen Berücksichtigung sämtlicher in § 70 Abs 1 AktG genannten Ziele und Interessen: Unternehmensfortbestand, Gesellschafter, Arbeitnehmer und öffentliches Interesse.