Vordienstzeitenanrechnung zwischen Freizügigkeit und Betriebstreue*

MONIKASCHLACHTER (TRIER)
Der Beitrag widmet sich abermals dem Streit um die Voraussetzungen, unter denen eine Vordienstzeitenanrechnung aus unionsrechtlicher Perspektive zulässig sein kann. Nicht eine Einzelfall-Analyse der EuGH-Entscheidungen zu diesem Thema steht im Zentrum, sondern das Bemühen um eine Dogmatik der Freizügigkeit als einer Grundfreiheit des Unionsrechts.
  1. Einleitung

  2. Arten der Vordienstzeitenanrechnung

    1. Anrechnung von Beschäftigungszeiten beim aktuellen Arbeitgeber

    2. Anrechnung von Beschäftigungszeiten bei fremden Arbeitgebern

  3. Maßstab des Unionsrechts

    1. Prüfungsmaßstab des Art 45 Abs 2 AEUV/ Art 7 Abs 1 VO (EU) 492/2011

      1. Art 45 AEUV als Diskriminierungsverbot

      2. Vordienstzeitenanrechnung als mittelbare Diskriminierung

    2. Prüfungsmaßstab des Art 45 Abs 1 AEUV

      1. Freizügigkeitsbeschränkung

      2. Wirkung auf die Entscheidung zur Ausübung der Freizügigkeit

      3. Rechtfertigung

        1. Regelungszweck „Arbeitnehmerschutz“

        2. Regelungszweck „Honorierung von Berufserfahrung“

        3. Honorierung von „Betriebstreue“

        4. Verringerung der Benachteiligungswirkung

      4. Abwägung mit der Kollektivvertragsfreiheit

  4. Ergebnisse

1.
Einleitung

Eine Möglichkeit zur Festlegung von Arbeitsbedingungen besteht darin, sie in Abhängigkeit von der Dauer des Arbeitsverhältnisses anwachsen zu lassen. Gerade Arbeitsbedingungen wie die Einstufung in Entgeltgruppen, die Dauer des Jahresurlaubs, die Länge der Kündigungsfristen oder die Höhe einer Entschädigung für den Arbeitsplatzverlust, werden oft in dieser Weise dienstzeitenabhängig gestellt.* Diese Ausgestaltung wird der AG wählen, wenn er sich davon Vorteile für den Betrieb verspricht, etwa um besonders qualifizierte Mitarbeiter dauerhaft zu halten, oder die Kosten für die Suche und Einarbeitung neuer Beschäftigter zu sparen. Zugleich können AG auch ein Interesse daran haben, in bestimmten Fällen Beschäftigten vorfristig bessere Arbeitsbedingungen zu gewähren, die nach der Grundregel noch keinen Anspruch darauf hätten, etwa um besonders qualifizierte Bewerber zum Eintritt in das Unternehmen zu bewegen. Dafür werden Vordienstzeiten abweichend von den allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen auf die Beschäftigungsdauer angerechnet, um bereits anfänglich günstigere Arbeitsbedingungen anbieten zu können. Im Ergebnis wirkt die Anrechnung von Vordienstzeiten damit wie eine Begrenzung der Anspruchsvoraussetzung „Dauer der Betriebszugehörigkeit“.

Grundsätzlich ist die Methode der Festlegung von Arbeitsbedingungen Ausdruck der Vertragsfreiheit der Parteien. Ob Arbeitsbedingungen dienstzeitenabhängig ausgestaltet werden, und ob für bestimmte Fälle ausnahmsweise Vordienstzeiten berücksichtigt werden sollen, gilt daher in der Form, in der es der Individualvertrag oder KollV festlegt. Wenn die Durchführung eines Arbeitsverhältnisses jedoch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, muss die Anrechnungsklausel auch mit der AN-Freizügigkeit gem Art 45 AEUV vereinbar sein. Nachfolgend soll geklärt werden, in welchen463Fällen das Unionsrecht anwendbar ist und unter welchen Voraussetzungen eine Anrechnungsklausel den Voraussetzungen standhält.

2.
Arten der Vordienstzeitenanrechnung
2.1.
Anrechnung von Beschäftigungszeiten beim aktuellen Arbeitgeber

Soll eine Anrechnung nur solcher Vordienstzeiten zugelassen werden, die beim selben AG erdient wurden, fällt sie meist schon deshalb nicht in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, weil hier regelmäßig kein grenzüberschreitender Tatbestand vorliegt. An die Vorgaben der AN-Freizügigkeit ist eine solche Anrechnungsbestimmung dann auch nicht gebunden. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ehemalige Beschäftigte nach einem Auslandsaufenthalt zur Rückkehr zu einem früheren, inländischen AG bewegt werden sollen; dieser Fall ist gleich zu behandeln mit der Anrechnung von Zeiten bei einem fremden AG (unter 2.2.). Anwendbar können zudem andere Vorgaben des Unionsrechts bleiben, wie etwa die Befristungsrichtlinie, wenn es um Vordienstzeiten beim selben AG geht, die nur deshalb gesondert angerechnet werden müssen, weil es sich um rechtlich voneinander unabhängige mehrfach befristete Vertragsverhältnisse handelt.* Wenn befristet Beschäftigte dadurch vom Erwerb der für eine Vergünstigung vorausgesetzten Vertragsdauer ausgeschlossen würden, weil die Betriebszugehörigkeit nur im Umfang einer zusammenhängenden Vertragslaufzeit beim aktuellen AG berechnet wird, wirkt dies mittelbar benachteiligend wegen der Befristung.* Zur Vermeidung dieser Diskriminierung kann eine Anrechnung von Vordienstzeiten beim selben AG daher sogar geboten sein, an der Freizügigkeit wird sie typischerweise nicht kontrolliert.

2.2.
Anrechnung von Beschäftigungszeiten bei fremden Arbeitgebern

Eine Anrechnung von Vordienstzeiten, die bei fremden AG erdient worden sind, wird dagegen in den Anwendungsbereich der Freizügigkeitsbestimmungen geraten, weil solche Vordienstzeiten auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat verbracht worden sein können. Wenn in einem Sachverhalt die Berufsausübung Bezug zu mindestens zwei Mitgliedstaaten aufweist, ist eine Regelung am Maßstab der Freizügigkeit zu kontrollieren. Der Umstand allein, dass zahlenmäßig viel häufiger ein Arbeitsplatzwechsel zwischen zwei inländischen Betrieben von der Regelung betroffen wird als unter Beteiligung eines Auslandsbetriebes, hindert die Maßgeblichkeit von Art 45 AEUV nicht.

3.
Maßstab des Unionsrechts

Klauseln zur Vordienstzeitenanrechnung können mit dem Unionsrecht in Konflikt geraten, wenn sie die primärrechtliche AN-Freizügigkeit beeinträchtigen. Dazu muss ein grenzüberschreitend Beschäftigter schlechter behandelt werden als jemand behandelt werden würde, der stets standorttreu beschäftigt gewesen ist. Art 45 AEUV gibt Unionsbürgern, die grenzüberschreitend arbeiten wollen, in erster Linie Rechte gegenüber dem Staat. Sowohl der Aufnahmestaat wie der Herkunftsstaat müssen daher gewährleisten, dass eine grenzüberschreitende Arbeitsaufnahme weder verhindert noch diskriminierend erschwert wird.*

3.1.
Prüfungsmaßstab des Art 45 Abs 2 AEUV/ Art 7 Abs 1 VO (EU) 492/2011

Das Diskriminierungsverbot richtet sich gem Art 7 Abs 4 VO 492/2011 neben den Mitgliedstaaten an Verbände und Privatpersonen, so dass weder Tarifverträge noch Einzelarbeitsverträge Zugangsregelungen oder Beschäftigungsbedingungen von der Staatsangehörigkeit abhängig machen dürfen. Obwohl eine Vordienstzeitenanrechnung auf den ersten Blick nicht darauf schließen lässt, dass sie AN den grenzüberschreitenden AG-Wechsel erschweren soll,* lässt sich eine dahingehende Wirkung nicht bestreiten: Die Förderung der Betriebstreue knüpft nicht nur, aber eben auch an den grenzüberschreitenden AG-Wechsel, Nachteile bei den Arbeitsbedingungen. Eine zeitliche Befristung oder eine Begrenzung der Anrechenbarkeit von Vordienstzeiten auf kurze Unterbrechungszeiten schließt alle, auch die grenzüberschreitenden Arbeitsplatzwechsler von der Nutzung der Anrechnungsklausel aus, sofern die Tätigkeit bei einem anderen AG länger gedauert hat oder länger zurückliegt. Ein Ausschluss von Vordienstzeiten führt auch bei grenzüberschreitendem AG-Wechsel dazu, dass ein Wechselwilliger seine angesammelte Berufserfahrung nicht einbringen kann.* Diese Nachteile auch für Beschäftigte, die ihren Arbeitsplatz grenzüberschreitend wechseln, bringt die Vordienstzeitenanrechnung in den persönlichen Anwendungsbereich der Freizügigkeitsregelung.

3.1.1.
Art 45 AEUV als Diskriminierungsverbot

Diskriminierungsverbote sind als Kernbestandteile des einheitlichen Binnenmarktes ausdrücklich in allen Grundfreiheiten angelegt, um zu garantieren, dass jede Benachteiligung wegen der Staatsangehörigkeit bei der Ausübung dieser Freiheiten untersagt wird. Nicht nur Unternehmen sollen die Vorteile eines gemeinsamen Binnenmarktes nutzen können, sondern auch AN sollen in anderen464Mitgliedstaaten ihre Leistung zu ebenso günstigen Bedingungen wie die Einheimischen anbieten können.* Eine Regelung, die Vor- oder Nachteile beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder den Arbeitsbedingungen direkt von der Staatsangehörigkeit abhängig macht, wäre damit ein nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen die Freizügigkeit. Derartiges geschieht in Klauseln zur Vordienstzeitenanrechnung allerdings nicht, auf die Staatsangehörigkeit der Beteiligten stellen sie nicht ab; eine unmittelbare Diskriminierung liegt daher nicht vor.

3.1.2.
Vordienstzeitenanrechnung als mittelbare Diskriminierung

Denkbar ist allerdings eine mittelbare Benachteiligung wegen der Staatsangehörigkeit, da Anrechnungsklauseln, abhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, durchaus benachteiligend für grenzüberschreitend tätige, sogenannte „Wander-AN“ wirken können. Eine mittelbare Diskriminierung ist jedenfalls anzunehmen, sobald eine Klausel, ohne die Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium einzusetzen, tatsächlich stärkere Auswirkungen auf grenzüberschreitend tätige als auf standorttreue AN entfaltet.* Bei diesem Maßstab wird eine mittelbare Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit allerdings nach denselben Grundsätzen bestimmt,* die ursprünglich zur mittelbaren Entgeltdiskriminierung wegen des Geschlechts, Art 157 AEUV, entwickelt worden waren. Dafür verlangte der EuGH ursprünglich eine signifikant unterschiedliche Betroffenheit der geschützten Gruppe im Verhältnis zur nicht betroffenen Vergleichsgruppe. Bei Übernahme dieses Maßstabs würden Wander-AN von Vordienstzeitklauseln mittelbar diskriminiert, wenn sie wesentlich* häufiger nachteilig davon betroffen würden als Inländer. Damit ist allerdings kaum zu rechnen, da sich Klauseln zur Vordienstzeitenanrechnung auf alle Arbeitsplatzwechsler auswirken, die eine Tätigkeit bei einem inländischen AG aufnehmen. Da auch Inländer häufig den Arbeitsplatz wechseln, werden sie von der Anrechnungsklausel eines inländischen AG tatsächlich häufiger, statt signifikant seltener, als Wander-AN betroffen sein. Bei Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes ist es praktisch auszuschließen, dass eine Anrechnungsklausel eine mittelbare Diskriminierung iSd Art 45 Abs 2 AEUV darstellt.

Dieser Maßstab ist allerdings für das Freizügigkeitsrecht nicht einschlägig.* Stattdessen hat der EuGH stets darauf abgestellt, ob eine Bestimmung jedenfalls dazu geeignet ist, Wander-AN zu benachteiligen,* und damit den Anwendungsbereich der mittelbaren Diskriminierung im Freizügigkeitsrecht bewusst weit gefasst. Weder muss eine Maßnahme alle Inländer begünstigen noch vorwiegend fremde Staatsangehörige benachteiligen, um als mittelbare Diskriminierung zu gelten.* Diese umfassende Betrachtungsweise wird mit der besonderen Bedeutung gerechtfertigt, die den Grundfreiheiten für die Verwirklichung des Binnenmarktes zukomme.* Das trifft zwar unbestritten zu, erklärt allerdings keinen anderen Prüfungsmaßstab im Anwendungsbereich von Art 157 AEUV, dem als besonders wichtigem Grundsatz des Unionsrechts ebenfalls hohe Bedeutung zukommt. Tatsächlich sind die Prüfungsmaßstäbe aber mittlerweile auch weitgehend vereinheitlicht, und zwar auf dem Niveau des zu Art 45 AEUV entwickelten Ansatzes. Art 157 AEUV wird bereits seit längerem durch die arbeitsrechtlichen Diskriminierungsrichtlinien der EU konkretisiert, die ihrerseits das Erfordernis einer statistisch signifikant unterschiedlichen Betroffenheit der Vergleichsgruppen als Voraussetzung einer mittelbaren Diskriminierung nicht aufstellen.* Vielmehr liegt eine mittelbare Diskriminierung nach den Richtlinien auch dann vor, wenn eine Person schlechter behandelt wird als eine Vergleichsperson „behandelt würde“. Damit genügt die bloße Diskriminierungseignung der überprüften Maßnahme im Anwendungsbereich einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts ebenso wie für Art 45 Abs 2 AEUV. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass eine statistisch unbedeutende Beeinträchtigung der Freizügigkeit eine mittelbare Diskriminierung darstellen kann.* Das wurde etwa für eine Vordienstzeitenregelung bejaht, die einer Teilgruppe von Wander-AN, die zuvor länger als eine bestimmte Anzahl von Jahren im Ausland beschäftigt war, schlechtere Anrechnungsmöglichkeiten zuerkennt als den im Inland Beschäftigten.*

Dies ist abzugrenzen gegen Entscheidungen aus jüngerer Zeit, in denen Anrechnungsklauseln als nicht mittelbar diskriminierend eingestuft worden sind,* weil gar keine unterschiedliche Betroffenheit von in- und ausländischen AN festgestellt worden ist:* Wenn eine Vordienstzeitenanrechnung für Tätigkeiten bei einem anderen AG generell auf einen Höchstumfang begrenzt wird, trifft der dadurch ausgelöste Nachteil alle Arbeitsplatzwechsler, die längere als die anrechenbaren Vordienstzeiten bei einem anderen AG aufweisen, unabhängig davon, ob sie grenzüberschreitend oder nur im Inland gewechselt sind.* In diesem Falle fehlt es nicht nur an einer unterschiedlich starken Betroffenheit der Vergleichsgruppen, die der EuGH für eine mittelbare Diskriminierung iSd Art 45 Abs 2 AEUV gerade nicht gefordert hatte, sondern bereits465an der unterschiedlichen Behandlung als solcher. Eine Anrechnungsklausel, die beide Gruppen in gleicher Weise betrifft, kann keine Benachteiligung darstellen. Durch eine derartige Maßnahme werden zwar möglicherweise beide Vergleichsgruppen schlecht behandelt, aber keine wird der anderen gegenüber dadurch diskriminiert.

3.2.
Prüfungsmaßstab des Art 45 Abs 1 AEUV
3.2.1.
Freizügigkeitsbeschränkung

Der EuGH interpretiert die Freizügigkeitsgarantie, trotz ihrer sprachlich abweichenden Formulierung,* parallel zu den anderen Grundfreiheiten* dahingehend, dass sie nicht nur Diskriminierungsverbote normieren, sondern auch ein Beschränkungsverbot;* dieses wird aus der generellen Gewährleistung in Abs 1 hergeleitet.* Nur die Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit zu verbieten, sichere das Freizügigkeitsrecht nur unzureichend, denn auch Regelungen, die sowohl In- wie Ausländer belasten, könnten faktisch den Arbeitsmarkt gegen EU-Bürger aus anderen Staaten abschotten.* Eine Maßnahme gilt danach bereits dann als freizügigkeitsbeschränkend, wenn sie geeignet ist, die Ausübung der Freizügigkeit weniger attraktiv zu machen.* Mit dieser Definition wird der Geltungsbereichs des Verbots deutlich erweitert, denn grundsätzlich könnte jede weniger günstige Arbeitsbedingung im Aufnahmestaat eine Betätigung in diesem Staat weniger attraktiv erscheinen lassen und dadurch von der Annahme eines Arbeitsplatzes im Ausland abschrecken.* Das kann sich sowohl auf ausländische Beschäftigte beziehen, die grenzüberschreitend im Inland tätig werden könnten, wie auf Inländer, die nach Beendigung einer Auslandstätigkeit ins Inland zurückzukehren planen. Beide Gruppen könnten auch durch eine Vordienstzeitenklausel, die geleistete Arbeit gar nicht oder nur teilweise anzurechnen erlaubt, von einer grenzüberschreitenden Arbeitsaufnahme abgeschreckt werden: Für Ausländer wäre die Arbeitsaufnahme im Inland unattraktiver, wenn die bisherige Berufserfahrung nicht mitzählt, für rückkehrwillige Inländer könnte die Arbeitsaufnahme im Ausland generell, oder (bei Teilanrechnung) für einen längeren als den anerkannten Zeitraum entsprechend unattraktiver werden.

Um eine Freizügigkeitsbeschränkung anzunehmen, kommt es nicht darauf an, dass Personen oder Gruppen von der überprüften Regelung unterschiedlich stark betroffen werden. Es ist daher kein Argument gegen die beschränkende Wirkung einer Regelung, dass sie sich auf Beschäftigte genauso nachteilig auswirkt, die ausschließlich im Inland den Arbeitsplatz wechseln,* und zwar auch dann nicht, wenn solche Wechsel im Inland deutlich zahlreicher sind als grenzüberschreitende Wechsel. Eine Regelung kann auch dann geeignet sein, die Ausübung von Freizügigkeit weniger attraktiv zu machen, wenn sie zugleich die inländische Arbeitskräftemobilität beeinträchtigt. Genügt bereits die bloße „Eignung“ zur Attraktivitätsminderung, um eine Freizügigkeitsbeschränkung anzunehmen, könnten alle denkbaren Nachteile einer grenzüberschreitenden Betätigung eine Freizügigkeitsbeeinträchtigung darstellen.* Damit würde das Unionsrecht jedoch einen von der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht gedeckten Druck zur Angleichung von Arbeitsbedingungen aufbauen:* Sicher ausschließen lässt sich eine Minderung der Attraktivität grenzüberschreitender Betätigung letztlich nur dadurch, dass unionsweit dieselben Bedingungen gelten.*

3.2.2.
Wirkung auf die Entscheidung zur Ausübung der Freizügigkeit

So weit wollte der EuGH mit dem Verbot der Beschränkung allerdings nicht gehen, sondern bemüht sich um eine praktikable Eingrenzung. Dafür ist in der Literatur vorgeschlagen worden,* die zur Warenverkehrsfreiheit entwickelte Unterscheidung zwischen Marktzutrittsregeln und bloßen Begleitumständen* für die Freizügigkeit zu übernehmen. Dafür müsste zwischen Bedingungen unterschieden werden, die als Zugangsbedingungen die Freizügigkeit verletzen, und anderen Bedingungen, die als bloße Ausübungsmodalität das „Wie“ der grenzüberschreitenden Berufstätigkeit regeln und daher dem Beschränkungsverbot nicht unterliegen. Diesen Ansatz hat die Rsp jedoch nicht aufgegriffen. Arbeitsbedingungen sind überwiegend gerade nicht als Marktzutrittsregelungen gefasst, können die Aufnahme einer grenzüberschreitenden Berufstätigkeit aber dennoch weniger attraktiv machen.* Sollten solche Umstände künftig das Vorliegen einer Beschränkung nicht mehr begründen können, müsste die bisherige Rsp weitgehend aufgegeben werden. Darauf hat sich der EuGH jedoch nicht eingelassen,* sondern sogar466lediglich „unbedeutende“ Beeinträchtigungen der Freizügigkeit genügen lassen.

Stattdessen hat er darauf abgestellt, dass es das Unionsrecht einem AN nicht garantieren könne, dass ein Wechsel ins Ausland in Bezug auf seine sozialen Rechte neutral sei.* Deshalb kann ein Wander-AN aus dem Unionsrecht nicht herleiten, dass etwaige in seinem Herkunftsland geltenden günstigeren Arbeitsbedingungen auch im Aufnahmestaat angewendet werden müssten.* Rechtliche und tatsächliche Rahmenbedingungen von Arbeitsverhältnissen können sich sogar auf verschiedenen Teilgebieten desselben Staates, jedenfalls aber innerhalb der EU, unterscheiden; wer von der grenzüberschreitenden Arbeitsaufnahme einen Vorteil erwartet, muss vor Benachteiligungen geschützt werden, aber nicht vor allen am Ort allgemein herrschenden Arbeitsbedingungen.* Entscheidend ist letztlich die Auswirkung einer Regelung auf die Entscheidung für oder gegen eine grenzüberschreitende Arbeitsaufnahme. Werden durch eine Regelung Arbeitsbedingungen so gestaltet, dass sie diese Entscheidung wahrscheinlich nachteilig beeinflussen, wirkt die Regelung beschränkend und ist, falls sie nicht gerechtfertigt werden kann,* mit Art 45 AEUV unvereinbar.

Dabei sollen lediglich ungewisse, in der Zukunft liegende und nur möglicherweise eintretende Umstände, die auf eine Entscheidung zur grenzüberschreitenden Arbeitsaufnahme allenfalls indirekt einwirken, keine Beschränkung begründen können.* Das wurde angenommen für eine zeitlich begrenzte Vordienstzeitenanrechnung als Voraussetzung für den Erwerb zusätzlicher Urlaubstage, weil es nicht hinreichend wahrscheinlich erscheint, eine im Übrigen als vorteilhaft eingeschätzte Berufstätigkeit im Ausland werde wegen gegebenenfalls später erreichbarer zusätzlicher Urlaubsansprüche nicht aufgenommen.* Maßgeblich ist, ob die Regelungen einen Entschluss, grenzüberschreitend tätig zu werden, typischerweise nicht negativ beeinflussen.* Das hängt wohl zum einen von der sofortigen – oder gegebenenfalls erst später eintretenden – Spürbarkeit des Nachteils ab, zum anderen von dessen Erheblichkeit: Eine Nichtanrechnung von Vordienstzeiten bei der Festsetzung der Entgelteinstufung enthält damit eine Beschränkung,* weil sie sich unmittelbar bei Arbeitsaufnahme bereits nachteilig auf das Entgelt auswirkt und diese Wirkung solange beibehält, bis die höchstmögliche Gehaltseinstufung erreicht ist. Etwas anderes gilt für Regelungen, die nur solche Vorbeschäftigungen von der Anrechnung ausnimmt, deren Einbeziehung nicht erwartet werden konnte, denn in diesem Fall wirkt sich die Nichtanrechnung auf eine Entscheidung zur grenzüberschreitenden Betätigung typischerweise nicht aus. Der EuGH unterscheidet dafür zwischen der Nichtanrechnung von gleichwertigen und von lediglich für den Nachfolge-AG nützlichen Tätigkeiten,* weil Wander-AN eine Anrechnung bloß nützlicher Tätigkeiten nicht erwarten könnten. Zur besseren Arbeitsleistung befähigt nur eine einschlägige Berufserfahrung, nicht allein der Umstand, dass jemand vorher überhaupt einmal berufstätig gewesen ist. Hat die frühere Betätigung aber keinen relevanten Einfluss auf die Arbeitsqualität im nachfolgenden Arbeitsverhältnis, darf ein AN ihre Berücksichtigung auch bei einem grenzüberschreitenden AG-Wechsel nicht erwarten. Unter dem Aspekt der Eignung zur Verringerung der Attraktivität scheint das zunächst wenig folgerichtig. Dass eine Anrechnung attraktiver wäre als die Nichtanrechnung, ist hoch wahrscheinlich. Andererseits muss die grenzüberschreitende Tätigkeit vom Aufnahmestaat aber auch nicht günstiger ausgestaltet werden als eine Fortsetzung der Beschäftigung im Herkunftsland, in dem eine Anrechnung mangels Erwerb verwertbarer Kenntnisse ebenfalls unwahrscheinlich wäre; das Beschränkungsverbot enthält kein Förderungsgebot.

3.2.3.
Rechtfertigung

Werden Regelungen zur Vordienstzeitenanrechnung am Unionsrecht überprüft, verlangt die Rechtfertigung dieser Klausel sowohl ein legitimes Regelungsziel wie auch den Einsatz geeigneter, erforderlicher und angemessener Mittel zu seiner Verwirklichung. Unabhängig davon, ob eine Regelung zur Vordienstzeitenanrechnung als mittelbar diskriminierend* oder als freizügigkeitsbeschränkend eingestuft wird, kann ihre Verwendung unter denselben Voraussetzungen gerechtfertigt werden. * Zunächst muss die Differenzierung einem Ziel dienen, das als zwingender Grund des Allgemeininteresses anerkannt ist* und zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich und angemessen sein.* Das Regelungsziel muss danach einiges Gewicht besitzen, mit dem Unionsrecht vereinbar sein und im Allgemeininteresse liegen; lediglich wirtschaftliche Motive, Haushaltserwägungen oder die Vermeidung administrativer Schwierigkeiten genügen dafür nicht.* Ein Allgemeininteresse wird nur verfolgt, wenn die Ziele nicht wirtschaftlicher Art sind und keinen protektionistischen Zweck verfolgen, sondern anderen Rechtsgütern dienen.*

Die Regelungsziele müssen von den eingesetzten Mitteln in geeigneter und erforderlicher Weise467verfolgt werden. Geeignet zur Zweckerreichung sind Maßnahmen, wenn sie ihr Ziel kohärent und systematisch verwirklichen;* an mangelnder Geeignetheit scheitern Rechtfertigungsbemühungen vielfach. Das liegt auch daran, dass die Rsp die Legitimität des Regelungsziels dahinstehen lässt, sobald ein Mangel der Geeignetheit oder Kohärenz der Regelungsmittel erkennbar wird. Für die Überprüfung der Anrechnungsklausel bedeutet dies zunächst, dass es unschädlich ist, wenn die damit verfolgten Regelungsziele nicht ausdrücklich formuliert worden sind; sie können ohne Nachteil erst im Überprüfungsprozess dargelegt werden.* Welche Ziele tatsächlich verfolgt worden sind, muss sich allerdings aus den für die Umsetzung verwendeten Mitteln ableiten, sie müssen also für die Zweckerreichung spezifisch passen. Lassen sich die behaupteten Ziele mit den eingesetzten Mitteln nicht verwirklichen, begründet dies alternativ das Fehlen eines legitimen Zwecks oder die mangelnde Eignung des dafür eingesetzten Mittels. Damit ist die Ausgestaltung der Anrechnungsklausel doppelrelevant, die Rsp konzentriert sich jeweils auf das leichter nachweisbare Element.

3.2.3.1.
Regelungszweck „Arbeitnehmerschutz“

Bei der Anrechnung von Vordienstzeiten ist ein sonst häufiger genannter legitimer Regelungszweck regelmäßig nicht einschlägig, der AN-Schutz. Mit betrieblichen Vergünstigungen wird Betriebstreue nicht um der Belegschaft willen gefördert, sondern sie soll eine Personalbindung unter den Umständen fördern, in denen dies für den AG attraktiv ist.* Sie stellt also kein Instrument des AN-Schutzes dar, sondern verwirklicht rein wirtschaftliche Zielsetzungen. Selbst Beschäftigte, die lediglich Kenntnisse von betrieblichen Abläufen und Zusammenhängen erworben haben, die auf jedem Arbeitsplatz nach gewisser Einarbeitung entstehen, verursachen im Falle eines Arbeitsplatzwechsels Kosten für Personalsuche und Einarbeitung. Um diese Kosten zu vermeiden, sollen leistungsfähige Beschäftigte durch Vergünstigungen im Betrieb gehalten, also ihre Betriebstreue gefördert werden.

Dagegen können tarifliche Regelungen zur – typischerweise auch von der Beschäftigungsdauer abhängigen – Gewährung von bestimmten Vergünstigungen, wie erweitertem Kündigungsschutz oder zusätzlichen Urlaubstagen, durchaus arbeitnehmerschützenden Charakter aufweisen, wenn sie dem Gesundheitsschutz älterer oder besonders belasteter Beschäftigten dienen.* Dafür muss die Differenzierungsklausel sich jedoch auf die Förderung dieser besonderen Beschäftigtengruppen beschränken. Kommen unterschiedslos alle Beschäftigten nach einer bestimmten Beschäftigungszeit in den Genuss eines solchen Vorteils, verfolgt das jedenfalls keinen besonderen Schutzzweck.*

3.2.3.2.
Regelungszweck „Honorierung von Berufserfahrung“

Werden günstigere Arbeitsbedingungen von der Berufserfahrung abhängig gemacht, bilden sie die Gegenleistung dafür, dass Berufserfahrung typischerweise zu einer besseren Arbeitsleistung führt.* Bezweckt eine Regelung, eine erwartbar bessere Arbeitsleistung besonders zu entgelten und damit dem Betrieb zu erhalten, ist dies unionsrechtlich als legitim anerkannt.* Mit der Anrechenbarkeit einer bestimmten Dauer der Vorerfahrung wird festgelegt, in welchem zeitlichen Umfang Berufserfahrung typischerweise zu einer verbesserten Arbeitsleistung befähigt, und mit der Anrechnung bestimmter arbeitgeberfremder Vorbeschäftigungen, von welcher Art Berufserfahrung diese verbesserte Leistungsfähigkeit erwartet wird. Diese Mittel sind zur Verfolgung des angegebenen Zwecks grundsätzlich tauglich, müssen ihn dann in ihrer konkreten Ausgestaltung aber auch in sich stimmig umsetzen.

Die Differenzierungsmerkmale müssen dabei auf die „Berufserfahrung“ abgestimmt sein, müssen also alle einschlägigen, in der Diktion des EuGH: gleichwertigen, Erfahrungen berücksichtigen.* Das verlangt, gleichwertige Tätigkeiten in jedem Umfang anzurechnen, der regelmäßig zusätzlichen Erfahrungsgewinn erwarten lässt. Eine Anrechnung nicht einschlägiger, „lediglich nützlicher“ Vordienstzeiten könnte dagegen die Arbeitsleistung typischerweise nicht verbessern, wird also von dem Rechtfertigungsgrund „Berufserfahrung“ nicht gefordert. Würde eine Anrechnungsklausel insofern überschießend ausgestaltet, dass sie auch lediglich nützliche Berufserfahrung einbezieht, muss das kein Indiz gegen die Verfolgung des Regelungsziels darstellen, verfolgt dieses Ziel allerdings nicht passgenau, dürfte also jedenfalls an der Angemessenheit scheitern.

Weiter darf die Anrechenbarkeit betriebsfremder Vordienstzeiten grundsätzlich nicht von der Person der früheren Vertragspartner abhängen, soweit nicht beweisbar ist, dass eine einschlägige Berufserfahrung ausschließlich dort erworben werden kann.* Misslingt dieser Nachweis, würde eine vertragspartnerbezogene Anrechenbarkeit das legitime Ziel, bessere Arbeitsleistung besonders zu entgelten, nicht stimmig umsetzen, könnte mit diesem Ziel also auch nicht gerechtfertigt werden.* Vergleichbare Schwierigkeiten ergeben sich bei der Rechtfertigung einer zeitlich begrenzten Vordienstzeitenanrechnung. Das legitime Regelungsziel fördert sie nämlich nur, soweit die gewählte Zeitbegrenzung mit einem begrenzten Zuwachs von Berufserfahrung zeitlich kongruent ist. Angerechnet werden müssen alle Zeiten, in denen ein für eine bessere Arbeitsleistung relevanter Erfah-468rungszuwachs erwartet werden kann, und zwar für alle die Tätigkeit prägenden Aufgaben der Beschäftigten. So konnte eine zeitbegrenzte Anrechnung von Vordienstzeiten für eine Universitätsbedienstete nicht damit gerechtfertigt werden, dass in der Lehre nach Ablauf von einigen Jahren Dienstzeit kein relevanter Erfahrungszuwachs mehr stattfindet, wenn zu den Dienstaufgaben in relevantem Umfang auch Forschungstätigkeiten zählen, für die das ersichtlich nicht gilt.

3.2.3.3.
Honorierung von „Betriebstreue“

In Abgrenzung zu der Honorierung von Berufserfahrung, die bei passgenauer Ausgestaltung durchaus ein legitimes Ziel einer Anrechnungsklausel darstellen kann, ist das für den vielfach genannten Zweck der Förderung von Betriebstreue problematisch. „Betriebstreue“ kann nicht durch bloße Berufstätigkeit erwiesen werden, sondern grundsätzlich nur durch eine im selben Betrieb geleistete Dienstzeit. Belohnt wird nicht eine allgemein berufliche Kompetenz, die in der Beschäftigungszeit zwar auch erworben wurde, aber bei einer Vergünstigung zur Förderung der Betriebstreue nicht ausschlaggebend ist. Die Betriebstreue wird nur gefördert, wenn die Betroffenen den AG nicht gewechselt haben, um eine typische Steigerung der Leistungsfähigkeit durch längere Berufserfahrung geht es hier nicht. Das wird besonders deutlich, wenn Zeiten für den Erwerb von Anspruchsberechtigungen angerechnet werden, in denen keinerlei fachlich einschlägige Arbeit geleistet wurde, so dass die Laufzeit der Vertragsbeziehung das einzige Anrechnungskriterium darstellt.* Eine Klausel, die bei einem anderen AG geleistete Vordienstzeiten anrechnet, fördert weder den dauerhaften Verbleib in demselben Betrieb noch beschränkt sie die Abwanderung. Sie verfolgt das genannte Regelungsziel also möglicherweise schon nicht, jedenfalls ist sie aber zur Zweckerreichung ungeeignet. Eine Rechtfertigung gelingt unter Berufung auf die „Betriebstreue“ deswegen nicht.

Für das Regelungsziel einer Förderung der Betriebstreue ist bereits die Eigenschaft als zwingender Grund des Allgemeininteresses nicht ausdiskutiert. * Zwar hat der EuGH für Entgeltdifferenzen im Diskriminierungsrecht die Betriebszugehörigkeitsdauer so großzügig anerkannt,* dass auf jeden Nachweis verzichtet wurde, die längere Betriebszugehörigkeit führe zur besseren Arbeitsleistung bei dem konkreten AG,* sondern davon wurde typisierend (wenn auch im Einzelfall widerleglich) ausgegangen. Die Übertragbarkeit dieser Argumentation auf eine Beschränkung der Freizügigkeit wurde jedoch nicht begründet. Das Differenzierungsziel „Betriebstreue“ wird auf der Rechtfertigungsebene regelmäßig erwähnt, und aktuell auch als Allgemeininteresse zitiert,* doch hat der EuGH Entscheidungen nicht zentral auf diesen Aspekt gestützt. Ursprünglich wurde die Legitimität eines Regelungsziels „Förderung der Betriebstreue“ auch ausdrücklich dahinstehen lassen,* weil das verwendete Mittel zur Erreichung dieses Zwecks gar nicht geeignet wäre, selbst wenn ein legitimer Zweck tatsächlich verfolgt würde.*

Diese Vorgehensweise ist vielfach kritisiert worden, verfolgt aber den gewählten Ansatz konsequent. Freizügigkeitsbeschränkend wirkt die Abhängigkeit einer Vergünstigung von einer längeren Betriebszugehörigkeit in den entschiedenen Fällen in Kombination mit einer Anrechnungsklausel. Die Kombination wirkt sich auf alle Arbeitsplatzwechsler einschließlich der Wander-AN nachteilig aus. Selbst wenn die Förderung von Betriebstreue ein legitimes Regelungsziel darstellte, würde es durch die Möglichkeit einer Anrechnung von arbeitgeberfremden Vordienstzeiten nicht gefördert, sondern sogar in Frage gestellt. Ob die Förderung von Betriebstreue, die zielgerichtet gegen AN-Mobilität wirken soll, auch im Geltungsbereich von Art 45 AEUV einen zwingenden Grund des Allgemeinwohls darstellen kann, kann damit offen bleiben. Sobald Vordienstzeiten bei einem anderen AG (gegebenenfalls partiell) angerechnet werden, ist dies mit einem Interesse an Betriebstreue nicht zu begründen.

Dieses Ergebnis kann auch nicht mit dem Argument in Frage gestellt werden, dass sich Betriebszugehörigkeitsdauer und Betriebstreue nicht notwendigerweise auf einen Betrieb beziehen müssten, sondern auch einem Unternehmen, einem Konzern oder einer ganzen Gebietskörperschaft gegenüber erbracht werden könnten. Die wirtschaftlichen Interessen verbundener Unternehmen dürften zwar eng genug miteinander verwoben sein, um ein wirtschaftliches Bedürfnis nach Anerkennung von gemeinsamer Betriebstreue zu begründen. Ein wichtiges Allgemeininteresse, das zur Rechtfertigung einer Grundfreiheitsbeschränkung dienen soll, muss allerdings über ein lediglich wirtschaftliches Interesse des Betriebes hinausgehen.* In öffentlichen Einrichtungen, wie ausgedehnten Gebietskörperschaften oder verwaltungstechnischen Einheiten mit zahlreichen Standorten, ist selbst das wirtschaftliche Interesse schwierig zu begründen, da es allenfalls mittelbar aus der Steuerfinanzierung öffentlicher Körperschaften folgt.*

Je größer die Einheit wird, die als Bezugspunkt für die „Betriebs“-Zugehörigkeit dient, desto stärker wird durch eine Vordienstzeitenanrechnung nicht die Betriebstreue, sondern sogar der Austausch des Personals zwischen den beteiligten Einheiten gefördert. Wenn die Anrechnungsmöglichkeit überhaupt einen Bleibe-Anreiz entfaltet, dann nicht bezogen auf den Beschäftigungsbetrieb, sondern allenfalls dahingehend, den öffentlichen Dienst nicht zugunsten der Privatwirtschaft zu verlassen. Wenn zahlreiche öffentliche Standorte miteinander469in Konkurrenz um qualifiziertes Personal stehen,* wie etwa bei Schulen, Universitäten oder Krankenhäusern, ist die Förderung eines längeren Verbleibs im öffentlichen Dienst offensichtlich nicht geeignet zur Förderung der Betriebstreue.* Selbst wenn öffentliche Einheiten so strukturiert sind, dass das Personal standortübergreifend von einem einzigen Vertrags-AG beschäftigt wird, hat der EuGH eine standortübergreifende „Betriebstreue“ nicht als Rechtfertigung anerkannt,* denn an der Konkurrenz der verschiedenen Standorte untereinander ändert eine einheitliche Personalverwaltung nichts. Zudem bewirkt die Anrechnungsklausel eine Abschottung des heimischen Arbeitsmarktes* gegenüber wegzugswilligen Beschäftigten, wenn die Forderung nach „Betriebstreue“ zum Gesamt-AG vergleichbar wirkt wie eine Voraussetzung der dauerhaften Beschäftigung im Inland.

3.2.3.4.
Verringerung der Benachteiligungswirkung

Angesichts der dargestellten schwierigen Gemengelage ist in der Literatur ein zusätzlicher Aspekt diskutiert worden,* der sich womöglich auf die Rechtfertigung einer zeitlich beschränkten Anrechnung von arbeitgeberfremden Vordienstzeiten übertragen lässt. Die Rsp hat nämlich in einem Fall akzeptiert, dass eine für sich genommen inkohärente Ausnahmeklausel dennoch eine angemessene Umsetzung eines legitimen Regelungsziels ermöglicht, sofern sie die diskriminierende Wirkung einer Regelung im Ergebnis verringert.* Das könnte für die Vordienstzeitenanrechnung deshalb relevant sein, weil sie die Abhängigkeit einer Vergünstigung von einer langjährigen Betriebszugehörigkeit verringert, die sich typischerweise zum Nachteil von Arbeitsplatzwechslern auswirkt, und damit auch Wander-AN nachteilig betrifft. Eine begrenzte Anrechnung von arbeitgeberfremden Vordienstzeiten beeinflusst die Entscheidung zur Aufnahme einer Tätigkeit im Ausland damit jedenfalls weniger negativ als eine Nichtanrechnung.

Auch dieses Argument ist allerdings zurückhaltend zu gewichten, da hier nicht eine mangelnde Kohärenz der Anrechnungsbestimmung beanstandet wird, sondern eine mangelnde Eignung zur Zweckerreichung generell. Dass die Vordienstzeitenanrechnung ein gänzlich ungeeignetes Mittel zur Umsetzung des rechtfertigenden Zwecks darstellt, ist ein grundsätzlicher Einwand, während die vom EuGH beurteilte Ausnahme lediglich insoweit beanstandet wurde, dass sie die grundsätzlich bejahte Eignung der Regelung zur Zweckerreichung abschwächt.* Mit einer Anrechnung von Vordienstzeiten, unabhängig davon, in welchem Umfang sie die Betriebstreue noch zu berücksichtigen erlaubt, lässt sich die Betriebstreue der Beschäftigten tatsächlich nicht fördern; diesem Zweck dient allein die Anknüpfung an die Betriebszugehörigkeitsdauer, die von einer Anrechnungsklausel in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt wird. Der Gesichtspunkt einer Rechtfertigung durch bloße Abschwächung der Diskriminierungswirkung lässt sich weiterhin kaum mit dem Ansatz der Rsp vereinbaren, dass eine Beschränkung der Freizügigkeit auch dann untersagt sei, wenn sie lediglich geringfügig wirkt.*

3.2.4.
Abwägung mit der Kollektivvertragsfreiheit

Wenn die zur Überprüfung anstehende Vordienstzeitenanrechnung nicht gesetzlich, sondern per Tarifvertrag geregelt wurde, müsste allerdings das Recht der Tarifpartner zur kollektivvertraglichen Gestaltung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder, Art 28 GRC, in die Abwägung mit einbezogen werden.* Eine Abwägung zwischen Grundfreiheit und Grundrechten nimmt der EuGH allerdings nicht vor, wenn eine tariflich ausgestaltete Anrechnungsklausel zu beurteilen ist. Das deutet darauf hin, dass er die Tarifparteien bei ihrer Grundrechtsausübung an die Grundfreiheiten gebunden sieht, ihre Regelungen also nach denselben Maßstäben beurteilt wie die staatliche Gesetzgebung.

Für die primärrechtlichen Diskriminierungsverbote entspricht das der stRsp,* auch wenn dies teils kritisiert wurde.* Auch Tarifparteien besitzen keinen so weitgehenden Gestaltungsspielraum, dass sie zur Förderung der Interessen ihrer Mitglieder diskriminierende Mittel einsetzen dürfen.* Der Umstand allein, dass eine diskriminierend wirkende Regelung von Tarifparteien getroffen worden ist, ist daher nicht selbst bereits ein Rechtfertigungsgrund. * Kaum überzeugend* ist diese Argumentation allerdings für die Beurteilung von Bestimmungen, die ohne eine diskriminierende Unterscheidung zu treffen, lediglich dazu geeignet sind, die Attraktivität grenzüberschreitender Betätigung zu verringern. Die tatbestandliche Weite des Beschränkungsverbots gerät mit dem Gestaltungsspielraum der Tarifparteien bei der Regelung von Arbeitsbedingungen noch viel grundsätzlicher in Konflikt als mit dem des Gesetzgebers.* Der Staat als Gesetzgeber handelt lediglich als Grundrechtsverpflichteter, Kollektivvertragsparteien setzen dagegen Regelungen in Ausübung ihrer eigenen Grundrechte. Dürfen Kollektivverträge die Interessen der Mitglieder der Tarifparteien fördern, müssen die Akteure dafür einen relevanten Spielraum behalten; die unionsrechtliche Kontrolle kann nicht so weit reichen, dass die Tarifparteien rechtmäßige Zwecke nicht verfolgen dürfen oder zu ihrer Verwirklichung auf eine konkrete (die „bestmögliche“)470Gestaltungsoption festgelegt werden. Die Schaffung kollektiver Regelungen ist selbst Grundrechtsbetätigung, die auch gegenüber den Grundfreiheiten angemessen berücksichtigt werden muss.*

4.
Ergebnisse

Arbeitsbedingungen werden in verschiedenen Bestimmungen mit der Dauer des bereits bestehenden Arbeitsverhältnisses verknüpft. Sind Vergünstigungen der Arbeitsbedingungen von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängig, können jedoch Gründe bestehen, diese auch Personen zu gewähren, die aufgrund einer kürzeren Betriebszugehörigkeit an sich noch nicht anspruchsberechtigt wären. Eine Vordienstzeitenanrechnungsklausel für eine Vergünstigung wirkt also wie eine Begrenzung der Anspruchsvoraussetzung „Dauer der Betriebszugehörigkeit“.

Wenn eine solche Anrechnungsklausel in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, muss sie mit der Freizügigkeit aus Art 45 AEUV vereinbar sein. Betrifft eine Anrechnungsklausel nur Vordienstzeiten, die (früher einmal) beim selben AG erdient wurden, fällt sie mangels grenzüberschreitender Tätigkeit oft schon nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Andernfalls gilt dafür dasselbe wie bei der Anrechnung von Beschäftigungszeiten bei fremden AG. Da diese Zeiten auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat geleistet worden sein können, kann hier die EU-Freizügigkeitsregelung Prüfungsmaßstab werden.

Der EuGH hat Art 45 AEUV zu einem umfassenden Verbot der Diskriminierung und der Beschränkung der AN-Freizügigkeit weiterentwickelt. Die Vereinbarkeit einer Anrechnungsklausel mit der AN-Freizügigkeit ist daher dann problematisch, wenn sie die Beschäftigten entweder mittelbar wegen ihrer Staatsangehörigkeit benachteiligt, oder die Ausübung der Freizügigkeit weniger attraktiv werden lässt und damit beschränkt. In dieser vom EuGH entwickelten Auslegung greifen die Grundfreiheiten erheblich, teils sogar unverhältnismäßig, in nationale Regelungskompetenzen ein. Insb auf den grundrechtlichen Schutz für die Betätigungsfreiheit von Tarifparteien ist diese Rsp unzureichend eingegangen, der ihnen grundsätzlich zukommende Gestaltungsspielraum bei der Förderung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder hat bei der Überprüfung des legitimen Gemeinwohlbelanges bisher keine entscheidende Rolle gespielt. Damit ist eine Anrechnungsklausel, die auch für grenzüberschreitend tätige Beschäftigte („Wander-AN“) unattraktiv ist, weil sie sie von Vergünstigungen im Aufnahmestaat zeitweilig ausschließt, tatbestandlich bereits eine Beschränkung. Das gilt auch dann, wenn die Zahl der ebenso betroffenen inländischen Arbeitsplatzwechsler weit höher liegt als die Zahl der Wander-AN.

Im Extremfall könnte das dazu führen, dass unterschiedliche Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten grundsätzlich als Beschränkung der Freizügigkeit eingestuft werden, weil sie einen grenzüberschreitenden Wechsel unattraktiver werden lassen können. Das Bemühen, extreme Folgen dieser Rechtsentwicklung wieder einzuschränken, ist bislang nur punktuell erfolgreich gewesen, denn eine Erheblichkeitsschwelle hat der EuGH nicht anerkannt. Zwar sollen nur mittelbar wirkende, nicht mit hinreichender Sicherheit eintretende Nachteile für Wander-AN nicht als Beschränkung der Freizügigkeit gelten, eine rechtssichere Abgrenzung ermöglicht dies aber nicht. Daher muss sich die Praxis weiter darauf einstellen, dass Regelungen mit potentiell abschreckender nachteiliger Wirkung auf grenzüberschreitend tätige AN als Freizügigkeitsbeschränkung eingeordnet werden.

Tatbestandliche Freizügigkeitsbeschränkungen können nach demselben Maßstab wie mittelbare Diskriminierungen grundsätzlich gerechtfertigt werden. Voraussetzung ist zunächst ein legitimes Regelungsziel. Die Anrechnungsklausel muss dafür einen unionsrechtlich anerkannten sozialpolitischen Zweck verfolgen. Was mit einer Vordienstzeitenanrechnung bezweckt wird, ist also entscheidend dafür, ob die Regelung einer Kontrolle am Unionsrecht standhalten kann oder nicht. Auf das in der Rsp anerkannte Ziel des AN-Schutzes lassen sich Klauseln zur Vordienstzeitenanrechnung typischerweise nicht stützen. Sie reduzieren zwar die freizügigkeitsbeschränkenden Folgen der Voraussetzung einer langen Betriebszugehörigkeit, beseitigen sie aber nicht. Insgesamt dienen die Bedingungen für die Gewährung zusätzlicher Vorteile nicht dem AN-Schutz, sondern den Unternehmensinteressen.

Auch wenn der Regelungszweck einer Anrechnungsklausel – wie meistens – nirgendwo ausdrücklich benannt ist, wird er der Bestimmung zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit durch Auslegung entnommen. Besondere Sorgfalt bei der Formulierung ist daher unabdingbar. Als Regelungszweck wird regelmäßig die Honorierung von Berufserfahrung oder die Honorierung von Betriebstreue angeführt. Das Abstellen auf Berufserfahrung belohnt zusätzliche praktische Kompetenzen bei der Arbeitsleistung, das Abstellen auf Betriebstreue belohnt einen Verzicht auf den AG-Wechsel.

Ob die Honorierung von Betriebstreue ein legitimes Ziel darstellt oder nicht, lässt der EuGH regelmäßig dahinstehen, wenn die Regelung dieses Ziel bereits nicht verfolgt, weil sie zu seiner Erreichung gar nicht geeignet ist. Dies ist regelmäßig der Fall, denn mit einer Vordienstzeitenanrechnung lässt sich Betriebstreue praktisch nicht honorieren. Sie wird durch die Grundregel gefördert, wonach die Arbeitsbedingungen mit ansteigender Betriebszugehörigkeitsdauer vorteilhafter werden; das schafft einen Anreiz, dem Betrieb die Treue zu halten. Die Vordienstzeitenanrechnung hingegen begrenzt diese Anreizwirkung. In dem Umfang, in dem Vordienstzeiten auf die geforderte Betriebszugehörigkeit angerechnet werden, werden Arbeitsplatzwechsler von den negativen Anreizwirkungen der Anspruchsvoraussetzung „Betriebszugehörigkeit“ teilweise befreit. Die Betriebstreue wird durch eine Vordienstzeitenanrechnung also bereits nicht gefördert. Daher ist auch nicht zu erwarten, dass471Anrechnungsklauseln mit dem Argument, sie verringerten die nachteilige Wirkung der Anspruchsvoraussetzung „Betriebszugehörigkeitsdauer“, gerechtfertigt werden können. Zwar hat der EuGH ein dahingehendes Argument anerkannt, sofern eine Ausnahmebestimmung inkohärent gestaltet und deshalb unverhältnismäßig war. Bei der Vordienstzeitenanrechnung fehlt jedoch nicht erst die Kohärenz, sondern bereits die Eignung zur Verwirklichung des geltend gemachten Ziels.

Liegt der Regelungszweck in einer Honorierung von Berufserfahrung, ist eine Rechtfertigung der Anrechnung von Vordienstzeiten, die bei einem fremden AG geleistet worden sind, hingegen möglich. Die Honorierung von Berufserfahrung stellt ein anerkanntes Regelungsziel dar, weil sie im Allgemeinen zu einer verbesserten Arbeitsleistung der Beschäftigten beiträgt. Ob eine Rechtfertigung letztlich erfolgreich ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Anrechnungsklausel ab. Von der Beschäftigung bei bestimmten AG darf die Anrechnung für diesen Rechtfertigungsgrund regelmäßig nicht abhängen, denn einschlägige Berufserfahrung kann in den seltensten Fällen ausschließlich in bestimmten Betrieben erworben werden. Voraussetzung für die Vergünstigung ist eine typischerweise verbesserte Arbeitsleistung wegen einschlägiger Erfahrungen aus relevanter Berufstätigkeit. Arbeitgeberfremde Vordienstzeiten, die eine solche einschlägige Berufserfahrung vermitteln, müssen und alle anderen Zeiten der Berufstätigkeit dürfen nicht angerechnet werden.