54Entziehung von Rehabilitationsgeld – Geltendmachung eines zusätzlichen Entziehungsgrundes zulässig?
Entziehung von Rehabilitationsgeld – Geltendmachung eines zusätzlichen Entziehungsgrundes zulässig?
Der Bescheid und das Klagebegehren begrenzen den Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens.
Das sozialgerichtliche Verfahren ist kein kontrollierendes Rechtsmittelverfahren. Das Gericht hat vielmehr ein eigenes Verfahren durchzuführen und neu zu entscheiden.
Die Bekl war im konkreten Fall berechtigt, im gerichtlichen Verfahren einen zusätzlichen Entziehungsgrund geltend zu machen, den sie nicht für die Begründung des angefochtenen Bescheids herangezogen hatte.
Mit Bescheid vom 28.4.2015 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag der (1972 geborenen) Kl auf Weitergewährung der Invaliditätspension ab und sprach aus, dass vorüber gehende Invalidität vorliege und ab 1.4.2015 Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV bestehe.
Aufgrund eines [...] Vergleichs vom 17.10.2017 wurde der Kl das Rehabilitationsgeld über den 30.11.2016 hinaus weiter gewährt.
Mit Bescheid vom 12.9.2018 hat die Bekl ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 31.10.2018 entzogen werde. In der Begründung des Bescheids bezog sich die Bekl ausschließlich darauf, dass sich der Gesundheitszustand der Kl kalkülsrelevant verbessert habe, sodass ihr eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit möglich sei.
In ihrer Klage begehrt die Kl die Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes über den 31.10.2018 hinaus.
Die Bekl wiederholt ihren im Bescheid vertretenen Standpunkt. Weiters macht sie geltend, die Entziehung des Rehabilitationsgeldes sei auch deshalb gerechtfertigt, weil die Kl die ihr obliegende Mitwirkungspflicht zu Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation verletzt habe.
Das Erstgericht sprach aus, dass die Kl über den 31.10.2018 hinaus Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der KV habe. Es stellte [...] fest, dass zum Zeitpunkt der Entziehung keine Verbesserung des Gesundheitszustands oder des Leistungskalküls der Kl eingetreten ist. Die Kl war bei Abschluss des Vergleichs im Verfahren AZ 31 Cgs 170/16s [...] von einem Vertreter der Bekl darauf hingewiesen worden, dass sie sich als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation einem Rehabilitationsaufenthalt unterziehen müsse, andernfalls ein Anspruch auf Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes nicht mehr bestehe. Obwohl der Kl von der Bekl am 24.10.2017 ein Rehabilitationsaufenthalt in einem psychosomatischen Rehabilitationszentrum bewilligt worden war, trat sie diesen Aufenthalt aus nicht feststellbaren Gründen nicht an. Nach dem Ergebnis der im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten war die Kl in der Lage, die Notwendigkeit eines Rehabilitationsaufenthalts zu erkennen; durch einen derartigen Aufenthalt hätte sich ihre Arbeitsfähigkeit verbessert.
Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass der Entziehungsgrund nicht gegeben sei, weil im Vergleich zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes keine Besserung des Gesundheitszustands oder des Leistungskalküls eingetreten sei. Auf den Entziehungsgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht könne sich die Bekl nicht erfolgreich stützen, weil in ihrem Bescheid nicht über diesen Entziehungsgrund entschieden worden sei. Im Vergleich zum Verwaltungsverfahren handle es sich um einen anderen Streitgegenstand und andere rechtserzeugende Tatsachen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl Folge, änderte das Ersturteil in eine Klageabweisung ab und ließ die Revision nicht zu. Gegenstand des Verwaltungsverfahrens sei der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung. Auch im Gerichtsverfahren sei die Entziehung des Rehabilitationsgeldes Streitgegenstand, wobei sich die Bekl auf einen weiteren bzw anderen Entziehungstatbestand als im Verwaltungsverfahren stütze. Eine Unzulässigkeit des Rechtswegs läge etwa dann vor, wenn im Gerichtsverfahren der Zuspruch einer anderen Versicherungsleistung begehrt werde als im Verwaltungsverfahren; dies sei hier nicht der Fall. Da die Frage des Vorliegens einer ungerechtfertigten Weigerung der Kl, an den ihr zumutbaren medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation mitzuwirken, zulässigerweise zum Gegenstand des Gerichtsverfahrens gemacht werden habe können, könne sich die Bekl im sozialgerichtlichen Verfahren auch auf einen anderen Entziehungsgrund als im Verwaltungsverfahren stützen. Aufgrund der Ergebnisse des erstgerichtlichen Verfahrens sei der Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit zu bejahen.
Die außerordentliche Revision der Kl ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
Die Kl macht in ihrem Rechtsmittel (ausschließlich) geltend, es sei unzulässig, in Gerichtsverfahren einen anderen Entziehungsgrund als im Verwaltungsverfahren heranzuziehen, ähnlich wie ein Austausch der begehrten Leistung nicht zulässig sei. [...]
1. Nach dem im Sozialrechtsverfahren geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz kann in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG [...] das Gericht nur angerufen werden, wenn der Versicherungsträger zuvor über den Leistungsanspruch des Versicherten einen Bescheid erlassen hat (§ 67 Abs 1 Z 1 ASGG; RS0085867). Dieser Bescheid und das Klagebegehren begrenzen den Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens (vgl RS0105139 [T1]).
Im vorliegenden Fall hat die Bekl im Spruch des Bescheids vom 12.9.2018 – von Amts wegen – ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität 518 nicht mehr vorliegt und das Rehabilitationsgeld mit 31.10.2018 entzogen wird. In der Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand der Kl kalkülsrelevant gebessert habe. In der Klage begehrte die Kl die Gewährung des Rehabilitationsgeldes ab dem 1.11.2018.
2.1 Das durch die Klage der Versicherten eingeleitete gerichtliche Verfahren ist kein kontrollierendes Rechtsmittelverfahren. Das Gericht hat vielmehr ein eigenes Verfahren durchzuführen und neu zu entscheiden. Der Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist also nicht auf die Überprüfung der Richtigkeit des bekämpften Bescheids beschränkt (RS0041097, RS0085569, RS0106394). Auch wenn etwa der Sozialversicherungsträger seinen den Leistungsantrag abweisenden Bescheid nur damit begründet hat, dass der Antragsteller nicht invalid sei, kann im Verfahren vor dem Sozialgericht vom Sozialversicherungsträger eingewendet werden, dass die Wartezeit nicht erfüllt sei (RS0085600).
2.2 Demnach war die Bekl auch im vorliegenden Fall berechtigt, im gerichtlichen Verfahren einen zusätzlichen Entziehungsgrund geltend zu machen, den sie nicht für die Begründung des angefochtenen Bescheids herangezogen hatte (hier die Verletzung der Mitwirkungspflicht; vgl Atria in Sonntag, ASVG11 [2020] § 107 Rz 14).
2.3 Bereits vor Einführung des Rehabilitationsgeldes wurde in der E 10 ObS 188/04a (SSV-NF 20/13) zur Entziehung von Leistungen wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten (§ 99 Abs 1 ASVG) Stellung genommen. Kommt erst im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zur Weitergewährung der entzogenen (unbefristeten) Berufsunfähigkeitspension hervor, dass eine iSd § 99 Abs 1 ASVG relevante Änderung der Verhältnisse zwar nicht eingetreten ist, aber durch eine dem Versicherten zumutbare ärztliche Heilbehandlung herbeigeführt werden hätte können, ist die Verletzung der Mitwirkungspflicht durch Nichtabsolvierung einer Behandlung dann als ein zur Entziehung nach § 99 Abs 1 ASVG berechtigender neuer Umstand anzusehen, wenn dem Versicherten die Verweigerung der Behandlung als Verletzung der Mitwirkungspflicht vorwerfbar war (RS0120568; Schramm in SV-Komm [221. Lfg] § 99 ASVG Rz 10; Schrammel, EAnm zu 10 ObS 90/91,
3.1 Mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3) wurde für Versicherte [...] ein Rechtsanspruch auf medizinische Rehabilitation bei vorübergehender Invaliditäts-/Berufsunfähigkeit sowie die neue Leistung des Rehabilitationsgeldes aus der KV eingeführt. Voraus setzungen für den Anspruch auf Rehabilitationsgeld ist im Wesentlichen, dass vorübergehende Invalidität bzw Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliegt (§ 255b ASVG bzw § 273b ASVG) und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind. [...]
3.2 Das Rehabilitationsgeld wird so lange gewährt, als die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Die Entziehung erfolgt mit Bescheid des Pensionsversicherungsträgers (§ 143a Abs 1 ASVG).
3.3 Der Grundtatbestand des § 99 Abs 1 ASVG zur Entziehung laufender Leistungen blieb unberührt. In § 99 Abs 1a ASVG wurde aber mit dem SVAG 2015 für den Entzug des Rehabilitationsgeldes der neue Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungspflicht geschaffen. Dabei handelt es sich um einen Fall des echten Anspruchsverlusts und nicht nur um eine Sistierung der Leistungspflicht (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 421). Der Versicherte soll es nicht in der Hand haben, durch Verweigerung von Maßnahmen Rehabilitation den Weiterbezug des Rehabilitationsgeldes zu erreichen. Dies wäre mit der Zielsetzung unvereinbar, durch derartige Maßnahmen Versicherte wieder so weit zu integrieren, dass sie zumindest zur Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung in der Lage sind (10 ObS 4/16k SSV-NF 30/33 = DRdA 2017/11, 109 [Födermayr]).
4. Gegenstand des Verfahrens vor der Bekl und deren Entscheidung war der Anspruch auf Rehabilitationsgeld über den 31.10.2018 hinaus. [...]
Nur weil im Verwaltungsverfahren (in der Begründung des angefochtenen Bescheids) als Entziehungsgrund allein die Besserung des Gesundheitszustands herangezogen wurde (§ 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG) und nicht auch eine etwaige Verletzung der Mitwirkungspflicht an medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation (§ 99 Abs 1a ASVG), war im Gerichtsverfahren nicht über einen anderen Anspruch als jenen auf Rehabilitationsgeld zu entscheiden.
5. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes vorliegen, auch dann unter Bedachtnahme auch auf den erst im Gerichtsverfahren geltend gemachten Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungspflicht erfolgen müsse, wenn dieser Entziehungstatbestand nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Versicherungsträger war, hält sich im Rahmen der bisherigen Rsp (siehe 2.1; Atria in Sonntag, ASVG11 [2020] § 107 Rz 14).
6. Die Frage, ob (und allenfalls aus welchen Gründen) eine Verletzung der Mitwirkungspflicht an den medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation nicht gegeben sei bzw der Kl nicht vorwerfbar sein sollte, wird in der Revision nicht releviert.
7. Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.
Einmal mehr musste sich der OGH in diesem Verfahren wegen Entziehung des Rehabilitationsgeldes mit Rechtsfragen befassen, die sich auf der Grundlage des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2012 – SRÄG 2012 (BGBl I 2013/3) – hier in der durch das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz – SVAG (BGBl I 2015/2) – novellierten Fassung stellen. Die Begründung der E ist für die Zurückweisung 519 einer außerordentlichen Revision ausführlich. Die verfahrensrechtliche Frage nach dem Verfahrensgegenstand wird – von allen – in den Vordergrund gestellt, während Fragen des materiellen Rechts erst gar nicht gestellt werden.
Die Grundproblematik des vorliegenden Falls beginnt im Verwaltungsverfahren und zieht sich durch alle Instanzen. Wegen der Konzentration auf die verfahrensrechtliche Thematik gerät auch die Darstellung der wesentlichen Sachverhaltselemente in der OGH-E sehr kurz, was die Nachvollziehbarkeit erschwert.
Die 1972 geborene Kl bezog seit einem nicht ersichtlichen Zeitpunkt – jedenfalls bereits vor dem Jahr 2015 – eine Invaliditätspension. Nur aus der angeführten Zitierung der Begründung des Entziehungsbescheids lässt sich erkennen, dass offenbar kein erlernter Beruf vorliegt und daher die Invalidität (Zitat: „eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeit möglich sei“
) gem § 255 Abs 3 ASVG zu prüfen war. Bei der Erkrankung der Kl muss es sich (vor allem) um eine psychiatrische handeln. Mit einem Bescheid im Jahr 2015 lehnte die bekl PVA die Weitergewährung der Invaliditätspension ab und gewährte ab 1.4.2015 das Rehabilitationsgeld. Offenbar auf Grund eines (ersten?) Entziehungsbescheids und eines nachfolgenden Sozialgerichtsverfahrens wurde der Kl nach einem Vergleich das Rehabilitationsgeld über den 31.10.2016 weitergewährt. Der verfahrensgegenständliche Entziehungsbescheid stammt vom 12.9.2018 (!).
Im Bescheid wurde ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege. In der Begründung wurde (nur) angeführt, dass eine kalkülsrelevante Besserung des Gesundheitszustandes vorliege. Erst in der Klagebeantwortung wurde ein weiterer Entziehungsgrund quasi nachgereicht – die Entziehung sei auch wegen einer Verletzung der Mitwirkungspflichten gerechtfertigt. Im erstgerichtlichen Verfahren stellte sich heraus, dass keine Verbesserung des Gesundheitszustands oder des Leistungskalküls eingetreten ist. Weiters wird festgestellt, dass der Kl von der Bekl 2017 ein Rehabilitationsaufenthalt in einem psychosomatischen Rehabilitationszentrum bewilligt worden war. Eine Negativfeststellung trifft das Erstgericht dagegen, warum dieser Aufenthalt nicht absolviert wurde (arg: „trat sie (die Kl) diesen aus nicht feststellbaren Gründen nicht an.“
).
Das Erstgericht kommt zum Ergebnis, dass die Entziehung nicht zulässig sei, weil keine Besserung des Gesundheitszustands oder des Leistungskalküls eingetreten sei. Bei der Verletzung der Mitwirkungspflicht handle es sich um einen anderen Streitgegenstand. Das Berufungsgericht beurteilt diese wesentliche Frage anders: Streitgegenstand sei die Entziehung des Rehabilitationsgeldes, die Geltendmachung eines anderen oder weiteren Entziehungsgrundes durch die Bekl sei zulässig. Die Kl habe die Mitwirkungspflicht verletzt, weshalb die Entziehung zu Recht erfolgte.
Auch der Kl bzw der Klagevertreterin kann der Vorwurf der Konzentration auf das Verfahrensrecht nicht erspart werden, wenn in der außerordentlichen Revision ausschließlich vorgebracht wird, dass die Geltendmachung eines neuen Entziehungsgrundes im Sozialgerichtsverfahren unzulässig sei. Dies ermöglicht dem OGH die abschließende Feststellung, dass die Verletzung der Mitwirkungspflicht bzw deren Vorwerfbarkeit nicht releviert wurden. Diese Fragestellung ist aber entscheidungswesentlich, wenn man in einem ersten Schritt überhaupt die Ergänzung bzw den Austausch der Entziehungsgründe als zulässig erachtet. Wobei der Kl bzw ihrer Vertretung zugute zu halten ist, dass in erster Instanz ein für sie positives Urteil vorlag. Erst über Berufung der Bekl (Anm: Im OGH-Urteil irrtümlich Berufung der „Klägerin“) wurde der Austausch der Entziehungsgründe doch für zulässig erachtet und vom Berufungsgericht sehr lapidar die Verletzung der Mitwirkungspflicht bejaht und die Klage daher abgewiesen. Dem kann nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Gem § 67 Abs 1 Z 1 ASGG ist eine Klage in Leistungssachen nur zulässig, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. Der Verfahrensgegenstand im sozialgerichtlichen Verfahren wird dreifach eingegrenzt: durch den vom Versicherten gestellten Antrag, durch den Inhalt des darüber ergangenen Bescheids und durch das Klagebegehren (vgl Neumayr, Zum Klagebegehren und Urteilsspruch im sozialgerichtlichen Verfahren über Bescheidklagen, ÖJZ 2009, 113). In einem Entziehungsfall wie dem vorliegenden gibt es keinen „Antrag“, über den zu entscheiden ist. Die „Hybridform“ des Rehabilitationsgeldes erfordert ein Tätigwerden zweier Versicherungsträger: Das weitere Vorliegen der vorübergehenden Invalidität ist bei Bedarf, jedenfalls aber nach Ablauf eines Jahres, vom Krankenversicherungsträger im Weg der Inanspruchnahme des Kompetenzzentrums Begutachtung der PVA zu überprüfen. Die Entziehung nimmt dann die PVA mit Bescheid vor (§ 143 Abs 1 ASVG). Mit dem hier geklagten Bescheid der PVA wurde das Rehabilitationsgeld entzogen. Leistungen sind zu entziehen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen auf eine laufende Leistung nicht mehr vorhanden sind (§ 99 Abs 1 ASVG). Die Leistung kann nach Abs 1 nur entzogen werden, wenn sich die Verhältnisse seit der Gewährung wesentlich geändert haben. Die Änderung kann im 520 Fall einer Pension aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Pensionsberechtigten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen (ua RS0083884). Die Prüfung der wesentlichen Änderung des Gesundheitszustands und der Arbeitsfähigkeit sind auch bei der Entziehung des Rehabilitationsgeldes entscheidungswesentlich. Die Behörde ist verpflichtet, in der Begründung des Bescheides in eindeutiger, einer nachprüfenden Kontrolle zugänglichen Weise aufzuzeigen, von welcher konkreten Sachverhaltsannahme sie bei ihrem Bescheid ausgegangen ist und worauf sich die getroffenen Tatsachenfeststellungen im Einzelnen stützen (VwGH 16.11.2005, 2003/08/0116 RS2). Auch wenn es sich beim sozialgerichtlichen Verfahren nicht um ein nachprüfendes Verfahren handelt, sondern das Gericht ein eigenes Verfahren durchzuführen hat, kann das an den Erfordernissen eines Bescheids nichts ändern.
Das dargestellte Erfordernis der Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage („darüber“ mit Bescheid entschieden hat in § 67 Abs 1 Z 1 ASGG) bewirkt in Fällen, in denen die Klage zulässig ist, eine Eingrenzung des möglichen Streitgegenstands: Dieser kann grundsätzlich nur Ansprüche umfassen, über die der Sozialversicherungsträger bescheidmäßig abgesprochen hat. Es kann nicht ohne Bedeutung sein, ob eine Besserung des Gesundheitszustands eingetreten ist und somit eine (ursprünglich vorhandene) Anspruchsvoraussetzung weggefallen ist (§ 99 Abs 1 ASVG) oder ob der gesondert normierte Entziehungsgrund der Verletzung von Mitwirkungspflichten während des Bezugs des Rehabilitationsgeldes eingetreten ist (§ 99 Abs 1a ASVG).
Der OGH (siehe Pkt 3.3.) führt aus, dass der Grundtatbestand des § 99 Abs 1 ASVG auch nach dem SVAG unberührt blieb. In § 99 Abs 1a ASVG sei mit dem SVAG der neue Entziehungstatbestand der Verletzung der Mitwirkungspflicht geschaffen worden; dabei handle es sich um einen Fall des echten Anspruchsverlusts. Tatsächlich wurde allerdings mit dem SVAG (BGBl I 2015/2) nur aus systematischen Gründen die schon vorher in § 143a Abs 4 ASVG geregelte Entziehung bei Verweigerung der Mitwirkung an zumutbaren medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen ohne inhaltliche Änderung in den allgemeinen Entziehungstatbestand transferiert (vgl ErläutRV 321 BlgNR 25. GP 14). Neu geschaffen wurde dagegen § 143a Abs 5 ASVG, wonach die Krankenversicherungsträger die Möglichkeit erhielten, wiederholte Verletzungen der Mitwirkungsverpflichtungen der zu rehabilitierenden Person im Rahmen des Case Managements durch ein Ruhendstellen des Rehabilitationsgeldes zu sanktionieren (vgl aaO 16). Geringfügige Verletzungen der Mitwirkungspflicht sollen nicht sofort zu einer Entziehung führen, auch die Ruhendstellung erfolgt mit Bescheid – allerdings des Krankenversicherungsträgers. Sogar in diesem „gelinderen“ Fall des Ruhens des Rehabilitationsgeldes statt der Entziehung ist die versicherte Person vorher schriftlich auf die Folgen ihres Verhaltens hinzuweisen (§ 143a Abs 5 letzter Satz ASVG). Das zeigt, dass dem Gesetzgeber die Rechtsfolge eines Leistungsverlusts bei Fehlverhalten und die Problematik von Versorgungslücken für die Versicherten bewusst ist und diese Konsequenz nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen eintreten soll. Auf diese Problematik wird unter Pkt 3.2. noch einzugehen sein.
Eine Leistungsklage darf im Vergleich zum vorangegangenen Antrag die rechtserzeugenden Tatsachen nicht austauschen. Derselbe Streitgegenstand liegt nur dann vor, wenn sowohl der Entscheidungsantrag (Sachantrag) als auch die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen ident sind. Ein Austausch der rechtserzeugenden Tatsachen im sozialgerichtlichen Entziehungsverfahren durch die Bekl kommt meiner Ansicht nach daher ebenfalls nicht in Betracht. Dabei kann es keinen Unterschied machen, was die PVA in ihren – nicht immer sehr sorgfältigen – Bescheiden in den Spruch und was in die Begründung aufnimmt. Die Bescheidmuster der PVA für Fälle der Entziehung des Rehabilitationsgeldes enthalten im Spruch vier idente Sätze: Vorübergehende Invalidität liegt nicht mehr vor. Das Rehabilitationsgeld wird daher mit (Datum) entzogen. Medizinische Maßnahmen der Rehabilitation sind nicht mehr zweckmäßig. Es besteht kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.
Nach Anführung der Rechtsgrundlagen steht als erster Satz der Begründung dann – in einem Fall wie dem vorliegenden: Die Wiederbegutachtung hat ergeben, dass sich ihr Gesundheitszustand kalkülsrelevant soweit gebessert hat, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliegt. Wiederholend wird ausgeführt, dass der Anspruch auf Rehabilitationsgeld endet. Im „gegenteiligen“ Fall lautet die Begründung: Die Wiederbegutachtung hat ergeben, dass Invalidität voraussichtlich dauerhaft vorliegt. In einem weiteren Begründungssatz wird angeführt, dass Anspruch auf Invaliditätspension besteht. Der OGH hat zu dieser Fallkonstellation des Eintritts der dauernden Invalidität entschieden (ua OGH 13.9.2016, 10 ObS 116/16f; OGH 22.1.2019, 10 ObS 125/18g), dass der Entziehungstatbestand iSd § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG vom Tatbestand gem § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG strikt zu trennen ist und daher erst nach Abschluss des Entziehungsverfahrens die Invaliditätspension nach § 361 Abs 5 iVm § 86 Abs 6 ASVG ohne Antragsstellung anfällt.
Sorgfältige Bescheide mit einer korrekten Trennung zwischen Spruch und Begründung und eine daraufhin auch im Sozialgerichtsverfahren mögliche Eingrenzung des Streitgegenstands sind iSd Rechtssicherheit erforderlich. Der OGH verweist zur Zulässigkeit der Anführung eines weiteren Entziehungsgrundes auf Atria in Sonntag (ASVG11 [2020] § 107 Rz 14). Rückforderungstatbestände des § 107 ASVG sind meiner Ansicht nach nicht gleichzusetzen mit der Entziehung von Leistungen. Der zweite Halbsatz von Atria, wonach das Gericht andere als die vom Versicherungsträger vorgebrachten Tatbestände nicht zu untersuchen braucht (RS0086067), wird noch dazu weggelassen. 521
Selbst wenn man die Geltendmachung weiterer Entziehungstatbestände für zulässig erachtet, bleiben wesentliche Fragen unbehandelt. Die Entziehung des Rehabilitationsgeldes wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht ist nur zulässig, wenn die Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation zumutbar sind und wenn die anspruchsberechtigte Person auf die Rechtsfolge einer Verweigerung der Mitwirkung hingewiesen wurde (§ 99 Abs 1a ASVG). Im vorliegenden Fall bleibt beides offen. Die Mitwirkungspflichten im Sozialversicherungsrecht wurden ursprünglich von der Judikatur entwickelt und aus einer Analogie zur Schadensminderungspflicht des § 1304 ABGB abgeleitet (kritisch dazu R. Müller, Richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der SV, DRdA 1995, 475 ff). Im Bereich der Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit hat sich eine umfangreiche Judikatur im Hinblick auf die Zumutbarkeit von Maßnahmen der Krankenbehandlung zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit entwickelt (RS0113827 mwN). Die Beurteilung der Zumutbarkeit von Maßnahmen richtet sich beim Rehabilitationsgeld nach den im Krankenversicherungsrecht entwickelten und auch im Pensionsversicherungsrecht angewandten Grundsätzen (Schramm in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 99 ASVG [Stand 1.11.2018]; Marhold-Weimer, Umfang der Mitwirkungspflicht bei der medizinischen Rehabilitation [ASoK 2017] 157). Ob eine ärztliche Behandlung zumutbar ist, ist nicht generell, sondern individuell für den/die Betroffene/n zu entscheiden (vgl ua OGH 7.3.2006, 10 ObS 188/04a). Entscheidend ist, ob mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass sich die herabgesunkene Arbeitsfähigkeit soweit bessert, dass Invalidität nicht mehr vorliegt. Hierfür bedarf es eindeutiger Feststellungen. Die Beweislast für eine Verletzung der Mitwirkungspflicht und die Besserung des Gesundheitszustandes im Fall der Mitwirkung trifft beim Rehabilitationsgeld ebenso wie bei den Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit den Versicherungsträger (Sonntag, Medizinische Rehabilitation im sozialgerichtlichen Verfahren [DRdA 2017] 181).
Die erstgerichtlichen Feststellungen beschränken sich im vorliegenden Verfahren darauf, dass die Kl im Vorverfahren auf ihre Mitwirkungspflicht hingewiesen worden sei, dass ihr die PVA einen Rehabilitationsaufenthalt in einem „psychosomatischen“ Rehabilitationszentrum bewilligt habe und sie den Aufenthalt aus nicht feststellbaren Gründen nicht absolviert habe. Damit bleibt unklar, um welche Maßnahmen es sich genau gehandelt hätte, ob und in welchem Zeitraum eine Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit zu erwarten gewesen wäre und ob der Nicht-Antritt der Kl überhaupt vorwerfbar war (Gab es etwa Betreuungspflichten von nahen Angehörigen?). Zu sanktionieren ist jedoch nur eine schuldhafte (zumindest leicht fahrlässige) Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit (OGH10 ObS 50/17a SSV-NF 31/30). Bei der Prüfung der Vorwerfbarkeit im Einzelfall sind objektive Zumutbarkeitskriterien (mit einer Maßnahme verbundene Gefahren, die Erfolgsaussichten, die Folgen unter Berücksichtigung erforderlicher Nach- und Folgebehandlungen und damit verbundene Schmerzen und Beeinträchtigungen), aber genauso subjektive Kriterien (wie körperliche und seelische Eigenschaften, familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse) zu beachten. Eine Mitwirkungsobliegenheit besteht insb dann nicht, wenn die Erfüllung der Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann (zuletzt sehr ausführlich OGH 22.6.2021, 10 ObS 21/21t). Auch der Zeitpunkt der Verletzung der Mitwirkungspflicht ist entscheidend. In der vom OGH zitierten E zur Verletzung der Mitwirkungspflicht nach der Rechtslage vor dem SRÄG 2012 (OGH 7.3.2006, 10 ObS 188/04a) wurde festgehalten, dass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht ausreicht, sondern sich das notwendige Verlangen des Versicherungsträgers auf die Zukunft zu beziehen hat, weshalb die Pension dort auch weiter zu gewähren war. Abschließend wäre im vorliegenden Fall daher zumindest eine Aufhebung und Zurückverweisung an das Erstgericht erforderlich gewesen, um die entsprechenden Feststellungen zu treffen bzw zu ergänzen, um die Vorwerfbarkeit einer Verletzung der Mitwirkungspflicht beurteilen zu können.
Die Frage, ob ein Anspruch auf eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit oder Rehabilitationsgeld besteht, ist für Versicherte von existenzieller Bedeutung. Die Prüfung und Entscheidung dieser Ansprüche ist seit dem SRÄG 2012 nicht einfacher geworden. Verfahrensrecht und materielles Recht sind stark verwoben und müssen in jedem Einzelfall „aufgeknüpft“ werden. Von besonderer Bedeutung sind ein sorgfältiges Verwaltungsverfahren mit gründlichen ärztlichen Untersuchungen und eine nachvollziehbare Begründung von Bescheiden. Auch an die im Rahmen der sukzessiven Kompetenz von den Sozialgerichten zu fällenden Entscheidungen sind dieselben Anforderungen zu stellen. 522