Povedano PeramatoStreikrecht und Arbeitsvölkerrecht. Zur Wirkungsweise völkervertragsrechtlicher Vorgaben auf die nationale Rechtsordnung am Beispiel zulässiger Streikziele

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2020, 492 Seiten, gebunden, € 119,90

SIMONBURGER (SALZBURG)

Die vorliegende Monografie wurde 2019 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Judikatur und Literatur sind auf dem Stand des 31.1.2020. Die Untersuchung widmet sich dem Einfluss des Arbeitsvölkerrechts auf das deutsche Arbeitsrecht. Gemäß dem Untertitel stehen die zulässigen Streikziele im Fokus. Die Arbeit fügt sich in einen breiteren Wissenschaftsdiskurs ein (vgl Brameshuber in DRdA 4/2018), kann sich im Ergebnis aber von anderen Untersuchungen abgrenzen (auch von Gooren, Der Tarifbezug des Arbeitskampfes [2014]).

Zuerst beleuchtet Alberto Povedano Peramato Problemfelder, die sich in der Interaktion des Verfassungsrechts mit dem (Arbeits-)Völkerrecht auftun. Die Darstellung ist auch einem im deutschen Verfassungsrecht nicht sattelfesten Leser wie dem Rezensenten bestens zugänglich.

Ausgangspunkt ist die Tarifautonomie des Art 9 Abs 3 des deutschen Grundgesetzes (GG), die ein akzessorisches Streikrecht mitumfasst. Die Akzessorietät beschränkt das Streikrecht etwa im Hinblick auf die zulässigen Streikziele. Zur Realisierung weiterreichender arbeitsvölkerrechtlicher (rechtshierarchisch untergeordneter) Vorgaben bespricht Povedano Peramato die „Relativierung“ des lex-superior-Grundsatzes, insb aber die „völkerrechtsfreundliche Auslegung“ (S 67 ff). Die Erläuterungen zu Zweiterem bereiten den Boden für die am Ende gezogenen Schlussfolgerungen zum arbeitsvölkerrechtlichen Einfluss auf das deutsche Recht.

Anschaulich und rechtsvergleichend von großem Wert ist die darauffolgende Darstellung der deutschen Rechtslage betreffend zulässige Streikziele (S 96 ff).

Das Schwergewicht der Monografie bilden sodann die Vorgaben des Arbeitsvölkerrechts über die Zulässigkeit von Streikzielen (3. Teil, S 132-390). Povedano Peramato untersucht das ILO-Übereinkommen Nr 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, Art 6 der Europäischen Sozialcharta (ESC) und Art 11 EMRK.

Von der Untersuchung ausgenommen (S 132, FN 1) sind die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sowie der UN-Sozialpakt und der UN-Zivilpakt. Betreffend die AEMR ist diese Einschränkung schon deshalb konsequent, weil es sich bei diesem Instrument ohnedies um keinen völkerrechtlichen Vertrag handelt – es sei hier an den Untertitel der Monografie erinnert.

Hinsichtlich des Ausschlusses der beiden UN-Menschenrechtspakte werden sich die Geister möglicherweise scheiden: Dass dem UN-Zivilpakt„nach weit überwiegender Auffassung schon kein Streikrecht zu entnehmen“ sei (S 132, FN 1), ist fraglich, zumal sich gerade die vom Verfasser zitierten Quellen entweder für ein Streikrecht nach Art 22 UN-Zivilpakt aussprechen (Mett, Das Streikrecht im öffentlichen Dienst [2017] 76 ff) oder zumindest keine so klare Dominanz einer Auffassung erkennen lassen (Gooren, Der Tarifbezug des Arbeitskampfes 158 ff, der selbst ein Streikrecht aus Art 22 im Ergebnis ablehnt, aber zugleich auf einige Befürworter verweist, dort FN 661).

Im Hinblick auf den UN-Sozialpakt gewährt Art 8 Abs 1 lit d das Streikrecht ausdrücklich (nur), „soweit es in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung ausgeübt wird“. Wenn der Verfasser daraus einen einfachen Gesetzesvorbehalt ableitet, befindet er sich zwar in bester Gesellschaft (vgl die Nachweise bei Reinbach, Das gewerkschaftliche Streikmonopol [2018] 123 f), unbestritten ist diese Auslegung freilich nicht (Saul/Kinley/Mowbray, The International Covenant on 530 Economic, Social and Cultural Rights. Commentary, Cases, and Materials [2014] 578 ff; Frey, Conflict over Conflict: The Right to Strike in International Law, Global Labour Journal 2017, 17 [20 f]). Zudem wird im späteren Verlauf der Arbeit die dynamisch-evolutive Auslegung der EMRK als living instrument thematisiert (S 253 ff), was einen reizvollen Anlass geboten hätte, Art 8 Abs 1 lit d des UN-Sozialpaktes in die Untersuchung einzubeziehen, um zu prüfen, ob nicht auch ihm interpretativ „mehr Leben“ eingehaucht werden könnte.

Povedano Peramato zeigt auf, dass aus Sicht der ILO-Kontrollorgane das Übereinkommen Nr 87 der Verteidigung aller wirtschaftlichen und sozialen Interessen der AN dient und auch nicht-tarifvertragsbezogene Streikmaßnahmen schützt (S 154 ff). Weil den ILO-Kontrollorganen aber die Befugnis zur verbindlichen Auslegung fehle, stuft er ihre Auslegung als völkerrechtlich unverbindlich ein. Die daraufhin vom Verfasser vorgenommene Auslegung (S 171 ff) ergibt, dass gute Gründe für eine grundsätzliche Gewährleistung des Streikrechts sprechen, dass sich aber keine konkrete Reichweite dieses Rechts entnehmen lässt.

Sodann stellt Povedano Peramato die Auslegung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte dar, der aus Art 6 Abs 4 ESC weitreichende Streikrechte ableitet (S 180 ff). Der Verfasser bewertet diese Auslegung wiederum wegen der fehlenden autoritativen Auslegungsbefugnis des Ausschusses als völkerrechtlich unverbindlich. Der eigenen Auslegung des Verfassers (S 206 f) zufolge schützt die ESC auch nicht-tarifvertragsbezogene Kampfmaßnahmen. Der aus der strengen Tarifvertragsbezogenheit in Deutschland resultierende Eingriff ist zudem nicht nach Art 31 Abs 1 ESC gerechtfertigt (S 241).

Povedano Peramato gelangt beim ILO-Übereinkommen und der ESC zu nachvollziehbaren Auslegungsergebnissen und begründet ausführlich, weshalb den ILO- und ESC-Organen keine verbindliche Auslegungsbefugnis zukommt. Nicht angesprochen wird, ob die Diallo-Rsp des Internationalen Gerichtshofs eine stärkere Ausrichtung an der Auslegungspraxis der ILOund ESC-Kontrollorgane erfordert hätte: Nach dieser Rsp ist bei der Auslegung von Abkommen der Auslegungspraxis allfälliger Kontrollorgane „great weight“ beizumessen – im Interesse der einheitlichen Auslegung des Völkerrechts (IGH 30.11.2010, Ahmadou Sadio Diallo, Rz 66 f).

Es folgt eine ausführliche Darstellung der EGMR-Rsp zur Einbeziehung von Streikmaßnahmen in den Schutzbereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gem Art 11 EMRK (S 277 ff). Der Verfasser kommt nach einer umfassenden Untersuchung (S 318-387) zum Ergebnis, dass innerstaatliche Einschränkungen des Streikrechts regelmäßig vom margin of appreciation der Staaten gedeckt sind. Im Hinblick auf die Tarifvertragsbezogenheit ortet der Verfasser aber einen Konventionsverstoß durch die Bundesrepublik.

Povedano Peramato gelingt es, an der komplexen Schnittstelle zwischen nationalem Arbeits- und Arbeitsvölkerrecht wertvolle Erkenntnisse herauszuarbeiten. Der „völkerrechtsfreundlich ausgelegte“ Art 9 Abs 3 GG dehnt die Möglichkeiten des Arbeitskampfes im Hinblick auf die zulässigen Regelungstypen und Ziele aus. Aufgezeigt wird, dass dies nicht den Entfall bestehender Grundsätze des Arbeitskampfrechts (Paritätsprinzip, Verhältnismäßigkeit) nach sich ziehen muss, wohl aber zu einer Überprüfung bzw Neugewichtung zwingt. Povedano Peramato legt eine fundierte Untersuchung vor, die – über die deutsche Rechtsordnung hinaus – zu empfehlen ist.