HeilDas kollektive Arbeitsrecht vor dem Europäischen Komitee Sozialer Rechte

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2020, 340 Seiten, broschiert, € 89,90

DIANANIKSOVA (SALZBURG)

Das Europäische Komitee Sozialer Rechte (EKSR) ist mit der Überwachung der Einhaltung der Rechte aus der Europäischen Sozialcharta (ESC) und ihrer überarbeiteten Version, der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC), betraut. In dieser Funktion hat sich das EKSR in zahlreichen Stellungnahmen mit der ESC und RESC befasst und einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung der Inhalte der ESC und RESC geleistet. Da die Stellungnahmen des EKSR jedoch in der Arbeitsrechtswissenschaft bislang nur wenig Beachtung gefunden haben, setzt sich Dorothea Heil im vorliegenden Buch, bei dem es sich um ihre im Sommersemester 2019 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg approbierte Dissertation handelt, zum Ziel, den Schutz des kollektiven Arbeitsrechts durch die ESC und RESC umfassend darzustellen und sämtliche Stellungnahmen des EKSR zum kollektiven Arbeitsrecht zu analysieren und auszuwerten.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Untersuchung in drei Teile gegliedert. In § 1 (S 33-55) werden zunächst die relevanten Vorschriften der RESC zum kollektiven Arbeitsrecht dargestellt, nämlich das Vereinigungsrecht (Art 5 RESC) und das Recht auf Kollektivverhandlungen (Art 6 RESC), das die Förderung gemeinsamer Beratungen zwischen AG und AN (Art 6 § 1 RESC), die Förderung freiwilliger Verhandlungen von Gesamtarbeitsverträgen (Art 6 § 2 RESC), die Förderung von Vermittlungs- und Schlichtungsverfahren (Art 6 § 3 RESC) und das Recht auf Kollektivmaßnahmen (Art 6 § 4 RESC) umfasst. Überdies geht die Autorin auch auf ergänzende Vorschriften näher ein, nämlich die Gleichbehandlung von Wander-AN bei Gewerkschaftsrechten (Art 19 § 4b RESC), das Recht auf Unterrichtung und Anhörung (Art 21 RESC), das Recht auf Beteiligung an der Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen (Art 22 RESC), das Recht der AN-Vertreter auf Schutz im Betrieb und Erleichterungen, die ihnen zu gewähren sind (Art 28 RESC) und das Recht auf Unterrichtung und Anhörung bei Massenentlassungen (Art 29 RESC). In § 2 (S 56-210) erfolgt eine ausführliche Analyse dieser Vorschriften und der dazu ergangenen Stellungnahmen des EKSR. In § 3 (S 211-309) unterzieht Heil die Stellungnahmen des EKSR schließlich einer kritischen Analyse, untersucht das methodische Vorgehen des EKSR und zeigt zahlreiche Widersprüche und Unregelmäßigkeiten in der Spruchpraxis des EKSR auf, um daraus für die Zukunft Prognosen abzuleiten. Eine thesenartige Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse in zwölf Thesen rundet das Buch ab (S 310-311).

Der Autorin ist es im vorliegenden Werk hervorragend gelungen, die Stellungnahmen des EKSR zum kollektiven Arbeitsrecht grundlegend und systematisch aufzuarbeiten. Das Buch ist sehr gut aufbereitet und äußerst verständlich geschrieben. Es bietet einen ausgezeichneten Überblick über die Spruchpraxis des EKSR zum kollektiven Arbeitsrecht und zeichnet sich durch besondere Übersichtlichkeit, Systematisierung und profunde Analyse der Stellungnahmen des EKSR aus. Besonders lesenswert sind die Ausführungen der Autorin in § 3, in denen sie die Spruchpraxis im Hinblick auf Präzisierung, Widerspruchsfreiheit, Nachvollziehbarkeit, methodisches Vorgehen und Argumentationsqualität analysiert. Heil zeigt dabei zahlreiche Widersprüche in den Stellungnahmen des EKSR auf, die die Rechtssicherheit für die Staaten beeinträchtigen, etwa bei den zulässigen Mindestmitgliederzahlen für die Gründung einer 534 Gewerkschaft oder im Streikrecht. Überdies untersucht die Autorin, welche Auslegungsmethoden und -maßstäbe das EKSR zur Begründung seiner Auslegungsergebnisse anwendet. Im Hinblick auf die grammatische Auslegung konstatiert Heil überzeugend, dass die Begriffe der RESC autonom auszulegen sind. Nur die englische und französische Fassung der RESC sind gleichermaßen verbindlich; nicht dagegen die Übersetzungen in andere Sprachen. Sie kritisiert jedoch, dass sich das EKSR bislang nur ein einziges Mal auf beide verbindliche Sprachfassungen bezogen hat, sich an keiner Stelle mit möglichen unterschiedlichen Deutungsinhalten eines Begriffs auseinandergesetzt und sich überdies immer wieder ohne nähere Begründung über den Wortlaut der RESC hinweggesetzt hat (S 241 ff, 284 f). Heil kommt daher treffend zum Ergebnis, dass die grammatische Interpretation durch das EKSR nicht immer überzeugt. Ebenso misst das EKSR der historischen Auslegung keine große Bedeutung bei; auch die Orientierung am Unionsrecht hat lediglich eine untergeordnete Rolle, wohingegen die EMRK wiederum mehr Beachtung findet (S 282 f). Eine gewisse Präferenz scheint das EKSR für die teleologische Auslegung zu haben, die auch die Berücksichtigung des status quo von Recht und Gesellschaft ermöglicht, sodass die Vorschriften den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden können (S 244 ff). Heil betont jedoch im Ergebnis, dass insgesamt keine der klassischen Auslegungsmethoden als vorherrschend bezeichnet werden kann und eine Prognose für zukünftige Stellungnahmen nicht möglich ist (S 304 ff).

Der beeindruckende Befund von Heil im Hinblick auf die Auslegungsmethoden und -maßstäbe des EKSR lässt sich am Beispiel des persönlichen Anwendungsbereichs der RESC bestätigen. So bezieht das EKSR auch Selbständige in Art 5 und 6 RESC ein, obgleich sie nach der verbindlichen englischen und französischen Fassung nur den „worker“ und „travailleur“ erfassen, nicht jedoch den „self-employed“ oder „travailleur indépendant“ (S 285). Damit setzt sich das EKSR über den Wortlaut des RESC hinweg, ohne sich mit der Bedeutung der Begriffe „worker“ und „travailleur“ näher auseinanderzusetzen. In der Beschwerde Nr 123/2016 (Irish Congress of Trade Unions [ICTU]/Ireland) hat das EKSR aber primär mit teleologischen Argumenten begründet, dass „self-employed workers“ aufgrund der tatsächlichen Veränderungen der Arbeitswelt nicht kategorisch von Kollektivverhandlungen ausgeschlossen werden dürfen und unter bestimmten Voraussetzungen in den persönlichen Anwendungsbereich des Art 6 § 2 RESC einzubeziehen sind (Beschwerde Nr 123/2016 Rn 35 ff). Diese E des EKRS hat in Österreich vor allem deshalb große Bedeutung erlangt, weil im österreichischen Recht vor dem Hintergrund der Veränderungen der Arbeitswelt aufgrund der Digitalisierung aktuell intensiv die Frage diskutiert wird, ob das Kollektivvertragsrecht auch für arbeitnehmerähnliche Personen geöffnet werden darf oder ob das mit Art 101 AEUV in Widerspruch steht. Das EKSR betont, dass eine nationale Regelung, nach der Kollektivverträge für wirtschaftlich abhängige Arbeitnehmerähnliche nicht abgeschlossen werden dürfen, nicht erforderlich ist, um den ungestörten Wettbewerb zu schützen (Beschwerde Nr 123/2016 Rn 95 ff). Für die im österreichischen Recht diskutierte Frage der kollektiven Rechtssetzung für arbeitnehmerähnliche Personen könnte die E des EKSR daher in Zukunft eine große Rolle spielen (Brameshuber in FS Marhold [2020] 442 f).

Allein dieses aktuelle Problem zeigt, wie bedeutend die Auseinandersetzung mit der Spruchpraxis des EKSR im kollektiven Arbeitsrecht ist. Es ist daher höchst erfreulich, dass nunmehr ein herausragendes Buch vorliegt, das die Stellungnahmen des EKSR im kollektiven Arbeitsrecht vollständig, systematisch und durchgehend auf hohem wissenschaftlichen Niveau analysiert. Das Werk von Heil sollte aus diesem Grund in keiner arbeitsrechtlichen Bibliothek fehlen und ist allen ArbeitsrechtlerInnen mit Nachdruck zu empfehlen.