Melzer-AzodanlooMindestlohntarif – Behördliche Entgeltfestsetzung im Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und AN-Schutz
Verlag des ÖGB, Wien 2020, 544 Seiten, broschiert, € 69,–
Melzer-AzodanlooMindestlohntarif – Behördliche Entgeltfestsetzung im Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und AN-Schutz
Die Regelung von zwingenden Mindestentgelten ist in Österreich traditionell Aufgabe der Sozialpartner im Rahmen von Kollektivverträgen. Staatliche Intervention gilt politisch meist als unerwünscht. Angesichts des im Ergebnis flächendeckenden Zusammenspiels von gesetzlichen Interessenvertretungen, die auf AG-Seite die meisten Kollektivverträge abschließen, und den Regeln über die Kollektivvertragsangehörigkeit in § 8 bzw die Außenseiterwirkung in § 10 ArbVG wird sie in der Regel auch als nicht erforderlich angesehen. Daher führt das Instrument des Mindestlohntarifs (MLT) ein ziemliches Schattendasein, wie die Einleitung des anzuzeigenden Werkes gleich zu Beginn treffend betont (7).
Dabei handelt es sich um die aktualisierte Fassung der Habilitationsschrift von Nora Melzer, auf deren Grundlage ihr 2015 an der Karl-Franzens-Universität Graz die Lehrbefugnis für Arbeitsrecht und Sozialrecht verliehen wurde. Auch wenn sich seither, wie die Autorin im Vorwort einräumt, Vieles geändert hat (5), ist es doch überaus erfreulich, dass diese monografische Aufarbeitung eines zunächst exotisch wirkenden Themas einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Das rechtfertigt auch eine genauere Betrachtung, soweit das im Rahmen einer Rezension überhaupt möglich ist.
Beim MLT handelt es sich (wie man fast nicht zu schreiben wagt: bekanntlich) um eine behördliche Festsetzung von Mindestentgelten durch Verordnung des Bundeseinigungsamtes (BEA), wenn es keinen KollV (und auch keine Satzung) gibt, weil auf AG-Seite keine kollektivvertragsfähige Körperschaft besteht. Dieses somit subsidiärste Mittel der überbetrieblichen kollektiven Rechtsgestaltung ist im ArbVG, konkret in dessen §§ 22 ff, verortet. Dazu kommen sondergesetzliche Regelungen für HausbesorgerInnen sowie HausgehilfInnen und Hausangestellte, die durchaus ausführlich behandelt werden (72 ff).
Im Mittelpunkt steht freilich das ArbVG. Folgerichtig wird daher im ersten Abschnitt der Arbeit zunächst dessen Anwendungsbereich (37 ff) und der mögliche Regelungsgegenstand des MLT abgesteckt. Das erfordert 535 eine Klärung der Begriffe „Entgelt“ und „Auslagenersatz“ und die Erörterung der Frage, ob auch „andere Arbeitsbedingungen“ durch MLT verordnet werden können (59 ff). Soweit sich diese unmittelbar auf das Entgelt auswirken, wie die Festlegung, auf welche Arbeitszeit das betreffende Mindestentgelt zu beziehen ist, oder welche Verwendungsgruppen bzw Entgeltfindungssysteme zu Grunde zu legen sind, werden solche Regelungen zu Recht als von der gesetzlichen Ermächtigung erfasst angesehen. Während auch die behördliche Erhöhung von Istlöhnen zutreffend verneint wird (63 ff), vermag die Ablehnung der Möglichkeit, im MLT auch Fälligkeits- oder Verfallsregelungen zu treffen (65 f), nicht restlos zu überzeugen. Die hier vorgenommene Trennung zwischen materiellem Anspruch und seiner Durchsetzbarkeit erscheint ähnlich künstlich wie die in stRsp (und gegen die mittlerweile überwiegende Lehre) vertretene Zulassung von kurzen Verfallsfristen auch bei (sogar gesetzlich) zwingenden Ansprüchen. Sie steht im Übrigen im Widerspruch zur in der Folge überzeugend herausgearbeiteten Ermächtigung des MLT zur Regelung von Entgelten nicht nur der Höhe, sondern auch „dem Grunde nach“ (87 ff).
Nach einer instruktiven Nachzeichnung der historischen Entwicklung der behördlichen Entgeltfestsetzung im zweiten Kapitel folgt eine Erörterung der Rechtsnatur des MLT, die seine Qualifikation als Durchführungsverordnung mit dichter Argumentation untermauert (136 ff). Daran schließt sich eine rechtliche Analyse des Rahmens für die zu deren Erlassung berufenen Behörde, dem BEA. Dass dessen Mitglieder, auch wenn sie von den Interessenverbänden vorgeschlagen werden (zu denen im Übrigen auch der Dachverband der Universitäten [§ 108 Abs 2 bis 4 UG 2002] gehört, als dessen stellvertretender Vorsitzender der Rezensent dem BEA angehören durfte), dem/der zuständigen BundesministerIn gegenüber weisungsgebunden sein sollen (150 ff), müsste in einer die Koalitionsfreiheit gebührend würdigenden Auslegung des Art 20 Abs 2 B-VG noch einmal überdacht werden.
Im Kapitel über das BEA werden auch dessen sonstige Aufgaben behandelt, womit das Kollektivvertragsrecht nicht mehr nur am Rande angesprochen wird. Noch viel stärker gilt das für den 5. Teil, der allgemein den „Rahmenbedingungen kollektiver Normsetzung in Österreich“ gewidmet ist. In diesem mit fast 120 Druckseiten umfangreichsten Abschnitt der Schrift werden nämlich etliche grundsätzliche Fragen des Kollektivvertragsrechts diskutiert. Das ist durchaus sachgerecht, weil in der Tat „eine Betrachtung des MLT wegen der starken ... Beziehungen der verschiedenen Instrumente des kollektiven Arbeitsrechts zueinander eine Untersuchung des Gesamtsystems und seiner Wechselbeziehungen erfordert“ (9). Das zeigt sich besonders etwa bei der umfassend (vgl 250 ff) beleuchteten Frage, wie streng bzw wie klar die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit an freie Berufsvereinigungen auf AG-Seite (§ 4 Abs 2 ArbVG) ausgestaltet sind, ist das Fehlen solcher Körperschaften doch zentrale Voraussetzung für die Zulässigkeit eines MLT.
Allerdings überrascht dann aber, dass – zumal jeweils unter dem Gesichtspunkt der Gegnerunabhängigkeit – die Zugehörigkeit der freien DN zur Arbeiterkammer kritisch gesehen wird (228 f), während bei der Ärztekammer die Kollektivvertragsfähigkeit auch auf AN-Seite zumindest in Betracht gezogen werden soll (231 ff). Etwas irritierend erscheint auch, dass in diesem Abschnitt weder die – noch dazu im selben Verlag wie die vorliegende Monografie erschienene – von Mosler/Gahleitner in mittlerweile 6. Auflage herausgegebene Kommentierung des ArbVG noch die grundlegende (ebenfalls Habilitations-)Schrift von Elias Felten (Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz [2015]) besondere Berücksichtigung finden. Spannend und als eindrucksvoller Beleg für die sorgfältige und abgewogene Auseinandersetzung mit Schnittstellenproblemen anzusehen sind dagegen ua die Überlegungen zur analogen Anwendung des § 4 Abs 2 ArbVG auf freie MitarbeiterInnen im Bereich des JournalistenG (257) oder die verfassungsrechtliche Problematisierung der Unbestimmtheit dieser Regelung über die Zuerkennung der Kollektivvertragsfähigkeit (273 f).
Im 6. Abschnitt ihrer Untersuchung kehrt Melzer wieder in den Kernbereich des MLT zurück und widmet sich den Voraussetzungen für die Erlassung einer solchen Verordnung. Dass es dafür zunächst auf das Fehlen einer kollektivvertragsfähigen AG-Körperschaft an sich ankommt, wird mit breiter Argumentation untermauert (329 f). Dem ist ebenso zu folgen wie der vom ArbVG implizit eröffneten Wahlmöglichkeit zwischen Satzung und MLT in nicht von Kollektivverträgen erfassten Bereichen (338 f).
Eines der spannendsten Themen der Untersuchung, das ja auch in deren Untertitel zum Ausdruck kommt, betrifft die Grundrechtskonformität des MLT. In dem dieser Frage gewidmeten 7. Kapitel steht nicht überraschend die Koalitionsfreiheit im Zentrum, in die insofern auf AG-Seite eingegriffen werden könnte, als mittelbar Druck entsteht, sich einer entsprechenden Koalition anzuschließen bzw für diese Kollektivvertragsfähigkeit anzustreben. Dieser Druck wird durch § 24 Abs 3 ArbVG noch verstärkt, weil es nicht zuletzt eines Kollektivvertragsabschlusses bedarf, um die behördliche Festsetzung von Mindestentgelten wieder ausschließen zu können. Aus all dem folgert die Autorin einen staatlichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit (368 ff), für den sie aber dann eine breite Palette von Rechtfertigungsmöglichkeiten anbietet (371 ff). Ungeachtet welcher dieser Varianten nun der Vorzug zu geben ist, wird die Grundrechtskonformität des MLT völlig zu Recht bejaht.
Die beiden folgenden Abschnitte sind Verfahrensfragen (391 ff) und dem Rechtsschutz (437 ff) gewidmet. Dass beide Bereiche eng zusammenhängen, zeigt bereits der Umstand, dass zum einen § 22 Abs 1 ArbVG von einer Pflicht zur Erlassung eines MLT auszugehen scheint, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen („hat ... festzusetzen“, vgl 393 f). Zum anderen gibt es aber hier bei Untätigkeit des BEA – wie auch sonst (!) – kein Instrument, um eine generelle Rechtsetzung zu erzwingen. Gegen diesen „defizitären Rechtsschutz“ (447) könnte nur im Wege der Amtshaftung oder auf disziplinärer Ebene vorgegangen werden (445 f). Das an anderer Stelle der Arbeit (150 ff) betonte Weisungsrecht des zuständigen Bundesministers gegenüber den Mitgliedern des BEA könnte hier Abhilfe schaffen. Im Zusammenwirken mit der gesetzlich vorgesehenen personellen Einbindung jener AN-Verbände in das BEA, die mit ihrem Antrag das Verfahren zur Erlassung eines 536 MLT überhaupt erst in Gang bringen, dürfte die Gefahr einer Nichterledigung eines solchen Antrags allerdings zu vernachlässigen sein.
Spätestens wenn nun geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen und wie ein MLT zustande kommt, stellt sich die Frage nach seinen Rechtswirkungen. Deren Analyse im 10. Kapitel der vorliegenden Schrift zeigt zunächst erneut deren durchgängig stimmigen Aufbau. In der Sache geht es dabei vor allem um die (bei einer Verordnung eigentlich selbstverständliche) Normwirkung und die zwingende Wirkung (vgl § 24 Abs 1 bzw 2 ArbVG). Die Möglichkeit von absolut zwingenden bzw dispositiven Regelungen wird dabei zu Recht verworfen (458 ff). Eine im Ergebnis dispositive Wirkung ergibt sich aus der in § 24 Abs 4 ArbVG vorgesehenen Nachwirkung. Dass diese nicht nur bei Wirksamwerden eines KollV, einer Satzung oder eines neuen MLT bzw einer neuen Einzelvereinbarung mit den vom bisherigen MLT erfassten AN enden soll, sondern – analog – auch bei Wirksamwerden einer mit entsprechender Regelungsbefugnis ausgestattete BV, ist überzeugend (469 f bzw 475).
Damit sind auch schon die Probleme im Hinblick auf Beginn und Ende eines MLT angesprochen, denen das letzte inhaltliche Kapitel der Arbeit gewidmet ist. Neben einigen eher „technischen“ Fragen ist hier vor allem das „Außerkraftsetzen“ eines MLT durch KollV oder Satzung nach § 24 Abs 3 ArbVG von Interesse. Dass dies auch dann erfolgt, wenn die neuen Vorschriften gar keine oder ungünstigere Regelungen für das Entgelt bzw den Auslagenersatz treffen, wird mit starken Argumenten – und plakativ („Das alte behördliche Regime wird durch das neue autonome zur Gänze ersetzt“, 518) – begründet und darüber hinaus verfassungsrechtlich abgesichert (525 f).
Dieser übergreifende Zugang, der dann in den (auch in Englisch als „concluding remarks“ gehaltenen, 539 ff) Schlussüberlegungen gut zum Ausdruck kommt, ist denn auch einer der großen Vorzüge der vorliegenden Monografie. Ausgehend von einem zunächst eher schmalen und – was seine praktische Bedeutung betrifft – fast marginalen Thema wird nahezu das gesamte System der überbetrieblichen kollektiven Rechtsgestaltung beleuchtet. Dieses ist nach wie vor geprägt von einem hohen Maß an Autonomie der Sozialpartner sowie einer recht behutsamen (Möglichkeit zur) staatlichen Intervention und hat sich schon als überaus tragfähige und gut funktionierende Grundlage erwiesen, als es noch keine verfassungs- bzw grundrechtliche Absicherung in Art 120a ff B-VG bzw der GRC gab und auch das nun vorherrschende Verständnis zu Art 11 MRK noch nicht so ausgeprägt war. Nora Melzer tritt erkennbar als rechtspolitische „Verteidigerin“ dieses Systems auf, leistet aber mit ihren fundierten und methodenbewussten Überlegungen auch einen wesentlichen Beitrag zu dessen dogmatischer Aufarbeitung und Weiterentwicklung.
Dass ihr das bei einer zunächst eher spröden Grundfragestellung gelungen ist, hängt zum einen damit zusammen, dass der Text stets angenehm lesbar gehalten ist und dennoch präzise bleibt sowie ohne Redundanzen auskommt. Und dass die Arbeit zum anderen trotz der Fülle der behandelten Fragen und des daraus resultierenden Umfangs mit Spannung und Interesse zu Ende gelesen werden kann, ist nicht zuletzt der stimmigen Systematik und den ein gedankliches Innehalten ermöglichenden Zwischenbilanzen am Ende der einzelnen Kapitel geschuldet.
Bei besonders kritischer Betrachtung kann bemängelt werden, dass die Aktualisierung der 2015 fertiggestellten Habilitationsschrift nur teilweise erfolgt ist und diesem Umstand wohl auch das Literaturverzeichnis zum Opfer gefallen ist. Insgesamt war aber die Entscheidung, die Arbeit doch noch zu publizieren, richtig und wichtig. Mit ihren nun vorgelegten Beiträgen hat Nora Melzer die wissenschaftliche Aufarbeitung des österreichischen kollektiven Arbeitsrechts und damit auch dieses selbst ohne Frage um einige Schritte vorangebracht.