5180 %-Regel des § 131 ASVG ist unionsrechtskonform
80 %-Regel des § 131 ASVG ist unionsrechtskonform
Entgeltliche medizinische Leistungen fallen in den Anwendungsbereich der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, ohne dass danach zu unterscheiden wäre, ob die Versorgung in oder außerhalb eines Krankenhauses erfolgt.
Die Beschränkung der Kostenerstattung gem § 131 Abs 1 ASVG auf 80 % des Kassentarifs (auch) bei Inanspruchnahme von WahlärztInnen in anderen Mitgliedstaaten ist aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses bezogen auf die öffentliche Gesundheit gerechtfertigt.
Bei Aufsuchen von WahlärztInnen im niedergelassenen Bereich sind als „entsprechende Vertragspartner“ iSd § 131 Abs 1 ASVG entsprechende VertragsärztInnen anzusehen. Die höheren Kosten, die nach dem Leistungsorientierten Krankenanstaltenfinanzierungs-(LKF-)System bei Vornahme einer vergleichbaren Behandlung in einer Krankenanstalt gezahlt werden hätten müssen, können daher nicht als Grundlage für die Kostenerstattung dienen.
[1] Der Kl unterzog sich am 1.3.2019 einer Varizen-Operation beidseits wegen eines seit Jahren bestehenden Varizenleidens [...].
[2] In der Ordination der niedergelassenen Fachärzte „H*ärzte *“ in K*, Deutschland, wurde tageschirurgisch in Lokalanästhesie eine Verödung der Venae saphenae magnae mittels Radiofrequenzablation an beiden Beinen durchgeführt. Die „H*ärzte *“ sind keine bettenführende Einrichtung und stehen in keinem Vertragsverhältnis zur Bekl. Für die erbrachten Leistungen zahlte der Kl [...] 1.835,65 €.
[3] In Österreich besteht die Möglichkeit, sich dieser Varizen-Operation tageschirurgisch in Lokalanästhesie sowohl in einer Krankenanstalt als auch bei niedergelassenen Ärzten zu unterziehen [...]. Die Wartezeiten übersteigen in Österreich nirgends drei Monate.
[4] Der Kl beantragte am 25.1.2019 bei der Bekl die Kostenübernahme der für Anfang März 2019 geplanten Operation. Die Vorabgenehmigung lehnte die Bekl mit der Begründung ab, dass zeitnahe, vergleichbare Behandlungsmöglichkeiten in Österreich bestehen.
[5] Der Kassentarif für die Varizen-Operation bei einem niedergelassenen Arzt umfasst [...] insgesamt [...] 279,33 €. 80 % des Kassentarifs errechnen sich mit 223,38 €.
[6] Mit Bescheid vom 19.3.2019 lehnte die Bekl den Antrag des Kl auf Kostenerstattung gem § 7b Abs 6 Sozialversicherungs-Ergänzungsgesetz (SV-EG) [...] ab [...].
[7] Mit seiner Klage begehrt der Kl [...] 1.835,65 € samt 4 % Zinsen [...].
[9] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit einem Betrag von 223,38 € statt [...].
[10] Das Berufungsgericht gab der vom Kl [...] erhobenen Berufung nicht Folge [...].
[13] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.
[...]
[17] 1. Zur VO (EG) Nr 883/2004 [...]
[18] [...] Nach Art 20 Abs 1 VO 883/2004 muss ein Versicherter, der sich – wie der Kl – zur medizinischen Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, grundsätzlich die Genehmigung des zuständigen Trägers einholen [...].
[19] [...] Art 20 Abs 2 VO 883/2004 verwehrt es dem Wohnsitzstaat des Versicherten nicht, diesem die Erteilung der in Art 20 Abs 1 VO 883/2004 vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht (EuGHC-243/19, Veselibas ministrija, ECLI:EU:C:2020:872, Rn 56).
[...]
[25] 3. Zur Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 AEUV
[26] 3.1 Nach stRsp des EuGH fallen entgeltliche medizinische Leistungen in den Anwendungsbereich der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, ohne dass danach zu unterscheiden wäre, ob die Versorgung in oder außerhalb eines Krankenhauses erfolgt (EuGHC-372/04, Watts, ECLI:EU:C:2006:325, Rn 86 mwH). Dies gilt auch dann, wenn die Erstattung der Kosten für diese Versorgung nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats über die KV beantragt wird, die – wie hier – im Wesentlichen Sachleistungen vorsehen (EuGHC-157/99, Smits und Peerbooms, ECLI:EU:C:2001:404, Rn 55; ErwGr 11 der RL 2011/24/EU).
[27] 3.2 Nach ebenso stRsp des EuGH sind als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit alle Maßnahmen zu verstehen, die die Ausübung dieser Freiheit untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen (EuGHC-339/15, ECLI:EU:C:2017:335, Vanderborght, Rn 61; C-500/06, ECLI:EU:C:2008:421, Corporación Dermoestética, , Rn 32, jeweils mwH).
[28] 3.3 Maßnahmen, die die Dienstleistungsfreiheit beschränken, sind nur unter vier Voraussetzungen zulässig: Sie müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie müssen zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (sog „Gebhard“-Formel, EuGHC-55/94, ECLI:EU:C:1995:411, Gebhard, Rn 37 uva; Budischowsky in Jaeger/Stöger, EUV/AEUV [Stand: 1.10.2018 rdb.at] Art 56 AEUV Rz 28 mwH).
[29] 4. Zur Kostenerstattung nach der RL 2011/24/EU
[...]
[33] 4.4 [...] Gem Art 7 Abs 1 RL 2011/24/EU stellt der Versicherungsmitgliedstaat unbeschadet der VO 883/2004 und vorbehaltlich der Art 8 und 9 RL 2011/24/EU sicher, dass die Kosten, die einem Versicherten im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung entstanden 501 sind, erstattet werden, sofern – was hier unstrittig der Fall ist – die betreffende Gesundheitsdienstleistung zu den Leistungen gehört, auf die der Versicherte im Versicherungsmitgliedstaat Anspruch hat.
[34] 4.5 Die Erstattung von Kosten für grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung darf gem Art 7 Abs 8 RL 2011/24/EU nichtvon einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden. Ausgenommen davon sind nur die Fälle des Art 8 RL 2011/24/EU.
[35] 5. Zu den in Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU geregelten Fällen
[36] 5.1 Nach der Rsp des EuGH läuft es in Bezug auf Krankenhausbehandlungen und aufwändige Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern Art 56 AEUV grundsätzlich nicht zuwider, wenn das Recht eines Patienten, solche durch das System, dem er angehört, finanzierte Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erhalten, von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht wird (EuGHC-777/18, Vas Megyei Kormányhivatal [Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung], Rn 61 mwH). Diese Fälle regelt Art 8 (iVm Art 9) RL 2011/24/EU.
[37] 5.2 Einen der in Art 8 Abs 2 RL 2011/24/EU genannten Fälle (deren Vorliegen vom nationalen Gericht zu beurteilen ist: EuGHC-777/18, Rn 80) behauptet der Revisionswerber jedoch gar nicht [...].
6. Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU als Anspruchsgrundlage
[39] 6.1 Der Kl stützt seinen Anspruch auf Art 7 Abs 4 Unterabs 1 RL 2011/24/EU, der lautet:
„(4) Der Versicherungsmitgliedstaat erstattet oder bezahlt direkt die Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bis zu den Höchstbeträgen, die er übernommen hätte, wenn die betreffende Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsgebiet erbracht worden wäre, wobei die Erstattung die Höhe der tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten nicht überschreiten darf.“
[40] 6.2 Die von Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU vorgesehene Kostenerstattung kann nach der Rsp des EuGH einer doppelten Begrenzung unterliegen. Zum einen wird sie auf der Grundlage der für die Gesundheitsversorgung im Versicherungsmitgliedstaat geltenden Gebührenordnung berechnet. Zum anderen werden, wenn die Kosten der im Empfangsmitgliedstaat erbrachten Gesundheitsversorgung niedriger sind als die der im Versicherungsmitgliedstaat erbrachten Gesundheitsversorgung, nur die tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten erstattet. Da die Erstattung der Kosten dieser Gesundheitsversorgung gemäß der RL 2011/24/EU dieser doppelten Begrenzung unterliegt, wird der Versicherungsmitgliedstaat im Rahmen der RL 2011/24/EU – im Unterschied zu den von der VO 883/2004 geregelten Fällen – im Fall einer grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung grundsätzlich keiner zusätzlichen finanziellen Belastung ausgesetzt (EuGHC-243/19, Veselibas ministrija, Rn 75-77).
[...]
[42] 6.4 Nach stRsp des EuGH kann sich der Einzelne jedoch nur in den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber einer staatlichen Einrichtung wie der Bekl auf sie berufen, wenn die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt wurde (EuGHC-585/16, Alheto, ECLI:EU:C:2018:584, Rn 98 uva).
[43] 6.5 Diesen Anforderungen genügt Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU, auf den sich der Kl zur Begründung seines Anspruchs beruft, schon deshalb nicht, weil sich die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs nicht aus dieser Bestimmung ergibt, sondern – hinsichtlich beider genannten Grenzen – nach den jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften (des Versicherungsmitgliedstaats wie des Behandlungsstaats).
[...]
[45] 7. Zur Frage der Kostenerstattung nach § 7b SV-EG
[46] 7.1 § 7b SV-EG, der mit Art 2 EU-Patientenmobilitätsgesetz (EU-PMG), BGBl I 2014/32, in das SV-EG eingefügt wurde, dient zwar der Umsetzung der RL 2011/24/EU. Diese Bestimmung ergänzt aber (nur) das österreichische System der Erstattung von Kosten der Krankenbehandlung bzw der Anstaltspflege nach den §§ 131 und 150 ASVG, nach dem Kostenerstattung für weltweit „eingekaufte“ Sachleistungen ohne Erfordernis einer Vorabgenehmigung vorgesehen ist (Pöltl in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [81. Lfg] § 7b SV-EG Rz 11; zu § 150 ASVG vgl 10 ObS 49/12x SSV-NF 26/50 = DRdA 2013/26, 299 [Marhold] = ZAS 2013/47, 284 [Mosler]).
[...]
[48] 7.3 Jene Fälle, für die besondere Kostenerstattung gem § 7b Abs 6 SV-EG gebührt, sind in § 7b Abs 4 SV-EG geregelt. Sie entsprechen den bereits dargestellten Fällen von Krankenhausbehandlungen und aufwändigen Behandlungen außerhalb von Krankenhäusern nach Art 8 Abs 2 RL 2011/24/ EU. [...]
[50] 8. Zum Anspruch auf Kostenerstattungsanspruch nach § 131 ASVG
[51] 8.1 [...] Dem Versicherten, der nicht die Vertragspartner (§ 338 ASVG), die eigenen Einrichtungen oder Vertragseinrichtungen des Versicherungsträgers zur Erbringung der Sachleistungen der Krankenbehandlung (ärztliche Hilfe, Heilmittel, Heilbehelfe) in Anspruch nimmt, gebührt gem § 131 Abs 1 ASVG der Ersatz der Kosten dieser Krankenbehandlung im Ausmaß von 80 % des Betrags, der bei Inanspruchnahme der entsprechenden Vertragspartner des Versicherungsträgers von diesem aufzuwenden gewesen wäre. Voraussetzung ist, dass ein Anspruch auf Sachleistungen aus der KV besteht, was hier unstrittig der Fall ist. Auch ist der Kl seiner Vorleistungspflicht nachgekommen.
[52] 8.2 Der EuGH sprach erstmals in den Entscheidungen C-120/95, ECLI:EU:C:1998:167, Decker, und C-158/96, ECLI:EU:C:1998:171, Kohll, aus, dass eine Krankenkasse unter dem Regime der Dienstleistungsfreiheit bei einer Heilbehandlung bzw beim Erwerb eines Sehbehelfs in einem anderen Mitgliedstaat unter den gleichen Bedingungen Kostenersatz 502 gewähren muss, wie dies bei Inanspruchnahme einer solchen Dienstleistung im Inland der Fall wäre. Bereits damals unterschied § 131 ASVG jedoch – abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall des § 131 Abs 3 ASVG – nicht zwischen In- und Auslandsbehandlung (Mosler in SV-Komm [242. Lfg] § 131 ASVG Rz 3), was zur Folge hatte, dass diese Entscheidungen in Österreich mit „großer Gelassenheit aufgenommen“ wurden (R. Müller, Der Erstattungsanspruch nach Inanspruchnahme eines Wahlarztes, in FS Cerny [2001] 533 [549] mwH in FN 76). Auch in diesem Verfahren hat die Bekl dem Kl Kostenerstattung nach § 131 Abs 1 ASVG für die von ihm in Deutschland in Anspruch genommene Behandlung geleistet.
[53] 8.3 § 131 Abs 1 ASVG ist verfassungsgemäß (VfGHG 24/98 ua). [...]
[56] 9. Zur behaupteten Unionsrechtswidrigkeit des § 131 Abs 1 ASVG
[...]
[58] 9.2 Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU sieht (lediglich) vor, dass Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bis zu den Höchstbeträgen ersetzt werden, die der Versicherungsmitgliedstaat bei gleicher Behandlung im Inland übernommen hätte. Eine Bestimmung, die es den Mitgliedstaaten erlauben würde, einen Verwaltungskostenabschlag einzuheben, existiert nicht (Prinzinger, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Hinblick auf das primäre und sekundäre Unionsrecht – Umsetzung der Patientenmobilitäts-RL in nationales Recht, DRdA 2016, 19 [23]).
[59] 9.3 Nach stRsp des EuGH verstößt jede nationale Regelung gegen Art 56 AEUV, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaats erschwert (EuGHC-444/05, ECLI:EU:C:2007:231, Stamatelaki, Rn 25 mwH). Um festzustellen, ob eine solche Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit vorliegt, dürfen die Voraussetzungen, unter denen die Bekl die Kosten einer in einem anderen Mitgliedstaat beabsichtigten Krankenbehandlung übernimmt, nicht mit der im nationalen Recht vorgesehenen Kostenerstattungsregelung verglichen werden. Vielmehr sind sie mit den Voraussetzungen zu vergleichen, unter denen die Bekl derartige Leistungen nach dem nationalen Krankenversicherungssystem (hier daher in der Regel: durch eigene Vertragsärzte) erbringt (so zu einer in einem anderen Mitgliedstaat beabsichtigten Krankenhausbehandlung EuGHC-372/04, Watts, ECLI:EU:C:2006:325, Rn 100).
[60] 10. Zum Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung durch die Kostenerstattungsregel des § 131 Abs 1 ASVG
[61] 10.1 Zur Prüfung der Frage, ob die Dienstleistungsfreiheit beschränkt wird, ist daher (auch) auf die Regelungen bei Inanspruchnahme der in Österreich an sich vorgesehenen Sachleistungen abzustellen, sodass insofern die Kosten maßgeblich sind, die der Bekl bei Inanspruchnahme von Vertragsärzten entstehen (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 297). Da ein Vertragsarzt für eine Behandlung, wie sie der Kl in Anspruch nahm, 100 % des Kassentarifs von der Bekl erhält, stellt sich die Frage, ob die Vergütung mit lediglich 80 % des Kassentarifs an einen Wahlarzt in einem anderen Mitgliedstaat gegen Art 56 AEUV verstößt.
[62] 10.2 Nach der Rsp des EuGH ist der Umstand, dass ein Versicherter eine weniger günstige Erstattung erhält, wenn er sich einer Krankenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat unterzieht, als wenn er die gleiche Behandlung im Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit in Anspruch nimmt, geeignet, diesen Versicherten davon abzuschrecken oder ihn gar daran zu hindern, sich an Erbringer von medizinischen Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten zu wenden. Dies stellt sowohl für diesen Versicherten als auch für die Dienstleistenden eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar (EuGHC-368/98, Vanbraekel ua, Rn 45). Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgehalten, dass es zwar sein mag, dass die (damals: niederländischen) Krankenkassen vertragliche Vereinbarungen mit Krankenanstalten außerhalb der Niederlande schließen könnten, und dass dann für die Übernahme der Kosten für die Versorgung in derartigen Anstalten keine vorherige Genehmigung erforderlich wäre. Abgesehen davon sei es aber – von Krankenanstalten in Grenznähe abgesehen – illusorisch anzunehmen, dass viele Krankenanstalten in den anderen Mitgliedstaaten einen Anlass dazu sehen, vertragliche Vereinbarungen mit den niederländischen Krankenkassen zu schließen, zumal ihre Aussichten, diesen Kassen angeschlossene Patienten aufzunehmen, vom Zufall abhängig und beschränkt blieben (EuGHC-157/99, Smits und Peerbooms, Rn 66). Dies lässt sich auch auf Ärzte in anderen Mitgliedstaaten übertragen, die – anders als inländische Ärzte – in der Regel von vornherein lediglich als Wahlärzte tätig werden können (Binder, Krankenbehandlung im Ausland [Teil II], DRdA 2001, 518 [527]; Karl, Die Auswirkungen des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs auf die Kostenerstattung, DRdA 2002, 15 [21]; Mayrhofer, Rückerstattung von Wahlarzthonoraren verfassungsrechtlich geboten? RdM 2017/151, 241 [247]).
[63] 10.3 In Lehre und Schrifttum wird zur Problematik der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch die Kostenerstattungsregelung des § 131 ASVG unterschiedlich Stellung genommen (den Meinungsstand umfassend darstellend Mosler in SV-Komm [242. Lfg] § 131 ASVG Rz 8; Auer-Mayer, Mitverantwortung 318 ff):
[64] Ein Verstoß der Kostenerstattungsregelung des § 131 Abs 1 ASVG gegen die Dienstleistungsfreiheit wird von Teilen der Lehre unter Verweis auf das Fehlen einer sachlichen Rechtfertigung bejaht. Dazu wird vertreten, dass die Differenzierung der Kostenregime zwischen genehmigungspflichtigen und genehmigungsfreien Behandlungen nicht in der Richtlinie vorgesehen sei (Prinzinger, Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen als passive Dienstleistungsfreiheit [2016] 50). Die Versicherten würden durch diese Regelung von der Inanspruchnahme eines Wahlarztes abgehalten (Prinzinger, DRdA 2016, 19 [23]; Karl, DRdA 2002, 15 [21 ff]). Ausländische Wahlärzte 503 hätten (de facto) keine Möglichkeit, Verträge mit österreichischen Krankenversicherungsträgern abzuschließen (Kietaibl, Sozialversicherungsrechtliche Beschränkung für wahlärztliche Honorarbemessung? wbl 2006, 502 [506 f]). Die Finanzierung des Systems wäre aufgrund der wenigen zu erwartenden Fälle bzw auch im Hinblick darauf, dass ein „Verwaltungskostenabschlag“ von 20 % nach früherer Rechtslage (vor der Änderung des § 131 Abs 1 ASVG mit der 53. Novelle zum ASVG, [1.] SRÄG 1996, BGBl 1996/411) gar nicht vorgesehen gewesen sei, auch ohne diesen weiter möglich. Generell akzeptiere der EuGH bloß wirtschaftliche Gründe nicht als Rechtfertigung (Wallner in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht3 Kap II Rz 123). Zudem stünden auch andere, gleichmäßiger wirkende Kostendämpfungsmaßnahmen zur Verfügung (Binder, DRdA 2001, 518 [527]; Resch, Anspruch auf Kostenerstattung bei Wahlarzthilfe im Ausmaß von 100 %? VR 2007 H 4, 18 [23]; Windisch-Graetz, Europäisches Krankenversicherungsrecht [2003] 61 f). Die reduzierte Kostenerstattung könne daher die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen in anderen Mitgliedstaaten potentiell weniger attraktiv machen (Mayrhofer, RdM 2017, 247).
[65] Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch § 131 Abs 1 ASVG wird hingegen von anderen Teilen der Lehre verneint. Als Argumente werden angeführt, dass der Marktzugang für ausländische Ärzte wohl kaum von einer Reduktion der Kostenerstattung von lediglich 20 % des inländischen Vertragstarifs beeinflusst werden könne (Grillberger in Grillberger/Resch, Ärztliches Vertragspartnerrecht [2012] 249). Entscheidend seien vielmehr Sprachbarrieren, die gerade bei kranken Menschen eingeschränkte Mobilität, oder die Schwierigkeit der Organisation medizinischer Leistungen im Ausland (Pfeil, Europäische Grundfreiheiten und nationales Sozial-[leistungs-]recht, DRdA 2010, 12 [19]; eine Diskriminierung verneinen auch Herzig in Grillberger/Mosler, Europäisches Wirtschaftsrecht und soziale Krankenversicherung [2003] 97, und Felten in Tomandl, System des SV-Rechts, 2.2.3.2.1 [220 f] mwH). Einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit könne man daher nur dann annehmen, wenn man nicht von einer durchschnittlichen realitätsnahen Betrachtung, sondern vom seltenen Ausnahmefall ausgeht (Mosler, Die freie Arztwahl in der Krankenversicherung, DRdA 2015, 139 [144]). Darüber hinaus sei auch im ambulanten Bereich die Reduktion der Kostenerstattung auf 80 % des Vertragstarifs geeignet, das in der Rsp des EuGH anerkannte Ziel zu garantieren, eine qualitativ hochwertige, ausgewogene und allgemein zugängliche medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten. Sie diene nämlich dem Schutz des Sachleistungsprinzips. Auch im ambulanten Bereich könne sich nach der Rsp des EuGH (C-169/07, Hartlauer, ECLI:EU:C:2009:141, Rn 51) eine staatliche Planung als unerlässlich erweisen (Scholz, Beschränkung der Erstattung von Wahlarztkosten verfassungs- und unionsrechtswidrig? RdM 2018/80, 88 [92]).
[66] 10.4 § 131 Abs 1 ASVG unterscheidet nicht zwischen in- und ausländischen Wahlärzten, sodass diese Regelung nicht unmittelbar diskriminiert (Pfeil, DRdA 2010, 12 [19 f]). Zweifelsohne sprechen aber gute Gründe für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung von (Wahl-)Ärzten in anderen Mitgliedstaaten, weil die reduzierte Kostenerstattung nach dieser Bestimmung die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen in anderen Mitgliedstaaten [...] potentiell weniger attraktiv machen kann (Auer-Mayer, Mitverantwortung 298). Wollte ein privater Anbieter medizinischer Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat seine Leistungen insofern besonders attraktiv machen, indem er bloß jenen Betrag als Honorar verlangt, den der Versicherte vom Krankenversicherungsträger rückerstattet erhalten würde, müsste er weniger verlangen als ein entsprechender Vertragspartner erhalten würde (Windisch-Graetz, Europäisches Krankenversicherungsrecht 61).
[67] 11. Zum Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes
[68] 11.1 Sekundärrechtlich werden die Vorgaben der schon dargestellten Rsp des EuGH zur bereits dargestellten „Gebhard“-Formel (EuGHC-55/94) in Art 7 Abs 9 und 11 RL 2011/24/EU (vgl dazu auch die ErwGr 11 und 12 RL 2011/24/EU) umgesetzt. Diese Bestimmungen lauten (Hervorhebung durch den Senat):
„(9) Der Versicherungsmitgliedstaat kann die Anwendung der Vorschriften für die Kostenerstattung bei grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, wie etwa dem Planungsbedarf in Zusammenhang mit dem Ziel, einen ausreichenden, ständigen Zugang zu einem ausgewogenen Angebot hochwertiger Versorgung im betreffenden Mitgliedstaat sicherzustellen, oder in Zusammenhang mit dem Wunsch, die Kosten zu begrenzen und nach Möglichkeit jede Verschwendung finanzieller, technischer oder personeller Ressourcen zu vermeiden, beschränken....(11) Die Entscheidung, die Anwendung des vorliegenden Artikels gemäß Absatz 9 einzuschränken, muss sich auf das beschränken, was notwendig und angemessen ist, und darf keine Form der willkürlichen Diskriminierung und kein ungerechtfertigtes Hindernis für die Freizügigkeit von Personen oder den freien Verkehr von Waren oder Dienstleistungen darstellen. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission jede Entscheidung mit, durch die die Erstattung von Kosten aus den in Absatz 9 genannten Gründen beschränkt wird.“
[69] 11.2 Nach der Rsp des EuGH zählen zu den Zielen, die eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können, im hier zu beurteilenden Zusammenhang [...] ua:
eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten;
einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde im Inland zu bewahren, sowie
eine Planung zu ermöglichen, mit der bezweckt wird, zum einen im betreffenden Mitgliedstaat einen ausreichenden, ständigen Zugang zu 504 einem ausgewogenen Angebot hochwertiger Versorgung sicherzustellen und zum anderen die Kosten zu begrenzen und nach Möglichkeit jede Verschwendung finanzieller, technischer oder personeller Ressourcen zu vermeiden (EuGHC-777/18, Rn 59 mwH; C-243/19, Rn 46, 47 mwH; für den Bereich ambulanter Versorgung EuGHC-169/07, Hartlauer, Rn 51).
[70] 11.3 Da solche Ziele als legitim anzusehen sind, ist es nach der Rsp des EuGH Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob die nationalstaatliche Regelung – hier § 131 Abs 1 ASVG – im Hinblick auf die Erreichung dieser Ziele auf das notwendige und angemessene Maß begrenzt ist (EuGHC-243/19, Rn 71, 79, zu Art 8 RL 2011/24/EU und dem zu dessen Umsetzung geschaffenen lettischen System der Vorabgenehmigung). Vor dem Hintergrund dieser Rsp des EuGH ist der Anregung des Kl, ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH einzuleiten, in dem im Wesentlichen die Frage zu stellen sei, ob die von § 131 Abs 1 ASVG vorgesehene Einschränkung der Kostenerstattung auf 80 % des Kassentarifs mit Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU vereinbar sei, nicht zu folgen.
[71] 11.4 Der vom Revisionswerber für seinen Standpunkt ins Treffen geführten E des EuGHC-385/99, ECLI:EU:C:2003:270, Müller-Fauré und van Riet, liegt kein vergleichbarer Sachverhalt und keine vergleichbare Rechtslage zugrunde: Das damals zu beurteilende niederländische Krankenversicherungssystem sah nur die Gewährung von Sachleistungen vor. Nur im Ausnahmefall sollte Kostenerstattung gewährt werden, wenn eine Behandlung im Inland nicht verfügbar war und eine Vorabgenehmigung erteilt wurde, weil die medizinische Versorgung des Versicherten im Ausland notwendig war.
[72] 11.5 Generell lässt sich die Rsp des EuGH zu den Erfordernissen der Vorabgenehmigung von Auslandsbehandlungen nicht auf die hier zu beurteilende Kostenerstattungsregelung übertragen:
[73] 11.5.1 Auch ein finanzieller Zusatzaufwand kann nach dieser Rsp ein generelles Vorabgenehmigungssystem im ambulanten Bereich nicht rechtfertigen, zumindest soweit der Mitgliedstaat nichts anderes darlegen kann. Dies begründet der EuGH mit dem Verweis auf die voraussichtlich begrenzte Zahl an Auslandsfällen infolge von Sprachbarrieren, der räumlichen Entfernung, der Kosten eines Auslandsaufenthalts und dem erforderlichen Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum behandelnden Arzt (EuGHC-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 93 ff; C-255/09, Kommission/Portugal, ECLI:EU:C:2011:695, Rn 76 ff). Hinzu kommt die – gerade bei kranken Menschen, die im Inland keine aus ihrer Sicht adäquate Behandlung finden – eingeschränkte Mobilität (Pfeil, DRdA 2010, 12 [19]) und der Mangel an Information über die Art der im Ausland geleisteten Versorgung.
[74] Ein System, wonach die Kostenerstattung wegen Verfügbarkeit der Behandlung im Inland mangels Vorabgenehmigung zur Gänze entfällt, beschränkt die Dienstleistungsfreiheit jedoch wesentlich stärker als eine bloß um 20 % geringere Höhe der Kostenerstattung im Vergleich zum Vertragspartnertarif (Auer-Mayer, Mitverantwortung 319). Hinzu kommt, dass der EuGH ausgesprochen hat, dass weniger einschneidende und den freien Dienstleistungsverkehr besser wahrende Maßnahmen ergriffen werden können, wie etwa die Festlegung von Tabellen für die Erstattung von Behandlungskosten (EuGHC-444/05, Stamatelaki, Rn 35).
[75] Auch im hier eröffneten Anwendungsbereich des § 131 Abs 1 ASVG sind die Versicherten – anders als bei einem System der generellen Vorabgenehmigung – nicht gehindert, jederzeit eine Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat der Union in Anspruch zu nehmen. Ihnen gebührt dafür derselbe Kostenersatz wie bei Inanspruchnahme eines inländischen Wahlarztes. Da die RL 2011/24/EU wie ausgeführt ausdrücklich nicht zur Inanspruchnahme einer Krankenbehandlung im Ausland ermuntern will und den Versicherten im Inland in einem Fall wie dem vorliegenden primär ein Sachleistungsanspruch zu- und offensteht, ist die Kostenerstattungsregelung des § 131 Abs 1 ASVG schon aus diesen Gründen als eine gerechtfertigte Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit anzusehen.
[76] 11.5.2 Es erscheint fraglich, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt, trägt doch der Krankenversicherungsträger auch im Fall einer Auslandsbehandlung genau jene Kosten, die er im Fall der Inanspruchnahme einer inländischen Behandlung zu tragen hätte. Denn den in Höhe von 80 % des Kassentarifs zu erstattenden Kosten sind – unabhängig davon, ob ein in- oder ein ausländischer Wahlarzt in Anspruch genommen wurde – die vom Krankenversicherungsträger zu tragenden Verwaltungskosten von 20 % hinzuzurechnen (Auer-Mayer, Mitverantwortung 320 f). Auch der EuGH hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass ein Mitgliedstaat nicht gehindert ist, pauschale Erstattungsbeträge für Auslandsbehandlungen festzulegen, soweit diese auf objektiven, nicht diskriminierenden und transparenten Kriterien beruhen (C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 107), wie etwa die bereits genannte Festlegung von Tabellen für die Erstattung von Behandlungskosten (C-444/05, Stamatelaki, Rn 35).
[77] 11.5.3 Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Einschränkung der Kostenerstattung auf 80 % des Kassentarifs einen wesentlichen Einfluss für die Entscheidung inländischer Versicherter hätte, eine Krankenbehandlung im Ausland in Anspruch zu nehmen. Neben den bereits genannten Kriterien (Sprachbarrieren, Kosten eines Auslandsaufenthalts, fehlende Information und fehlendes Vertrauensverhältnis zum behandelnden Arzt, räumliche Entfernung) ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass selbst bei Ersatz von 100 % des Kassentarifs die tatsächlichen Behandlungskosten in der Regel auch im Fall einer Inlandsbehandlung zu einem nicht unwesentlichen Teil vom Versicherten selbst zu tragen sind. Dies gilt umso mehr bei einer schon wegen der Reise- und Aufenthaltskosten regelmäßig teureren Behandlung im Ausland.
[78] 11.5.4 Zusätzlich muss bedacht werden, dass die zukünftige Inanspruchnahme von Auslands 505behandlungen schwer prognostizierbar ist und das nationale Krankenversicherungssystem im Fall einer erheblichen quantitativen Zunahme von Auslandsbehandlungen durchaus vor einem Finanzierungs- und Versorgungsproblem stehen würde, würde eine Kostenerstattung von 100 %, gemessen am Vertragspartnertarif, zugelassen. Denn auch in diesem Fall sind ja immer noch die zusätzlich entstehenden Verwaltungskosten vom Krankenversicherungsträger zu tragen. Die Anhebung der Kostenerstattung auf 100 % des Kassentarifs würde daher einen von der RL 2011/24/EU nicht intendierten Anreiz schaffen, Behandlungen im – vor allem grenznahen – Ausland in Anspruch zu nehmen. Dort würden bisher günstigere Anbieter unter Umständen ihre Preise anheben, weil durch die österreichischen Krankenversicherungsträger eine höhere Erstattung zu leisten wäre.
[79] 11.5.5 Die Anhebung der Kostenerstattung auf 100 % des Kassentarifs würde überdies auch die Behandlung bei inländischen Wahlärzten betreffen. Denn es ist – schon zur Wahrung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes (näher dazu Rebhahn, Krankenversicherung zwischen Leistungsanspruch und Selbstbestimmung – Verfassungsrecht, Unionsrecht und Ethik, in Pfeil/Prantner, Krankenversicherung zwischen Leistungsanspruch und Selbstbestimmung der Versicherten [2015] 1 [4 f]) – davon auszugehen, dass in diesem Fall die Kosten auch bei Inanspruchnahme inländischer Wahlärzte zu 100 % des Kassentarifs erstattet werden müssten. Dies würde einen problematischen Eingriff in die legitimen Planungs- und Steuerungsinteressen des Staates darstellen: Denn einerseits liegt es in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, das Sozialversicherungssystem derart umzugestalten (vgl nur C-385/99, Müller-Fauré und van Riet, Rn 98 iVm Rn 107), und eine solche Änderung beträfe eine Vielzahl von Behandlungen. Andererseits stellte sich für inländische Ärzte verstärkt die Frage nach der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit eines Vertragsabschlusses mit einem Krankenversicherungsträger: Denn auch ohne Abschluss eines Vertrags könnten sie als Wahlärzte (zumindest) genau den Kassentarif vom Patienten fordern und dabei eine erheblich größere Freiheit (etwa von Kontrollen der ökonomischen Behandlung) genießen. Letztlich würde dies die Versorgungsdichte gefährden, die der Krankenversicherungsträger zu gewähren hat und einem nicht gewünschten Sozialtourismus förderlich sein.
[80] 11.6 Ergebnis: Es liegen zwingende Gründe des Allgemeininteresses bezogen auf die öffentliche Gesundheit vor, die die Beschränkung der Kostenerstattung bei Inanspruchnahme von Wahlärzten auch in anderen Mitgliedstaaten der Union auf 80 % des Kassentarifs gem § 131 Abs 1 ASVG rechtfertigen.
[81] 12. [...] „Entsprechende Vertragspartner“ iSd § 131 Abs 1 ASVG wären, da der Kl einen Wahlarzt aufgesucht hat, entsprechende Vertragsärzte gewesen, die auch vorhanden sind. [...] Die vom Kl für seinen Standpunkt ins Treffen geführten Kosten, die die Bekl an eine Krankenanstalt nach dem LKF-System zahlen hätte müssen (2.641 €) oder die ein Selbstzahler für einen tageschirurgischen Eingriff in einer Krankenanstalt zahlen hätte müssen (3.127,71 €), können schon aus diesem Grund nicht als Grundlage für seinen Anspruch dienen. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus Art 7 Abs 4 RL 2011/24/EU. [...]
Der EuGH vertritt bekanntlich ausgehend von den Rs Kohll (EuGHC-158/96, ECLI:EU:C:1998:171) und Decker (EuGHC-120/95, ECLI:EU:C:1998:167) in stRsp die Auffassung, dass die unionsrechtlichen Grundfreiheiten bei Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen unabhängig davon zur Anwendung kommen, ob einer der in Art 17 bis 20 VO 883/2004 ausdrücklich geregelten Fälle der Sachleistungsaushilfe vorliegt. Damit ist ein Kostenerstattungsanspruch unter Berufung auf die Grundfreiheiten insb auch bei geplanten Auslandsbehandlungen, für die nach Art 20 VO 883/2004 grundsätzlich eine Vorabgenehmigung des zuständigen Versicherungsträgers erforderlich ist, nicht ausgeschlossen. Beschränkungen desselben sind nur insoweit zulässig, als der damit einhergehende Eingriff in die Grundfreiheiten gerechtfertigt werden kann (vgl näher die zahlreichen Fundstellen im obigen Entscheidungstext). Inhaltlich lässt sich diese, zwischenzeitig auch in der Patientenmobilitäts-RL 2011/24/EU positivierte, Rsp mit guten Gründen kritisieren. An ihrer Beachtlichkeit ändert dies naturgemäß nichts (vgl näher zum Ganzen auch Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 275 ff mwN).
Fest steht damit, dass ein absoluter und gänzlicher Ausschluss der Kostenerstattung für Auslandsbehandlungen im Lichte der Grundfreiheiten jedenfalls unzulässig ist (vgl auch EuGHC-444/05, Stamatelaki, ECLI:EU:C:2007:231). Auch Genehmigungserfordernisse für Auslandsbehandlungen hat der EuGH nur für planungsintensive Bereiche, wie insb die Behandlung in Krankenanstalten, als zulässig angesehen (vgl nur EuGHC-385/99, Müller-Fauré und van Riet, ECLI:EU:C:2003:270). Vor diesem Hintergrund ist in der Literatur seit vielen Jahren umstritten, ob das österreichische Kostenerstattungssystem, insb die 80 %-Regel des § 131 Abs 1 ASVG, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
In der vorliegenden E musste der OGH nun – man ist geneigt zu sagen: „endlich“ – erstmals zu dieser Frage Stellung nehmen. Er tut dies mit einer Gründlichkeit, die so manche wissenschaftliche Arbeit in den Schatten stellt. So legt er zunächst die Unterschiede und das Zusammenspiel zwischen VO 883/2004, RL 2011/24 und der Dienstleistungsfreiheit des Art 56 AEUV dar (Rn 17 ff). Nach eingehender Auseinandersetzung mit den unionsrechtlichen Vorgaben und insb ausführlicher Thematisierung einer möglichen Beschränkung der Grundfreiheiten (Rn 51 ff) sowie deren Rechtfertigung durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ 506 (Rn 64 ff) gelangt das Höchstgericht schließlich überzeugend zum Ergebnis, dass die geltenden Vorgaben zur Kostenerstattung (auch) in Auslandsfällen unionsrechtlich nicht zu beanstanden sind (Rn 80). Dies wurde inzwischen auch in einer weiteren E bestätigt (vgl OGH 27.4.2021, 10 ObS 26/21b).
Dem ist kaum mehr etwas hinzuzufügen. Insb scheint es unzweckmäßig, die bereits durch den OGH umfassend dargelegten Argumente (mag deren systematische Darstellung im Entscheidungstext auch vereinzelt noch gewissen Optimierungen zugänglich sein) an dieser Stelle zusammengefasst zu wiederholen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf einige punktuelle Aspekte der Entscheidungsbegründung, die aus Sicht der Rezensentin eine nähere Betrachtung verdienen.
Interessant ist zunächst, dass der Kl im Verfahren ausdrücklich die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH angeregt hatte. Der OGH ist dieser Anregung nicht gefolgt (Rn 70 ff). Nach der Rsp des EuGH sind letztinstanzliche Gerichte (nur) in zwei Fällen nicht zur Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens verpflichtet: Zum einen dann, wenn die gestellte Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist, somit ein acte éclairé vorliegt (vgl EuGH 283/81, C.I.L.F.I.T, EU:C:1982:335, Rn 13). Dies war in der gegebenen Konstellation wohl unstrittig nicht der Fall. Zum anderen entfällt die Vorlagepflicht nach der sogenannten acte-clair-Doktrin, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts – auch unter Berücksichtigung vergangener Rsp – derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt (vgl erneut EuGH Rs C.I.L.F.I.T, Rn 16). Zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung liegen unbestrittenermaßen bereits zahlreiche Entscheidungen des EuGH vor. Auch spricht für die Auffassung des OGH, dass der EuGH die Prüfung, ob eine (mögliche) Beschränkung der Grundfreiheiten im Einzelfall durch legitime Ziele gerechtfertigt und verhältnismäßig ist, in aller Regel dem jeweiligen nationalen Gericht anheimstellt (vgl etwa aus jüngerer Zeit EuGHC-243/19, Veselibas ministrija, ECLI:EU:C:2020:872). Nicht zuletzt lassen sich die Entscheidungen des EuGH zur Unzulässigkeit von Genehmigungserfordernissen bzw gänzlich verweigerter Kostenerstattung jedenfalls nicht auf § 131 ASVG übertragen.
Dennoch scheint das Vorliegen eines acte clair nicht zuletzt angesichts der auch in der E zitierten Literaturmeinungen zur Unzulässigkeit der 80 %-Regel zweifelhaft. Es hätten somit durchaus gute Gründe für ein Vorlageverfahren gesprochen. Dass der OGH dies unterlassen hat, ist wohl vor allem dem Umstand geschuldet, dass man die massiven Folgewirkungen einer allfälligen gegenteiligen (Fehl-)Entscheidung des EuGH nicht riskieren wollte.
Inhaltlich hatte der Kl seinen Anspruch auf höhere Kostenerstattung insb auf Art 7 Abs 4 RL 2001/24 gestützt. Demnach ist der jeweilige Versicherungsstaat verpflichtet, die entstandenen Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bis zu jenen Höchstbeträgen zu erstatten (oder direkt zu übernehmen), die er übernommen hätte, wenn die betreffende Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsgebiet erbracht worden wäre. Der OGH schneidet diesen Anspruch mit der Begründung ab, Art 7 Abs 4 der RL sei nicht inhaltlich unbedingt und hinreichend genau (vgl zum diesbezüglichen Erfordernis etwa EuGHC-138/07, Cobelfret, ECLI:EU:C:2009:82, Rn 58; EuGHC-6/90, C-9/90, Francovich, ECLI:EU:C:1991:428, Rn 11), zumal sich die konkrete Höhe des Kostenerstattungsanspruchs erst aus den jeweiligen innerstaatlichen Rechtsvorschriften ergebe (Rn 42 f). Eine unmittelbare Berufung auf diese Bestimmung scheide daher schon aus diesem Grund aus (idS auch OGH 27.4.2021, 10 ObS 26/21b, Rn 20). Ob dies auch der EuGH so sehen würde, scheint angesichts der im Kern doch recht klaren Verpflichtung in Art 7 Abs 4 der RL zumindest nicht eindeutig.
Eine unmittelbare Berufung auf die RL kommt aber (auch) aus einem anderen Grund nicht in Betracht: Eine solche wäre nämlich von vornherein nur dann statthaft, wenn die Vorgaben einer RL nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt worden wären. Geht man mit dem OGH richtig davon aus, dass der in § 131 Abs 1 ASVG vorgesehene Kostenerstattungsanspruch den aus der Dienstleistungsfreiheit (bzw uU auch der Warenverkehrsfreiheit) und der Patientenmobilitäts-RL resultierenden Vorgaben genügt, ist aber gerade ein solches Umsetzungsdefizit in Österreich nicht gegeben. Es handelt sich vielmehr um eine iSd Art 7 Abs 9 und 11 der RL zulässige Beschränkung der Kostenerstattung.
Hieran ändert auch der in Umsetzung der RL erlassene, auf unionsrechtlich zulässige Vorabgenehmigungsfälle beschränkte § 7b SV-EG nichts. Denn wie der OGH zu Recht betont (Rn 46), wurde dort nur zusätzlich zu § 131 und § 150 ASVG für die nach Art 8 der RL zulässigen Fälle ein Vorabgenehmigungssystem mit (erhöhter) „besonderer Kostenerstattung“ eingeführt (vgl auch ErläutRV 33 BlgNR 25. GP 5). § 7b SV-EG beschränkt damit die Ansprüche der Versicherten auf Kostenerstattung als solche in anderen Fällen nicht (vgl allgemein zur Richtlinienkonformität des § 7b SV-EG auch OGH 28.7.2020, 10 ObS 43/20a).
Ob die Schaffung des § 7b SV-EG tatsächlich ein kluger Schachzug des Gesetzgebers war, steht freilich auf einem anderen Blatt. Denn es stellt sich durchaus die Frage, warum eine „detailliertere“ Umsetzung der RL (vgl nochmals ErläutRV 33 BlgNR 25. GP 4) gerade nur für unionsrechtlich 507 zulässige Vorabgenehmigungsfälle – also für jene Fälle, in denen der EuGH Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit wiederholt als gerechtfertigt angesehen hat – als notwendig angesehen wurde. Auch die auf den ersten Blick naheliegende Begründung, den Versicherten sollte in jenen Fällen eine höhere Kostenerstattung zugestanden werden, in denen die betreffende Behandlung im Inland nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes erbracht werden kann, schlägt nicht durch. Diese Problematik kann sich nämlich auch bei „normalen“ ambulanten Behandlungen stellen. Diesbezüglich hat der EuGH ausgehend von den Rs Kohll und Decker generelle Vorabgenehmigungssysteme als unionsrechtlich unzulässig qualifiziert. Der Gesetzgeber wäre aber keineswegs daran gehindert gewesen, zusätzlich (!) zu § 131 und § 150 ASVG ein Vorabgenehmigungssystem mit erhöhter Kostenerstattung für alle Fälle nicht zeitgerecht im Inland verfügbarer Behandlungen einzuführen (vgl näher auch Auer-Mayer, Mitverantwortung 322 ff). Vielmehr noch wäre eine solche Vorgangsweise vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes uU zur Vermeidung einer unsachlichen Differenzierung sogar geboten gewesen (krit auch Mayrhofer, Rückerstattung von Wahlarzthonoraren verfassungsrechtlich geboten? RdM 2017/151, 246; der OGH hegte dagegen in der gegenständlichen E offenbar auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 7b SV-EG).
Nicht zuletzt sollte auch ein nach dem nationalen Recht bedeutsamer Aspekt der gegenständlichen E nicht unbeachtet bleiben: Der Kl hatte die Operation in einer niedergelassenen Facharztordination durchführen lassen. Dennoch begehrte er (primär) nicht nur 100 % des für die durchgeführte Behandlung vorgesehenen Vertragstarifes niedergelassener Vertragsärzte in Österreich. Er zog als Referenzgröße für die Kostenerstattung vielmehr die – deutlich höheren – LKF-Sätze bei Anstaltspflege bzw sogar die noch höheren Kosten einer Privatbehandlung in einer Krankenanstalt heran. Dies vor allem unter Verweis darauf, dass die betreffende Behandlung in Österreich grundsätzlich auch tagesklinisch in Krankenanstalten durchgeführt werde.
Zu Recht lehnt der OGH jedoch auch diesen Anspruch unter Verweis auf das nach § 131 Abs 1 ASVG notwendige Abstellen auf die bei „entsprechenden Vertragspartnern“ angefallenen Kosten ab (Rn 81). Damit bestätigt er, was sich etwa auch aus § 39 Abs 4 Musterkrankenordnung (MKO) 2016 ergibt: Als „entsprechender Vertragspartner“ gilt, wer insb der gleichen Berufsgruppe und Organisationsform wie der/die in Anspruch genommene LeistungserbringerIn zugehört und zumindest die gleichen Ausbildungs- und sonstigen Qualifikationserfordernisse besitzt, wie sie für VertragspartnerInnen vereinbart sind. Daneben wird man auch die Art der tatsächlichen Leistungserbringung mitzuberücksichtigen haben (so auch Grillberger in Grillberger/Mosler, Ärztliches Vertragspartnerrecht [2012] 246). Folglich sind bei Leistungen einer Einzelordination die Vertragstarife vergleichbarer Einzelordinationen heranzuziehen. Weder Gruppenpraxen noch Ambulatorien oder gar bettenführende Krankenanstalten kommen hier als „entsprechende Vertragspartner“ in Betracht (vgl auch zu umgekehrten Fällen OGH10 ObS 292-296/91 SozSi 1992, 513 [Kletter]; OGH10 ObS 25/14wDRdA 2015/8, 49 [Felix]; OGH10 ObS 235/03m SSV-NF 19/61). Daran vermag, wie nunmehr erfreulicherweise auch höchstgerichtlich klargestellt wurde, auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Behandlung alternativ auch in derartigen Vertragseinrichtungen möglich wäre. 508