Ein „noch nicht an Vorbildern orientierbares Phänomen“ – Zur Tätigkeit der Wiener Arbeiterkammer 1921 bis 1923
Ein „noch nicht an Vorbildern orientierbares Phänomen“ – Zur Tätigkeit der Wiener Arbeiterkammer 1921 bis 1923
Im Rahmen der Agitation zu den zweiten AK-Wahlen der Ersten Republik 1926 publizierte die Gewerkschaftskommission der Freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften einen umfangreichen Bericht über die Tätigkeit der Arbeiterkammern in ihrer ersten Wahlperiode.* Dies schien notwendig, denn die AK als „junge in der Geschichte der Arbeiterbewegung bisher nicht in vorderster Schlachtlinie verwendete Institution“
musste sich noch „die Liebe des Proletariats, die gefühlsmäßige Verknüpfung mit jenen, für die sie da ist“
erobern.* Die Arbeiterkammern waren ein „noch nicht an Vorbildern orientierbares Phänomen“
, welche sich nicht nur gegen eine vielfach nicht gerade freundlich gesinnte Bürokratie und anderen Organisationen durchsetzen musste, sondern sich auch „gegen starke grundsätzliche Einwände der Arbeitermassen“
zu behaupten hatte.* Doch ausgestattet mit einem sehr kleinen, aber hoch qualifizierten Expertenstab gelang es den Arbeiterkammern in kurzer Zeit, sich in der Bürokratie und in der Landes- und Bundespolitik Anerkennung zu verschaffen. Die folgenden Zeilen werden versuchen, einige Aspekte der bislang kaum bekannten Tätigkeit der Arbeiterkammern, vielfach fokussiert auf die AK Wien, für die ersten schwierigen Jahre 1921 bis 1923 kursorisch zu benennen.
Bereits kurz nach der Beschlussfassung über das AKG 1920 am 26.2.1920, welches mit 9.6.1920 in Kraft trat, begannen in der Gewerkschaftskommission und im Staatssekretariat für soziale Verwaltung Vorbereitungen für die Errichtung der AK Wien und für die Durchführung der AK-Wahlen. Zur Vorbereitung der Beschlüsse der Selbstverwaltung der Arbeiterkammern, somit für die „Konzepts-, Kanzlei- und Kassageschäfte“, hatten die Kammern ein Büro einzurichten, welches „von einem fachlich geschulten, insbesondere in Angelegenheiten der Sozialpolitik erfahrenen besoldeten Sekretär zu leiten“ war.* Das Büro bzw deren MitarbeiterInnen unterstand der Aufsicht des Vorstandes. Für die AK Wien betraute Staatssekretär Ferdinand Hanusch seinen Mitarbeiter Dr. Edmund Palla mit den Vorbereitungsarbeiten.* Noch während in Wien verzweifelt ein Gebäude für das AK-Büro gesucht wurde, kam es auf Regierungsebene im Juni 1920 zum Bruch der Koalition: Konnte innerhalb der sozialdemokratisch-christlichsozialen Koalition bereits bisher über eine Vermögensabgabe und eine Verfassungsreform keine Einigung erzielt werden, richtete sich die Organisation bewaffneter Heimwehren durch Christlichsoziale in Tirol und in Salzburg gegen die Sozialdemokratie. So führte eine Debatte über die an den sozialdemokratischen Staatssekretär für Heerwesen von Christlichsozialem zusammen mit Deutschnationalen gerichtete Forderung nach Rücknahme eines Erlasses über die Vertrauensmänner der Soldaten zur Demission der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder.*
Im bis zu den Nationalratswahlen 1920 folgenden Übergangskabinett blieb jedoch Staatssekretär Ferdinand Hanusch im Amt. Nach seinem Ausscheiden aus dem Kabinett am 22.10.1920 wurde Hanusch, der auch dem Nationalrat als Abgeordneter angehörte, Mitarbeiter und dann auch Vorsitzender der Gewerkschaftskommission.* Aus dieser Position trat er in Verhandlungen mit den Ministerien als Vertreter der – noch nicht konstituierten – Wiener AK. Nach der im Februar 1921 in Wien erfolgten AK-Wahl erfolgte am 14.4.1921 die konstituierende Vollversammlung* mit der Wahl des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Mitglieder der acht Ausschüsse (Verwaltungsausschuss, Sozialpolitischer Ausschuss, Gewerbeausschuss, Finanzausschuss, Bildungsausschuss, Verkehrsausschuss, Sozialversicherungsausschuss und Sozialisierungsausschuss). Weiters wurden Beschlüsse über die Geschäftsordnung der Kammer, den Voranschlag 1921 und die Höhe der Kammerumlage (zwei Kronen pro Kopf und Lohnwoche mit Ausschluss der Lehrlinge) gefasst. Zum Präsidenten der Wiener AK wurde Franz Domes, Vorsitzender des Verbandes der österreichischen Metallarbeiter, gewählt. In eigenen Sektionsversammlungen wurde für jede der vier Sektionen (Arbeiter, Angestellte, Verkehrsarbeiter und Verkehrsangestellte) 67 ein Obmann gewählt. Vizepräsident der AK wurde der Obmann der Sektion der Angestellten, Karl Pick, auch Obmann des Zentralvereines der Kaufmännischen Angestellten Österreichs. Als Obmann der Sektion der Arbeiter wurde Nationalrat Ferdinand Hanusch, Vorsitzender der Gewerkschaftskommission Österreichs, zum Obmann der Sektion der Verkehrsarbeiter Franz Somitsch, Beamter des Allgemeinen Rechtsschutz- und Gewerkschaftsvereines der Eisenbahner, und zum Obmann der Sektion der Verkehrsangestellten Nationalrat Josef Tomschik, Zentralsekretär der Gewerkschaft der Eisenbahner, gewählt.* Die Obmänner der Sektionen bildeten zusammen mit dem Präsidenten den Vorstand der AK. Nach der Geschäftsordnung (GO) der AK kann der Vorstand der AK „auch ein anderes seiner Mitglieder mit der Geschäftsführung betrauen.“
* In Wien machte man offenbar von dieser Bestimmung Gebrauch und betraute den von der Sektion der Arbeiter als Obmann gewählten Ferdinand Hanusch als „Direktor“ mit der Führung der Geschäfte der AK.*Hanusch schied somit am 15.4.1921 als Sekretär der Gewerkschaftskommission aus. Die Bezeichnung „Direktor“ für eine Führungsposition in der AK findet sich weder im AKG noch in der GO der AK, wurde jedoch vom Sozialministerium als Aufsichtsbehörde akzeptiert.
Statt vom Präsidenten wurden fallweise Briefe und Stellungnahmen der AK von Hanusch „für den Vorstand“ als „Direktor“ gezeichnet. Mitunterzeichner aller offizieller Schriftstücke der Kammer war nach dem AKG der „Erste Sekretär“ als Leiter des AK-Büros. Als „Erster Sekretär“ (gleichzusetzen mit dem heutigen Direktor einer AK und der Bundesarbeitskammer) wurde in der Wiener AK der Ministerialbeamte Dr. Edmund Palla bestimmt, der sich – wie bereits erwähnt – als Mitarbeiter Hanuschs große Verdienste bei der Suche nach einem Gebäude der AK und beim Aufbau der AK-Infrastruktur erworben hat. Warum nicht von der Gewerkschaftskommission statt dem Metallerchef Franz Domes gleich Ferdinand Hanusch als Präsident nominiert wurde, bleibt ein Rätsel. Jedenfalls wurde von Hanuschder Aufbau des Büros der AK entscheidend beeinflusst, wenn nicht sogar die Personalauswahl auf ihn – wohl auch im Einvernehmen mit der Gewerkschaftskommission und der sozialdemokratischen Partei – zurückging.
Bereits Ende des Jahres 1921 hatte die Kammer 31 MitarbeiterInnen, infolge ihrer Aufgabe als Büro des gesamtösterreichischen „Kammertages“ und durch die Bearbeitung alle AN betreffenden Rechtsvorschriften des Bundes mehr als jede der Länderkammern.* Die ersten Mitarbeiter der Wiener AK, die jeweils eine eigene Abteilung leiteten, waren der Arbeitsrechtler Dr. Hermann Heindl, der Sozialversicherungsexperte Ernst Steiner, Dr. Friedrich Rager für den Arbeitsbereich Sozialpolitik, für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsstatistik Dr. Benedikt Kautsky und Julius Nowotny, der die Verkehrspolitik, das Wohnungswesen und den Rundfunk zu bearbeiten hatte. Anton Kimml wurde Leiter der Lehrlingsschutzstelle und Dr. Friedrich Brügel leitete die Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek. Ergänzt wurde das Büro der AK durch eine Rechnungskanzlei und eine zentrale Kanzleistelle.* Mit Ausnahme von Nowotny publizierten alle genannten Sekretäre der AK in der von der Gewerkschaftskommission herausgegebenen Zeitschrift „Der Betriebsrat“.*
Während das AKG die Heranziehung der AK für alle in Zukunft zu erlassenden Rechtsvorschriften im wirtschaftlichen und sozialen Bereich und ihre Mitsprache und Mitwirkung an vom Staat zu errichteten Einrichtungen normierte, fehlte eine entsprechende Bestimmung für die Vergangenheit.
Die Handelskammern konnten durch ihre in die Monarchie zurückgehende Geschichte auf zahlreiche in früheren Gesetzen und Verordnungen festgelegten Mitwirkungsrechte zurückblicken. Rechte, die der AK, da sie in diesen alten, aber noch gültigen Rechtsvorschriften nicht genannt wurden, nicht zustanden. Dies sollte durch einen Initiativantrag der AK-Vorstandsmitglieder und Nationalratsabgeordneten Franz Domes, Ferdinand Hanusch, Karl Pick und Josef Tomschik geändert werden. Im Gesetzesvorschlag hieß es sinngemäß, dass in allen in Gültigkeit befindlichen Rechtsvorschriften, in welcher der HK gewisse Rechte zugestanden worden waren, diese auch nun der AK zu gewähren sind.* In den parlamentarischen Ausschussverhandlungen wurde dieses Recht allerdings etwas eingeschränkt. Dem Sozialministerium wurde im Einvernehmen der AK die Möglichkeit eingeräumt, Angelegenheiten zu bestimmen, in welchen eine Mitwirkung der AK zu unterbleiben hat.* Nach der einstimmigen Beschlussfassung der im Ausschuss geänderten Fassung des Gesetzes im Nationalrat am 14.7.1921* fanden intensive Verhandlungen der AK mit allen Zentralstellen des Bundes statt. Die AK musste mit Bedauern feststellen, dass „eine der Autonomie der Kammer abgeneigte Stellungnahme bei nahezu allen Bundesbehörden offenbar wurde“.* Trotzdem gelang es – wie Edmund Palla den FunktionärInnen mitteilte –, die Einschränkung der Mitwirkungsrechte der AK in der am 25.8.1921 erlassenen VO des BM für Soziale Verwaltung nur auf Angelegenheiten zu begrenzen, die „verhältnismäßig von geringer Bedeutung“ waren. Genannt wurden Agenden, die den „Kammerräten“ der HK zustanden und solche, 68 in welchen das Verhältnis von Kosten und Mühen zu den Interessen der AN in keinem Verhältnis zu stehen schien.*
Anfang Herbst 1921 fanden in der AK Wien Verhandlungen mit den Länderkammern über eine Geschäftsordnung für den Kammertag statt.* § 23 AKG 1920 bestimmte, dass „zur Beratung und Durchführung gemeinsamer Angelegenheiten“ von allen Vorständen der AK ein Arbeiterkammertag einmal im Jahr einzuberufen sei. Die Leitung und die Geschäftsführung sind durch eine vom Sozialministerium zu genehmigende Geschäftsordnung zu beschließen. Gemeinsam mit den Länderkammern kam man überein, zwischen dem Kammertag als ständige Institution und den einzelnen Tagungen zu unterscheiden. Der „ständige Kammertag“ hat aus den Präsidenten aller Kammern zu bestehen. Diese haben einen Vorsitzenden und seinen Stellvertreter zu wählen. Die ordentliche Tagung des jährlich abzuhaltenden Kammertags sollte immer in einer anderen AK stattfinden und einen Tagungsvorsitzenden wählen. Vereinbart wurde des Weiteren, dass „die laufende Geschäftsführung aller Angelegenheiten, die durch Beschlüsse der Tagungen oder des Vorstandes als gemeinsam erklärt werden“ von der Wiener AK übernommen wird. Die AK Wien hatte in dieser Funktion alle oder einzelne Arbeiterkammern nach außen zu vertreten.
Nach den erfolgreichen Vorbesprechungen konnte am 14. und 15.10.1921 in der AK Wien der erste Kammertag stattfinden.* Unter dem Vorsitz der Präsidenten Franz Domes (Wien), Wilhelm Scheibein(Innsbruck) und Wilhelm Sieß (Feldkirch) wurde die vereinbarte Geschäftsordnung angenommen. Die AK Wien hatte ab nun alle Arbeiterkammern in gemeinsamen Angelegenheiten zu vertreten und das Büro des Kammertages zu führen. Zu Vorsitzenden des Vorstandes des ständigen Kammertages wurden die Präsidenten Franz Domes (Wien), Hans Muchitsch (Graz) und Hans Pregant (Linz) gewählt. Der Kammertag vereinbarte ein gemeinsames Vorgehen in den für die AK zentralen Politik- und Servicebereichen. Es galt, die Wirtschaftsstatistik voranzutreiben, das Arbeiterbildungswesen zu fördern, die Schulung der Betriebsräte zu übernehmen und die Weiterbildung der Gewerberichter zu organisieren. Maßnahmen im Bereich der Lehrlingsfürsorge und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurden als vorrangig angesehen. Der Kammertag beschäftigte sich mit dem von den Gewerkschaften gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) erstellten „Finanzplan“, der die Inflation hintanhalten, die Arbeitslosigkeit senken und die Wirtschaftslage verbessern sollte.* Des Weiteren wurden Beschlüsse für den Bereich der Arbeitsvermittlung, der Gewerbeinspektorate und der Einigungsämter gefasst.
Bereits in der IV. Vollversammlung der AK Wien sprach der sozialpolitische Referent Friedrich Rager über die „Lehrlingsfürsorgeaktionen“, die der AK ein ganz besonderes Anliegen waren. Hatte die sozialpolitische Gesetzgebung den jugendlichen Hilfsarbeitern und Lehrlingen einige Vorteile, wie Urlaub und verkürzte Arbeitszeit, gebracht, so lag die tatsächliche Situation der Lehrlinge im Argen. Insb im Kleingewerbe, das durch den Krieg schwer gelitten hat, musste man von „Lehrlingszüchterei“ sprechen. Die Überlastung der Gewerbeinspektoren verhinderte eine regelmäßige Kontrolle der Schutzvorschriften. Nun gab es Pläne der Bundesregierung, die Lehrlingsfürsorge den Handelskammern zu übertragen. Dies musste, wie der Referent feststellte, „auf das Schärfste bekämpft werden“.*
Die AK forderte, wie auch ein im Nationalrat eingebrachter Antrag von Robert Danneberg,* eigene Lehrlingsinspektionen, Lehrwerkstätten in größeren Betrieben und Staatslehrwerkstätten. Die AK trat mit der Gemeinde Wien und dem Land Niederösterreich bezüglich gemeinsamer Lehrlingsfürsorgeaktionen in Verbindung. Abgesehen von notwendigen gesetzlichen Maßnahmen, wie die Ausdehnung der Kompetenz der Gehilfenversammlungen der Gewerbegenossenschaften auf den Lehrlingsschutz, erschien die Errichtung eines Berufsberatungsamtes notwendig. Dieses von der Gemeinde Wien zu errichtende Institut sollte die Lehrstellenvermittlung übernehmen und den Arbeitsmarkt bezüglich der Berufswahl von Jugendlichen beobachten sowie wissenschaftliches Material zu all diesen Themen sammeln. Wie sich alsbald zeigen sollte, wurde das von der AK subventionierte Wiener Berufsberatungsamt stark frequentiert.* Nach der Errichtung eines wissenschaftlichen Beirates wurde etwa eine Enquete über die Förderung des Wiener Kunstgewerbes abgehalten, die auf die Nachwuchssorgen dieses Gewerbes aufmerksam machte. Im Jahr 1923 konnten bei rund 23.000 Beratungen über 2.800 Lehrvermittlungen durchgeführt werden. Die AK nahm sich der Förderung des Rechtsschutzes an. Unter der Leitung von Anton Kimml wurde eine Rechtsschutzstelle für Lehrlinge errichtet, die bereits im Monat Jänner 1922 von ungefähr 400 Lehrlingen und Lehrmädchen in Anspruch genommen wurde.* Im September 1921 regte das christlichsoziale Mitglied der Vollversammlung Franz Hemala in der Vollversammlung der AK die Mitsprache von Lehrlingen an den Fürsorgeaktionen an.* In der darauf folgenden Diskussion setzte sich der Angestelltengewerkschafter und AK-Vizepräsident Karl Pick dafür ein, dass „sich die Lehrlingsschutzstelle
69selbst einen Beirat jugendlicher Arbeiter schaffe“
, indem die „Jugendorganisationen und Lehrlinge eine Vertretung in der neuen Institution erhalten könnten“.* Bereits im März 1922 konnte darauf hingewiesen werden, dass der von Franz Hemala und Karl Pick geforderte Jugendbeirat bei der AK-Lehrlingsschutzstelle errichtet werden konnte.* Es gehörten ihm Vertreter der vier maßgebenden Jugendorganisationen an.* Einer der ersten Forderungen des Jugendbeirates bestand in der Beibehaltung des Tagesunterrichts für Lehrlinge, der von der Wirtschaft heftig bekämpft wurde.
Die grassierende Inflation vernichtete die Lehrlingsentschädigungen. Sie waren kaum noch einen Fahrschein der Wiener Straßenbahn wert. Die Eltern der Lehrlinge beschwerten sich bei der AK-Lehrlingsstelle, denn sie konnten kaum noch für ihre Jugendlichen aufkommen. Um die Not der Lehrlinge zu mildern, verhandelte die Wiener AK mit dem Sozialministerium und mit der Gemeinde Wien über eine Bekleidungsaktion für Lehrlinge und bat die Länderkammern, ebenfalls Lehrlingsschutzstellen zu errichten.* Das Sozialministerium wurde gebeten, gesetzliche Minimallöhne für Lehrlinge auf Grundlage des Metaller-KollV festzulegen.* Nachdem dies zu keinem Erfolg führte, brachten Ferdinand Hanusch, Franz Domes, Anton Hueber und Robert Danneberg einen von der Lehrlingsstelle der AK ausgearbeiteten Gesetzesantrag in den Nationalrat ein.* Sah der Antrag der Sozialdemokraten* die Festsetzung der Höhe der Lehrlingsentschädigung durch die Einigungsämter vor, so stieß er auf Widerstand der Regierungsparteien.* Nach Ansicht der Christlichsozialen wurde in dem Antrag nicht auf die besonderen Verhältnisse einzelner Gewerbe Rücksicht genommen. Es sollte jeder Gewerbegenossenschaft zusammen mit dem Gehilfenausschuss selbst überlassen werden, die Höhe des Lehrlingsentgeltes zu bestimmen.* Für die Unternehmungen, die keiner Genossenschaft angehören, sollte die industrielle Bezirkskommission für die Festsetzung der Höhe der Entlohnung der Lehrlinge zuständig sein. Obwohl das letztlich beschlossene Gesetz* eine Verschlechterung des Antrags von AK, Gewerkschaftskommission und SDAP darstellte, war es doch eine bedeutende Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Zustand und ein Erfolg der Bemühungen der AK.*
Im Bereich des Bildungswesens sah die Wiener AK ihre Aufgabe vor allem in der Schulung von GewerkschaftsfunktionärInnen und BetriebsrätInnen.* Bereits 1921 wurde eine „Instruktorenschule“ errichtet, die später als „Wirtschaftsschule“ weitergeführt werden sollte. Der erste Kammertag im Oktober 1921 beauftragte die AK Wien gemeinsam mit der Gewerkschaftskommission für die Schulung der Betriebsräte ein „Bildungsprogramm“ zu entwerfen. Die Kenntnis der arbeitsrechtlichen Themen sollte in Bildungskursen in den Volksheimen und in Form von Stiftungskursen in den Volkshochschulen stattfinden. Themen waren Sozialrecht, Sozialhygiene, Naturwissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Verfassungskunde. Darüber hinaus wurden Kurse über das gesamte Arbeitsrecht für Beisitzer in den Gewerbegerichten und Einigungsämtern veranstaltet. Ein weiterer Schwerpunkt war die Berufsfortbildung. So etwa wurden Fachkurse im Technologischen Gewerbemuseum sowie in gewerblichen Fortbildungsschulen angeboten und gefördert. Den Spitzenfunktionären von SDAP und Gewerkschaft war bewusst, dass zur Bearbeitung von Stellungnahmen und für die Erstellung von Studien der Aufbau einer entsprechenden wissenschaftlichen Infrastruktur erforderlich war. Bereits kurz nach der Konstituierung der AK wurde dies denn auch Thema im Parteivorstand der SDAP.
Man war sich darüber einig, dass in der AK eine „Referentenbibliothek“ errichtet werden sollte.* Um diese entsprechend auszustatten, wurden ihr umfangreiche Bestände von Engelbert Pernersdorfer und Leopold Winarsky zur Verfügung gestellt. Alfred Adler skizzierte bei der Eröffnung der Bibliothek, die auch ein „Archiv der Arbeiterbewegung“ sein sollte, die Aufgabe der Bibliothek in Abgrenzung zu den „Volksbibliotheken“: „Die Bibliothek, die wir heute eröffnen, ist eine Lehrerbibliothek: Sie soll denjenigen dienen, die als Lehrer in der Arbeiterbewegung tätig sind. Sie soll (...) dem Studium im Dienste der Arbeiterbewegung dienen. Die Bibliothek ist also nicht für diejenigen bestimmt, die bloß ihre persönliche Belehrung suchen.“* Damit wurde aber auch die grundsätzliche Positionierung der AK im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bildungswesen angesprochen: Die AK unterstützte in der Zwischenkriegszeit die Bildungspolitik von Gewerkschaften und SDAP durch Zurverfügungstellung der Infrastruktur für Vortragende, durch gezieltes Networking mit der Wissenschaft und durch finanzielle Unterstützung sowie durch Vortrags- und Publikationstätigkeit ihrer Bediensteten.
1926 schrieb die Gewerkschaftskommission in ihrem Bericht über die Tätigkeit der AK: „Über die Bedeutung der Arbeitslosenfrage für das Schicksal Österreichs brauchen wir hier wohl kaum ein Wort
70 zu verlieren. Sie ist das Zentralproblem, um das sich Österreichs Volkswirtschaft, Sozialpolitik und arbeitsrechtliche Gesetzgebung dreht.“* Bereits in der im Juni 1921 abgehaltenen Vollversammlung forderte die AK Mitsprache bei der Verwendung der Mittel aus dem Arbeitslosenversicherungsfonds.* Der Fonds wurde aus Beitragsüberschüssen gespeist, über deren Vergabe bislang nur Sozial- und Finanzministerium allein entschieden.
Unter Sozialminister Josef Resch (1920/21 Bundesminister für soziale Verwaltung) wurde – wie von der AK angeregt, jedoch ohne gesetzliche Normierung – ein Beirat eingesetzt, der sich mit dieser Materie zu beschäftigen hatte. Vom Kammertag wurden der steirische Präsident Josef Muchitsch und der Wiener Erste Sekretär Edmund Palla in den Arbeitslosenversicherungsbeirat entsandt.* In der Folge gelang es durch den Beirat, einen einheitlichen, nicht nach Gefahrenklassen gestaffelten Versicherungsbeitrag durchzusetzen.* Davon abgesehen zog sich über all die Jahre der Kampf um die Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung, um die Verlängerung der Unterstützungsdauer, um eine Erleichterung der Bezugsbedingungen und letztlich auch um eine Förderung der „produktiven Arbeitslosenfürsorge“ (im heutigen Sprachgebrauch: „aktive Arbeitsmarktpolitik“). Deutliche Investitionen in die Infrastruktur sollten dazu beitragen, die Anzahl der Arbeitslosen zu senken.*
Nachdem in der Textil- und Metallindustrie zwischen den Gewerkschaften und den AG Vereinbarungen über die Einführung von Kurzarbeit getroffen wurde, verlangte Ferdinand Hanusch eine entsprechende Förderung der Kurzarbeit durch die Bundesregierung. Er bezeichnete die Kurzarbeit als „eine der größten Solidaritätsaktionen der Arbeiterschaft“. Trotz zahlreicher von der AK ausgearbeiteter und von der SDAP in den Nationalrat eingebrachter Gesetzesinitiativen blieb der Erfolg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ein bescheidener. In einer leidenschaftlich vorgetragenen Rede im Nationalrat stellte der „Direktor“ der Wiener AK Ferdinand Hanusch die christlichsozial-deutschnationale Bundesregierung im Februar 1923 an den Pranger:* Wohl konnte anfangs 1923 eine kleine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung durchgesetzt werden, doch es brauchte dafür langwierige Verhandlungen. Im Juli 1922 wurde zwar die „produktive Arbeitslosenfürsorge“ gesetzlich verankert, doch von den Ministerien wurde nichts zur Umsetzung gemacht. Es wäre zu erwarten gewesen, dass Verhandlungen mit den Ländern, Gemeinden und Interessenvertretungen stattfinden, doch man hatte vergeblich darauf gewartet. Hatte die Bundesregierung bei der Förderung der produktiven Arbeitslosenfürsorge vollständig versagt, so war sie auch untätig in der Unterstützung der Kurzarbeit. Letztlich hat die Bundesregierung ohne Scham „Menschen, die bis zum Oktober im Besitze der Arbeitslosenunterstützung waren, die Jugendlichen unter 16 Jahren, einfach durch Verordnung aus der Arbeitslosenunterstützung hinausgeworfen“.*
Das Problem der seit dem Herbst 1921 steigenden Arbeitslosigkeit und die grassierende Geldentwertung, die Vermögen und Einkommen schrumpfen ließ und die Nachfrage dämpfte, bestimmte die auf innerstaatliche wirtschaftliche Stabilität ausgerichtete Wirtschaftspolitik der AK. Zur Gesundung der Wirtschaft unterstützten die Gewerkschaften den „sozialdemokratischen Finanzplan“, der Vermögenssteuern, Abbau von Bürokratie und vor allem eine im Inland aufzubringende Anleihe vorsah.*
Die AK hoffte, mit einem stufenweisen Abbau der Lebensmittelsubventionen einen Beitrag zur Budgetkonsolidierung bzw zur Rettung der Volkswirtschaft leisten zu können.* Nachdem die Geldentwertung ein ungeheures Ausmaß annahm, das Budgetdefizit nicht mehr mit bisherigen Mitteln zu decken war, der Staatsbankrott drohte, gelang es Bundeskanzler Ignaz Seipel über Vermittlung des Völkerbundes, eine auf 20 Jahre laufende Anleihe zu bekommen. Allerdings musste sich Österreich unter das Kuratel des Völkerbundes stellen und eine schmerzhafte Sanierung über sich ergehen lassen. In der im Oktober 1922 abgehaltenen Vollversammlung der Wiener AK stellte Ferdinand Hanusch, ohne vorerst ein abschließendes Urteil über die in Genf geschlossenen Verträge abzugeben, fest, dass von der Bundesregierung die Interessen des österreichischen Volkes und vor allem der österreichischen Arbeiter „sehr mangelhaft“ gewahrt wurden.*Hanusch forderte zur Stabilisierung der ökonomischen Verhältnisse einen „wohlüberlegten Wirtschaftsplan“
. In diesem sollten „Richtlinien für eine einheitliche, nur den Interessen unseres Staates angepasste Finanz-, Zoll-, Handels- und Produktionspolitik“
enthalten sein. Die Ausgestaltung der produktiven Arbeitslosenfürsorge und die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten sollten durch ein Investitionsprogramm des Staates sichergestellt werden. Der „Direktor“ der AK wies auf den sozialdemokratischen Finanzplan hin, in dem entsprechende Maßnahmen zur Budgetkonsolidierung aufgelistet sind. Am 27. und 28.10.1922 fand zusammen mit der Vollversammlung der AK Wien ein Kammertag statt, welcher der Beschlussfassung über die Stellungnahme der AK zur Genfer Sanierung gewidmet war.*Edmund Palla erläuterte die umfangreiche Stellungnahme, die im Kern die von Hanusch bereits skizzierten wirtschaftspolitischen Vorschläge enthielt. Die AK kritisierte eingangs scharf, dass die Arbeiterschaft nicht am Sanierungswerk mitarbeiten durfte und stellte nach eingehender Besprechung der einzelnen Vorschläge zur Sanierung fest: „Der schwerstwiegende
71 Einwand, der gegen die Vorschläge der Regierung erhoben werden muss, besteht darin, dass das ganze Sanierungsprogramm nahezu ausschließlich vom Standpunkt der Abgaben- und Steuerpolitik behandelt wird, während dieses Problem richtigerweise nur im Rahmen der gesamten Wirtschaftspolitik unter sorgfältiger Prüfung und Berücksichtigung aller Auswirkungen und Wechselbeziehungen der einzelnen Maßnahmen gelöst werden kann.“
* Der vom Büro der AK im Einvernehmen mit den Freien Gewerkschaften formulierten Kritik am Seipelschen Sanierungswerk schlossen sich auch die christlichsozialen Gewerkschaften an. So betonte Karl Untermüller, dass der umfangreichen Stellungnahme der AK „in den meisten Belangen“ zugestimmt werden könne. Er sah durch das Sanierungsprogramm „zwar das Budget saniert, aber die Volkswirtschaft zugrunde gerichtet“, lehnte die Warenumsatzsteuer ab und befürchtete, dass durch die Sanierung „eine schwere Wirtschaftskrise“ hervorgerufen werden könnte.* Die Stellungnahme der AK wurde einstimmig beschlossen. Wie sich in der Folge zeigte, konnte durch das Sanierungswerk durch gewaltige Einsparungen, Steuererhöhungen und Beamtenabbau zwar das Budget saniert werden, es diente jedoch letztlich der bürgerlichen Regierung als Begründung zum Abbau sozialer Errungenschaften.
Die von der AK Wien publizierten Kurzberichte über die Vollversammlungen der AK stellen, abgesehen vom behördlichen Schriftgut der Ministerien, die einzige und sehr lückenhafte Quelle über die Tätigkeit der AK in den Jahren 1921 bis 1923 dar. Viele Entscheidungen der AK fielen im Vorstand, in den Sektionsversammlungen und in den Ausschüssen. Sie wurden in den Vollversammlungen oft nicht berichtet. Das entsprechende Schriftgut wurde von der „Deutschen Arbeitsfront“ 1938 geraubt und ging verloren. Dennoch zeigen die Berichte über die Vollversammlungen und die rege publizistische Tätigkeit der Referenten der AK in den Zeitschriften „Der Betriebsrat“ (1921-1923) und nachfolgend in „Arbeit und Wirtschaft“ (ab 1923) von einem ungeheuren Arbeitspensum. Nachdem alle Arbeiterkammern mehrheitlich von den Freien Gewerkschaften politisch geleitet wurden, orientierte sich die Politik der AK an jener der Sozialdemokratie. Wurden Vorschläge der AK von der Bundesregierung nicht aufgenommen, folgte meist ein parlamentarischer Antrag der SDAP. Abgesehen davon gelang es in der Wiener AK, ein durchaus konsensuales Verhältnis zwischen den Freien und christlichsozialen Gewerkschaftsfunktionären herzustellen. Zwar tadelten die christlichsozialen AK-Mitglieder (heute „Kammerräte“) „das zu selbständige Vorgehen des Vorstandes“ und „die Erledigung einzelner Fragen unter Bevorzugung der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion und der freien Gewerkschaften“,* stimmten jedoch bei wichtigen politischen Anträgen mit den Vertretern der Freien Gewerkschaften in der Vollversammlung. Auch dadurch gelang es der AK, Gewicht in der politischen Auseinandersetzung zu erlangen und durch ihre profunden Stellungnahmen Angriffe auf die Rechte der AN zumindest abzuschwächen.