GärtnerKoalitionsfreiheit und Crowdwork. Zur Kollektivierung der Beschäftigteninteressen soloselbständiger Crowdworker

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2020, IV, 381 Seiten, € 113,–

SOPHIESCHWERTNER (WIEN)

Neue digitale Geschäftsmodelle und Formen der Arbeitsorganisation haben zu weitreichenden Veränderungen der Arbeitsbeziehungen geführt. In diesem Kontext besondere Beachtung hat ob der Vielzahl und Komplexität der damit verbundenen arbeitsrechtlichen Problemstellungen das Phänomen „Crowdwork“ verdient. Das zu rezensierende Werk von Jan Armin Gärtner widmet sich, wie schon dem Untertitel zu entnehmen ist, vor allem der wissenschaftlich wie sozialpolitisch brisanten Frage nach den kollektivrechtlichen Handlungsmöglichkeiten zur Schaffung angemessener Arbeitsbedingungen für soloselbständige Plattformbeschäftigte. Die Publikation beruht auf der im Juli 2019 eingereichten Dissertation des Autors, welche mit dem Appelhagen-Promotionspreis der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen ausgezeichnet wurde.

Gärtners Werk gliedert sich in drei unterschiedlich gewichtete, jedoch aufeinander aufbauende Teile. Eingangs werden die verschiedenen Erscheinungsformen von Plattformarbeit erörtert, deren Funktionsweise skizziert und Spannungsfelder der Plattformökonomie anhand prominenter Beispiele von Crowdwork-Plattformen aufgezeigt. Anschließend schränkt der Autor den Untersuchungsgegenstand auf Crowdwork im engeren Sinn ein, worunter die entgeltliche Erledigung rein digitaler Arbeitsaufgaben über als „digitale Marktplätze“ fungierende Internetplattformen zu verstehen ist.

Im Fokus des zweiten Teils steht die Frage, welcher rechtliche Schutz Plattformbeschäftigten de lege lata zukommt. Hierfür entscheidend ist der arbeitsrechtliche Status im Einzelfall. Gärtners Zwischenergebnis, es handle sich bei der überwiegenden Anzahl der Crowdworker um Soloselbständige, welche auf Grund von Werkverträgen iSd § 631 BGB tätig würden, findet grundsätzlich im deutschen Meinungsstand Deckung (so etwa Däubler/Klebe, NZA 2015, 1032; Schubert, RdA 2018, 200). Im österreichischen Schrifttum hingegen haben vor allem Risak und Warter (Risak, ZAS 2015, 18; Warter, Crowdwork [2016]) schon in der Anfangsphase der rechtswissenschaftlichen Befassung mit Fragen plattformbasierter Arbeit vertreten, dass bei starker Fremdbestimmung und engmaschigen Kontrollen sehr wohl persönliche Abhängigkeit bzw im Falle wirtschaftlicher Unselbständigkeit AN-Ähnlichkeit vorliegen könne. Zuletzt haben europaweit einige Gerichte – darunter auch das BAG (1.12.2020, 9 AZR 102/20) – Plattformbeschäftigte iwS als AN qualifiziert (hierzu De Stefano et al, Platform work and the employment relationship, ILO Working Paper 27 [2021]). Diese Grundannahme des Autors könnte daher zusehends ins Wanken geraten.

Vor dem Hintergrund, dass das individualrechtliche Schutzregime für soloselbständige Crowdworker de lege lata nicht geeignet ist, eine generelle Verbesserung der Arbeitsbedingungen herbeizuführen (Kapitel 4), erarbeitet Gärtner im dritten Teil, der das Herzstück des Werks bildet, Möglichkeiten der Interessenkollektivierung soloselbständiger Crowdworker. Der Verfasser geht idS zunächst auf die persönliche und sodann auf die inhaltliche Reichweite der Koalitionsfreiheit des Art 9 Abs 3 GG ein; vorauszuschicken ist hier, dass die Frage des personellen Schutzbereichs der Tarifautonomie im deutschen Schrifttum schon im Hinblick auf arbeitnehmerähnliche Personen (§ 12a TVG) nicht einheitlich beantwortet wird (Löwisch/Rieble, TVG4 [2017] § 12a; siehe aber BAG 15.2.2005, 9 AZR 51/04). Noch komplizierter stellt sich die verfassungsrechtliche Situation daher in Hinblick auf Soloselbständige dar. Gärtner gelingt es jedoch, gestützt 76 auf den historischen Schutzzweck und die grundsätzliche Entwicklungsfreiheit des Grundrechts, überzeugend zu argumentieren, dass soloselbständige Crowdworker am grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt partizipieren. Entscheidend sollen nachvollziehbarerweise individuelle Verhandlungsschwäche und ein mit AN vergleichbarer sozioökonomischer Status sein. Mangels entsprechender Ausgestaltung durch den deutschen Gesetzgeber ist Koalitionen soloselbständiger Crowdworker jedoch ausschließlich der Abschluss schuldrechtlicher Vereinbarungen möglich, deren Durchsetzung nach Ansicht des Verfassers durch atypische Formen des Arbeitskampfes, wie etwa Boykott oder „Cyberattacken“, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erkämpfbar ist.

Ausführlich befasst sich Gärtner überdies mit der Mobilisierung soloselbständiger Plattformbeschäftigter, potentiellen Kollektivakteuren und vertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten schuldrechtlicher Vereinbarungen. Der Autor zeigt auf, dass sich diese angesichts individualvertraglicher Abweichungsmöglichkeiten von den kollektiv vereinbarten Bedingungen in Hinblick auf die Gewährleistung effektiven Schutzes als problematisch erweisen. Wenngleich plausibel dargelegt wird, dass sich etwa über § 328 BGB (Vertrag zu Gunsten Dritter, vgl §§ 881, 882 ABGB) für „Hauskoalitionsverträge“ auch direkte Ansprüche der Crowdworker gegen ihre Auftraggeber erzeugen lassen, erscheint es de lege ferenda idZ auch für Österreich überzeugender, die Voraussetzungen des kollektiven Arbeitsrechts zu überdenken und das Kollektivvertragssystem zumindest partiell für schutzbedürftige Selbständige zu öffnen.

Abschließend widmet sich der Autor den Vorgaben des Unionsrechts. Von Fragen der Vereinbarkeit mit Art 49 und 56 AEUV abgesehen (Kapitel 8), stehen Kollektivmaßnahmen Soloselbständiger vor allem wettbewerbsrechtliche Bedenken entgegen. Die kryptischen Aussagen des EuGH in der E FNV Kunsten (11.9.2014, C-413/13) haben hier für reichlich Irritation gesorgt (Stichwort „Scheinselbständige“). Gärtner legt idZ etwas gar kurz und bündig dar, dass auch Kollektivvereinbarungen, die auf die Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen soloselbständiger Crowdworker abzielen, aufgrund von Art 28 GRC dem Anwendungsbereich des europäischen Wettbewerbsrechts entzogen sein müssten. Dies wäre mE einer vertieften Argumentation zugänglich gewesen. Festgehalten sei indes, dass nunmehr auch die EU-Kommission die sozialpolitische Notwendigkeit einer diesbezüglichen Klarstellung erkannt und eine Initiative zur Anpassung des Anwendungsbereichs der EU-Wettbewerbsregeln für Selbständige veröffentlicht hat (Ref.Ares[2021]102652).

In Summe wird bei der Lektüre des Werks jedenfalls deutlich, dass die Kollektivierungstendenzen im Bereich der Plattformökonomie noch in den Kinderschuhen stecken und Anpassungen des geltenden rechtlichen Rahmens wohl geboten sind. Wissenschaftlich fundierte und kritische Auseinandersetzungen wie die vorliegende Dissertation von Jan Armin Gärtner, welche nicht nur strukturelle Konfliktlagen, sondern auch gekonnt Lösungsansätze aufzeigen, leisten hier zweifelsohne einen äußerst wichtigen Beitrag zur Diskussion und Weiterentwicklung der Materie. Das rezensierte Werk kann daher uneingeschränkt empfohlen werden.