Schlachter/Heinig (Hrsg)Europäisches Arbeits- und Sozialrecht

2. Auflage, facultas/Nomos/Dike Verlag, Wien 2021, 1.440 Seiten, gebunden, € 193,30

BERNHARDSPIEGEL (WIEN)

Das nahezu 1.500 Seiten starke Werk ist Bestandteil einer 12-bändigen Enzyklopädie, die versucht, das gesamte Europarecht abzudecken. Vor der Besprechung dieses imposanten Werks ist zunächst eine Standortbestimmung erforderlich.

Duden online definiert eine Enzyklopädie folgendermaßen: „Nachschlagewerk, in dem der gesamte Wissensstoff aller Disziplinen oder nur eines Fachgebiets in alphabetischer oder systematischer Anordnung dargestellt ist.“

Das „Europäische Arbeits- und Sozialrecht“ behandelt – wie bereits der Titel besagt – dieses Fachgebiet, allerdings natürlich nicht in alphabetischer Reihenfolge, sondern thematisch sortiert. Im Unterschied zu Kommentaren wird nicht zunächst der jeweils einschlägige Rechtstext abgedruckt und dann erläutert, sondern die verschiedenen europarechtlichen Rechtsquellen voraussetzend wird deren Inhalt dargestellt und analysiert. Das gibt größere Freiheit, da auch übergreifend mehrere Rechtsquellen leichter gemeinsam erläutert und verglichen werden können.

40 Autorinnen und Autoren habe sich dieses nahezu uferlose Rechtsgebiet aufgeteilt und jeweils spezifische Bereiche bearbeitet. Eine Auflistung aller behandelten Kapitel und Rechtsquellen würde den Rahmen einer Besprechung zweifellos sprengen. Interessierte Leserinnen und Leser finden Abhandlungen zu allen einschlägigen EU-Richtlinien und Verordnungen aber natürlich auch zu den unmittelbaren Auswirkungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Das Werk startet in den ersten 300 Seiten mit einer „Einführung“, die sich mit den für alle Instrumente geltenden Grundlagen beschäftigt. Dabei wird bereits der wesentliche Unterschied zwischen den an sich aus nationalem Verständnis sehr verwandten Rechtsgebieten auf europarechtlicher Ebene deutlich. Während sich das europäische Sozialrecht schwerpunktmäßig mit den grenzüberschreitenden Aspekten beschäftigt (aus historischer Sicht aufbauend auf der AN-Freizügigkeit und natürlich damit verbunden mit der grenzüberschreitenden Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit), betrifft das europäische Arbeitsrecht zusätzlich immer mehr Aspekte des nationalen Arbeitsrechts, in das das Europarecht harmonisierend oder zumindest durch die Festlegung von Mindeststandards eingreift. Diese Rechtsquellen werden unter dem Schlagwort „Europäischer AN-Schutz“ zusammengefasst (wo zB Regelungen betreffend Arbeitszeit, Urlaub, Betriebsübergang oder Massenentlassungen enthalten sind). Ergänzt wird der Bereich des Arbeitsrechts durch die europäischen Regelungen betreffend die Mitbestimmungsrechte der AN, Mutter- und Jugendschutz sowie das europäische Arbeitsschutzrecht (worunter insb die auf der Rahmen-RL 89/391/EWG aufbauenden Einzelrichtlinien abgehandelt werden, wie zB die RL zum Schutz der AN vor Karzinogenen). Als Klammer über beide Bereiche können die europarechtlichen Regelungen zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen und Männern erwähnt werden, die ebenfalls nicht zu kurz kommen.

Die einzelnen Abschnitte stellen nicht nur das jeweilige Rechtsgebiet umfassend dar, sondern weisen auch auf die ökonomische Bedeutung und die historische Entwicklung hin. Als gutes Beispiel kann man die Ausführungen zur Entsendung (S 515 ff) herausgreifen, wo die praktische Bedeutung an Hand der letzten verfügbaren Zahlen, aber auch die ökonomischen Hintergründe erläutert werden. Die Abhandlung stellt dann der Reihe nach die Bedeutung der Dienstleistungsfreiheit nach Art 56 AEUV für die Entsendung, die Einbeziehung auch der AN-Freizügigkeit nach Art 45 AEUV, sofern die grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung betroffen ist, das generell nach der „Rom-I-VO (EG) 593/2008“ anzuwendende Arbeitsrecht und dann die Spezialregelungen dazu durch die „Entsende-RL“ 96/71/EG idF der Änderungs-RL 2018/957/EU sowie der „Durchsetzungs-RL“ 2014/67/EU dar. Dabei wird auch bereits detailliert auf die Änderungen – zB das Ersetzen der Garantie der Mindestlohnsätze durch den ortsüblichen Lohn – eingegangen. Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die Entsendung innerhalb der Union (bzw des EWR) behandelt wird, sondern auch das Europarecht betreffend die Entsendung aus Drittländern nach der „Intra-Corporate-Transfer-( ICT-)RL“ 2014/66/EU (S 578 ff) – ein Bereich, der sehr oft in den europarechtlichen arbeits- und sozialrechtlichen Abhandlungen vernachlässigt wird.

Besonders hervorzuheben und empfehlenswert ist mE der Abschnitt betreffend die sozial- und arbeitsrechtliche Relevanz der Unionsbürgerschaft (S 177 ff). Dieser Teil beinhaltet wohl die intensivste Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung, wobei eine tabellarische Darstellung der verschiedenen Entwicklungsstufen des Primärrechts (S 188 f) einen guten Einstieg in das Thema ermöglicht. In der Folge wird minuziös die Judikatur des EuGH beginnend mit der Rs C-214/94 vom 30.4.1996, Boukhalfa (die in diesem Zusammenhang selten erwähnt wird) bis hin zu den gut bekannten Entscheidungen 79 betreffend die „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ (EuGH 19.9.2013, C-140/12, Brey; EuGH 11.11.2014, C-333/13, Dano; EuGH 15.9.2015, C-67/14, und Alimanovic) abgearbeitet. Die Autorin dieses Abschnitts (Mangold) ist abschließend der Auffassung, dass man damit aber nicht am Schlusspunkt dieser Entwicklung betreffend die Bedeutung der Unionsbürgerschaft angelangt ist, sondern dass unter Berufung darauf auch die vielfach kritisierten Entscheidungen des EuGH betreffend den Vorrang der ökonomischen Grundfreiheiten gegenüber dem kollektiven Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten (EuGH 11.12.2007, C-438/05, Viking; EuGH 18.12.2007, C-341/05, Laval, oder EuGH 3.4.2008, C-346/06, Rüffert) in einem anderen Licht erscheinen und zu einer Stärkung der AN-Rechte führen könnten. Dieser Ausblick in die Zukunft zeigt schon, dass es sich auch bei einem solch monumentalen Werk immer nur um eine Momentaufnahme aus historischer Sicht handeln kann und zukünftig Entwicklungen nie vorhersehbar sind. So wurde zB noch nicht im Detail auf die E des EuGH vom 5.2.2016, C-299/14, Garcia-Nieto, eingegangen, die als Mosaikstein in der mit Dano begonnene Judikaturlinie gesehen werden kann, aber auch nicht auf die E des EuGH vom 15.7.2021, C-709/20, CG gegen The Department for Communities in Northern Ireland, die die bisherige Sicherheit, wonach immer ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht erforderlich ist, um diskriminierungsfreien Zugang zu Sozialleistungen zu haben, wieder beseitigt haben könnte, da in dieser Rechtssache auch ein rein nationales (europarechtlich nicht gegebenes) Aufenthaltsrecht einen solchen Anspruch auslösen kann (noch offen ist, ob auch eine aufenthaltsrechtliche Duldung ausreicht).

Wie schwer es ist, in diesem einen ständigen Wandel unterworfenen Bereich des Europarechts à jour zu bleiben, wird auch deutlich, indem die Europäische Arbeitsbehörde (gegründet aufgrund der VO [EU] 2019/1149) zwar im Zusammenhang mit dem europäischen Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit erwähnt wird (S 1262), diese aber eine Bedeutung weit über diesen Rechtsbereich hinausreichend erlangen könnte, da sie für sämtliche Aspekte der AN-Freizügigkeit zuständig ist. Ein weiterer Bereich, der noch nicht behandelt wurde, ist der Brexit, der in vielen Teilen zu völlig neuem Europarecht bzw internationalem Recht unter Einbindung der EU geführt hat (nur als Beispiel ist auf die neue Definition des Anwendungsbereichs der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit unter Heranziehung der aufenthaltsrechtlichen Stellung der betreffenden Personen im Austrittsabkommen [Art 30 Abs 3 und 4] hinzuweisen bzw auf die Schaffung eines eigenständigen Koordinierungsmechanismus nach dem Handels- und Zusammenarbeitsabkommen [der zwar die Verordnungen (EG) 883/2004 und 987/2009 grundsätzlich kopiert, aber in etlichen Bereichen doch einen eigenständigen Weg beschreitet]).

Die Beschreibung des Inhaltes dieses Werks soll aber nicht mit den Hinweisen auf jene Bereiche enden, die noch nicht aufgenommen werden konnten, sondern es ist nochmals zu betonen, wie umfassend die Behandlung der bearbeiteten Rechtsbereiche ist. Es wird nämlich auch auf jene Auswirkungen des Europarechts auf die arbeits- und sozialrechtlichen Systeme der Mitgliedstaaten eingegangen, die normalerweise in Abhandlungen zu diesem Thema seltener angesprochen werden. Das betrifft den Einfluss des europäischen Wettbewerbs-, Beihilfen- und Vergaberechts (S 1307 ff). Dieser Bereich rückt immer wieder wellenartig ins Interesse der Öffentlichkeit, wenn zB die Struktur staatlicher Sozialschutzsysteme durch eine Marktöffnung (zB Zulassung privater Versicherungsunternehmen an Stelle der oder neben den staatlichen Sozialversicherungsträgern) bedroht scheint. Das Eingehen auch auf diesen Rechtsbereich trägt zur Vollständigkeit des Werkes bei.

Abschließend noch einige Bemerkungen zum Aufbau und der Struktur: Jeder Abschnitt beginnt mit einer ausführlichen Literaturzusammenstellung, wobei aber natürlich das Schwergewicht auf den deutschlandbezogenen Arbeiten liegt, was aber nicht störend ist, da die Auswirkungen der verschiedenen europarechtlichen Instrumente in Österreich und Deutschland sehr oft ähnlich sind und auch bei uns sehr oft auf die Deutschland betreffende Literatur referenziert wird (insb natürlich dann, wenn es sich um einheitliches koordinierendes Unionsrecht handelt). Jeder Abschnitt wird durch eine Zusammenstellung der wesentlichen EuGH-Urteile abgeschlossen. Dabei fällt die unterschiedliche Zitierweise auf: Während in Österreich überwiegend folgendermaßen zitiert wird: „EuGHC-140/12, Brey, ECLI:EU:C:2013:565“ findet sich in der deutschen Literatur – somit auch in diesem Werk – meist die Zitation „EuGH 19.9.2013 – C-140/12, ECLI:EU:C:2013:565 – Brey“ (zT fehlt sogar die Bezeichnung der beteiligten Parteien). Für den Leser ist mE zumindest in der Vergangenheit der Name der Parteien eines Falls das gängigste Identifikationsmerkmal, sodass die österreichische Schreibweise etwas leserfreundlicher sein dürfte. Allerdings trifft das auf die neueren Entscheidungen, in denen vermehrt der Schutz der Daten der beteiligten Personen im Vordergrund steht (zB die etlichen bereits vorhandenen „X-Fälle“), ohnehin nicht mehr zu. ME sollte man sich auch einmal generell die Frage stellen, ob tatsächlich immer der Verweis auf die amtliche Sammlung erforderlich ist, da man ohnehin konkrete Urteile ganz leicht mit dem Suchformular auf der Homepage des EuGH nur mit der Nummer findet.

Das Europäische Arbeits- und Sozialrecht von Schlachter/Heinig ist ein Werk, das mit einem unglaublichen Detailreichtum Einblick in die Vielfältigkeit dieses wichtigen europäischen Rechtsbereichs bietet. Es stimmt sicherlich nachdenklich, wenn man zunächst von dem Grundsatz ausgeht, dass gerade für den Bereich des Sozialrechts (viel mehr als beim Arbeitsrecht) die EU an sich keine Zuständigkeit hat und die Mitgliedstaaten innerhalb der Grenzen des Unionsrechts ihre Systeme frei gestalten und entwickeln können. Nach der Lektüre wird deutlich, wie weit diese Freiheit durch EU-Recht bereits beschränkt ist. Wiewohl dieses Recht von vielen als sperrig und komplex betrachtet wird, schafft es die AutorInnenschaft durch den nicht allzu komplizierten Stil, zT durchaus spannende Texte hervorzubringen, die man gerne liest, auch wenn man nicht gerade Lösungsansätze für ein konkret vorliegendes Problem sucht. Das Werk eignet sich daher abschnittsweise sicher auch als Lehrbuch für den akademischen Bereich für Studierende, die sich vertiefend mit diesem Rechtsbereich befassen wollen. Insb die Verweise auf weiterführende Literatur setzt der angeleiteten Erforschung dieses Rechtsbereichs nahezu keine Grenzen. 80