6Das volljährige „Kind“ in der Pensionsversicherung
Das volljährige „Kind“ in der Pensionsversicherung
Die Waisenpension soll als Unterhaltssurrogat den Wegfall der Unterhaltsleistung ausgleichen und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung gewährleisten.
Neben einem Studium, das die Arbeitskraft überwiegend beansprucht, muss eine Waise nicht zusätzlich einer Beschäftigung nachgehen.
Einkünfte in/über Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes, die nur durch besonderen Einsatz erzielt werden, sollen nicht mit dem Verlust der Waisenpension „sanktioniert“ werden.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob die Kindeseigenschaft der Kl iSd § 252 Abs 2 Z 1 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht.
Die am 7.12.1995 geborene Kl bezog ab 1.12.2013 eine Waisenpension von der bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA). Seit 1.4.2020 erzielt sie aus einem Dienstverhältnis zu einer GmbH mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von 24 Stunden (verteilt auf drei Wochentage) ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.703,22 €. Zusätzlich studiert sie an einer Fachhochschule (FH) (Masterstudiengang Information Engineering und -Management) sowie an der JKU (Masterstudium Recht und Wirtschaft für TechnikerInnen). Insgesamt übertraf die für das Studium im Sommersemester 2020 aufgewendete Zeit das Ausmaß von 24 Wochenstunden bei weitem.
Mit Bescheid vom 21.4.2020 entzog die PVA die Waisenpension mit Ablauf des Monats April 2020, weil die Arbeitskraft der Kl durch das seit 1.4.2020 bestehende Dienstverhältnis nicht mehr überwiegend für die Schul- oder Berufsausbildung beansprucht werde.
Die Kl begehrt in ihrer Klage die Weitergewährung der Waisenpension.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Arbeitskraft der Kl werde von ihren Studien überwiegend in Anspruch genommen. Das nicht aus der Ausbildung erzielte Erwerbseinkommen sei nicht zu berücksichtigen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. In seiner rechtlichen Beurteilung legte es die im Schrifttum kritisierte Rsp des OGH dar, die bei Beurteilung der Kindeseigenschaft danach differenziere, ob Einkünfte einer Waise, deren Arbeitskraft durch50eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, aus der Ausbildung selbst herrühren oder nicht. Die Waisenpension bezwecke, den entfallenden Unterhalt zu ersetzen und solle im Ergebnis das Scheitern einer Berufsausbildung verhindern. Die Absicht des Gesetzgebers, diesen Zweck zu ändern, sei den Materialien zur 29. Novelle zum ASVG nicht zu entnehmen. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass bei Waisenpensionen überhaupt nur kleine Verdienste in Betracht kommen könnten. Auch neben der Ausbildung bezogene, die Selbsterhaltungsfähigkeit sichernde Entgelte müssten den Anspruch auf Waisenpension beseitigen. Die Revision sei zulässig, weil eine klärende Stellungnahme zur Frage der Relevanz von neben der Ausbildung bezogenen Einkommen durch den OGH geboten erscheine.
Die – beantwortete – Revision der Kl ist zulässig und berechtigt.
1.1 Nach § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und so lange sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres.
1.2 In seiner Stammfassung (BGBl 1955/189) stellte das ASVG für die Frage, ob die Kindeseigenschaft durch eigenes Erwerbseinkommen verloren geht, nur darauf ab, ob Selbsterhaltungsfähigkeit vorlag oder nicht.
1.3 Mit der Neufassung des § 252 ASVG durch die 29. Novelle zum ASVG (BGBl 1973/31) wurde das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit aufgegeben. Die Bindung der Angehörigeneigenschaft an die Unterhaltsberechtigung nach bürgerlichem Recht wurde fallen gelassen und durch die leichter feststellbaren Merkmale der überwiegenden Inanspruchnahme der Arbeitskraft durch die Schul- oder Berufsausbildung ersetzt (10 ObS 67/18b SSVNF 32/53 mit Hinweis auf die ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 88).
1.4 § 94 Abs 1 ASVG in der Stammfassung BGBl 1955/189 lautete: „Gebührt neben einem Rentenanspruch aus der Pensionsversicherung mit Ausnahme des Anspruches auf Waisenrente Entgelt aus einer gleichzeitig ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit, so ruht der Grundbetrag mit dem Betrag, um den das im Monat gebührende Entgelt 500 S übersteigt, höchstens jedoch mit dem Betrag, um den die Summe aus Rente und Entgelt im Monat den Betrag von 1300 S übersteigt.
“ Die Gesetzesmaterialien erklären diese Ausnahme für Waisen damit, dass offenbar nur kleine Verdienste in Betracht kämen (ErläutRV 599 BlgNR 7. GP 43; 10 ObS 120/15t SSV-NF 30/17).
1.5 Mit seinem Erk vom 15.12.1990, G 33/89 ua, VfSlg 12.592, sprach der VfGH aus, dass § 94 ASVG idF von der 31. Novelle, BGBl 1974/775, bis zur 48. Novelle, BGBl 1989/642, verfassungswidrig waren, und hob § 94 ASVG idF der 49. Novelle, BGBl 1990/294, als verfassungswidrig auf.
2.1 Zu § 252 ASVG idF der 29. ASVG-Novelle judiziert der OGH in stRsp, dass neben der die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung erzielte Einkünfte dem Anspruch auf Waisenpension nicht schaden (RIS-Justiz RS0089658; RS0085139; 10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24). Hintergrund ist die Wertung, dass ein Kind, das sich überwiegend einer Schul- oder Berufsausbildung widmet, idR so beansprucht wird, dass ihm eine die Selbsterhaltungsfähigkeit garantierende Berufstätigkeit nicht zugemutet werden kann. Übt es eine solche dennoch aus, so vernichtet die Erwerbstätigkeit den Anspruch auf Waisenpension nicht (10 ObS 120/15t SSV-NF 30/17; RS0085139). Das entspricht dem Zweck der Waisenpension, den Lebensunterhalt einer Waise nach dem Tod des bisher Unterhalt Leistenden zu sichern und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung zu gewährleisten (10 ObS 120/15t). Wenn die Waise neben ihrer Schul- oder Berufsausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgeht, ist – so wie vom Gesetz vorgegeben – das Verhältnis zwischen der Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung und der Beanspruchung durch die Erwerbstätigkeit maßgebend. Überwiegt die Inanspruchnahme durch die Erwerbstätigkeit, so fehlt es an der vom Gesetz geforderten überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung (10 ObS 120/15t mwN).
2.2 Ob die Arbeitskraft durch eine Schul- oder Berufsausbildung überwiegend beansprucht wird, ist durch den Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft mit der von der geltenden Arbeitsordnung oder Sozialordnung, wie etwa im Arbeitszeitgesetz oder in den Kollektivverträgen für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung zu ermitteln (RS0085184; 10 ObS 33/18b SSV-NF 32/33). Richtschnur ist dabei ein durchschnittliches wöchentliches Ausmaß von 20 Stunden. Liegt der zeitliche Aufwand für die Ausbildung darunter, liegt keine Kindeseigenschaft mehr vor (RS0085184 [T5]; 10 ObS 33/18b).
2.3 Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass der Zeitaufwand für ein Masterstudium und einen Masterstudienlehrgang jenen für die Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 24 Wochenstunden bei weitem übersteigt und daher das Studium die Arbeitskraft der Kl überwiegend in Anspruch nimmt.
3.1 Einkommen, die aus der Ausbildungstätigkeit selbst stammen, lassen nach der Rsp die Kindeseigenschaft nur dann weiterbestehen, wenn im Rahmen der Ausbildung kein oder nur ein geringes, die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht sicherndes Entgelt bezogen wird (RS0085125; 10 ObS 67/18b SSV-NF 32/53; 10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24). Ein aus der Ausbildungstätigkeit erzieltes Erwerbseinkommen [...] beseitigt die Kindeseigenschaft (RS0085149).
3.2 So lassen eine Lehrlingsentschädigung (10 ObS 134/91 SSV-NF 5/56), ein ausnahmsweises zuerkanntes Arbeitslosengeld während der Ausbildung in einer Fachschule (10 ObS 229/91 SSV-NF 5/91), der Ausbildungsbeitrag für Rechtspraktikanten (10 ObS 38/13f SSV-NF 27/22), ein Fachkräftestipendium des Arbeitsmarktservice (10 ObS 67/18b SSV-NF 32/53) in einer zumindest den Ausgleichszulagenrichtsatz erreichenden Höhe (10 ObS 72/17m SSV-NF 31/41 mwN) sowie51ein aufgrund eines Praktikumsvertrags von der ausbildenden Stelle gewährtes Stipendium [...] (10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24) die Kindeseigenschaft wegfallen.
4.1 Diese Differenzierung zwischen neben und aus [...] der Ausbildungstätigkeit erzielten Einkünften kritisierten in der Lehre Standeker (ZAS 2001, 129 ff) und R. Müller (
4.2 Der Senat sieht sich durch diese – schon längere Zeit zurückliegende – Kritik im Schrifttum nicht dazu veranlasst, von seiner stRsp abzugehen. Die Waisenpension soll als Unterhaltssurrogat den Wegfall der Unterhaltsleistung ausgleichen und eine entsprechende Schul- oder Berufsausbildung gewährleisten (10 ObS 150/15d SSV-NF 30/19; 10 ObS 27/19x SSV-NF 33/24). Stellen die aus der Ausbildung selbst erzielten Einkünfte die Selbsterhaltungsfähigkeit sicher, führt der subsidiäre Charakter der Waisenpension zu ihrem Entfall. Die Ausbildung ist – ohne zusätzliche Erwerbstätigkeit – ebenso gesichert wie die Deckung des Lebensaufwandes. Neben einem Studium, das die Arbeitskraft wie im vorliegenden Fall überwiegend beansprucht, muss eine Waise nicht zusätzlich einer Beschäftigung nachgehen. Kann sie aber neben einer zeitintensiven Ausbildung – wie im vorliegenden Fall nach den Feststellungen des Erstgerichts anzunehmen ist – nur aufgrund besonderer Anstrengung und/ oder besonderen Fähigkeiten aus einer Teilzeitbeschäftigung Einkünfte in oder über Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes erzielen, ist es nicht sachgerecht, diesen besonderen Einsatz mit dem Verlust der Waisenpension zu „sanktionieren“. Dann müsste die Waise ihr Studium nämlich erst recht – bis an die Grenzen ihrer Leistungskraft oder darüber hinausgehend – über eine daneben ausgeübte Erwerbstätigkeit finanzieren, wozu sie aber nicht verpflichtet ist. Dieses Ergebnis widerspricht den Wertungen des Gesetzgebers, der das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit mit der 29. ASVG-Novelle aufgegeben hat. Ein extremer Ausnahmefall, wie das von R. Müller (
5. Ergebnis: Die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 1 Z 2 ASVG besteht auch dann fort, wenn die Waise aus einer Erwerbstätigkeit, die sie neben einer ihre Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nehmenden Ausbildung ausübt, ein zur Selbsterhaltungsfähigkeit führendes Einkommen erzielt.
6. [...] Ihr Klagebegehren auf Weitergewährung der Waisenpension ist berechtigt. [...]
Die Waisenpension setzt die Kindeseigenschaft der LeistungsbezieherInnen voraus (§ 260 ASVG). Diese endet mit Vollendung des 18. Lebensjahres, kann aber in bestimmten Fällen auch darüber hinaus andauern (§ 252 Abs 2 ASVG). Eine Verlängerung sieht das ASVG in folgenden drei Fällen vor: Während einer Schul- oder Berufsausbildung, die die Arbeitskraft des Kindes überwiegend beansprucht (Z 1), während des Freiwilligen Sozialjahres, des Freiwilligen Umweltschutzjahres, des Gedenkdienstes oder des Friedens- und Sozialdienstes im Ausland (Z 2) oder während einer Erwerbsunfähigkeit wegen Krankheit oder Gebrechens (Z 3).
Gegenstand des aktuellen Verfahrens ist die Erstreckung der Kindeseigenschaft aufgrund einer Schulausbildung gem Z 1. Im April 2020, während des 25. Lebensjahres der Kl, entzog ihr die PVA die Pensionsleistung wegen eines seit 1.4.2020 neben der Ausbildung verfolgten Dienstverhältnisses. Ihre Arbeitskraft werde dadurch nicht mehr überwiegend für die Schul- oder Berufsausbildung beansprucht. Der dagegen erhobenen Klage gab das Erstgericht ganz iSd langjährigen Rsp des OGH statt. Das Dienstverhältnis sei mangels zeitlichem Überwiegen nicht schädlich und die Einkünfte nicht anzurechnen. Ebenso lange steht diese Rsp aber im Schrifttum auch schon in der Kritik (überblicksartig Panhölzl in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 252 ASVG Rz 47 ff [Stand 1.3.2018, rdb.at] mwN). Beanstandet wird dabei eine vom OGH vorgenommene Unterscheidung: Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung seien unerheblich (RIS-Justiz RS0089658; RS0085139). Dagegen werde die Kindeseigenschaft nicht verlängert, wenn im Rahmen der Ausbildung ein die Selbsterhaltungsfähigkeit sicherndes Entgelt bezogen wird (RIS-Justiz RS0085125). Diese Kritik nahm das Berufungsgericht zum Anlass, gegen die stRsp und iSd Berufung bei gleichzeitiger Zulassung einer ordentlichen Revision zu entscheiden. Der OGH blieb letztlich aber bei seiner Ansicht und entschied iS einer Weitergewährung der Waisenpension.52
Bevor § 252 Abs 2 Z 1 ASVG 1973 durch die 29. Novelle des ASVG (BGBl 1973/31) geändert wurde, gewährte der Gesetzgeber in der Stammfassung des ASVG (BGBl 1955/189) eine Verlängerung der Kindeseigenschaft, wenn sich eine Waise aufgrund einer regelmäßigen Schul- oder Berufsausbildung nicht selbst erhalten konnte. Seit der Novelle stellt die Bestimmung hingegen auf eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Ausbildung ab – das Kriterium der Selbsterhaltungsfähigkeit entfiel.
Die Kl belegte an einer FH den Masterstudiengang Information Engineering und -Management als auch an der Johannes Kepler Universität das Masterstudium Recht und Wirtschaft für TechnikerInnen. Ihre Ausbildungen überschritten ein Ausmaß von 24 Stunden. Neben ihrem Studium ging sie dann im April 2020 ein Teilzeit-Dienstverhältnis im Ausmaß von 24 Stunden mit vereinbartem Bruttomonatseinkommen von € 1.703,22 ein. Das Berufungsgericht sah die Schädlichkeit dieses Dienstverhältnisses der Kl vor allem in der Höhe der Einkünfte und kritisierte die vom OGH bisher nur zum Teil vorgenommene Anrechnung von Einkünften während dem Bezug der Waisenpension. Der OGH blieb aber bei seiner Ansicht: So lange ein stundenweises Überwiegen der Ausbildungstätigkeit gegeben ist, seien Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung unschädlich. Wie sich in nachfolgender Untersuchung aber zeigen wird, stellt der OGH in seiner langjährigen Rsp unterschiedliche Wertungsmaßstäbe an Stunden- bzw Einkommensausmaße – es gilt hier also zu differenzieren (vgl aber auch Binder, ZAS 1989/10, 63 [64], der der Höhe der Einkünfte in einem Ausbildungsdienstverhältnis trotz Kritik an der Rsp eine gewisse Indizwirkung bezüglich der Verteilung von Ausbildungs- und Erwerbsfunktion zugesteht).
Nach stRsp des OGH stünden neben einer die Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul- oder Berufsausbildung erzielte Einkünfte dem Anspruch auf Waisenpension nicht entgegen (so bereits in OGH 6.10.1987, 10 ObS 87/87; siehe auch RIS-Justiz RS0089658). Zu diesem Ergebnis gelangt der OGH sowohl aufgrund einer historischen Auslegung als auch aufgrund eines systematischen Arguments: Zunächst sei zu berücksichtigen, dass seit der 29. ASVG-Novelle die Selbsterhaltungsfähigkeit aus dem Wortlaut des § 252 Abs 2 Z 1 ASVG gestrichen wurde. Zudem käme man aber zu diesem Ergebnis auch aus einem Größenschluss aus der (mittlerweile als verfassungswidrig aufgehobenen) Ruhensbestimmung des ehemaligen § 94 ASVG. Dieser sah das Ruhen von gewissen Pensionsansprüchen vor, wenn Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit vorlagen, nahm aber den Anspruch auf Waisenpension davon explizit aus. Führten Einkünfte daher schon nicht zu einem Ruhen der Waisenpension, sei laut OGH auch nicht davon auszugehen, dass sie einen Wegfall derselben zur Folge haben sollten (auch in der aktuellen E nimmt der OGH – unkommentiert – § 94 ASVG in seine Begründung auf; vgl 1.4 der Begründung).
Eine Anrechnung von Einkünften bejaht der OGH hingegen bei Ausbildungsdienstverhältnissen. Die von Binder (ZAS 1979, 232 [233 f]) vertretene Meinung, dass die Höhe der Bezüge jedenfalls außer Acht zu lassen sei, sobald eine Tätigkeit klar vom Ausbildungszweck geprägt ist, teilt der OGH nicht. Es führe zu einem „kaum vertretbaren Ergebnis“, wenn ein Ausbildungsdienstverhältnis einem gewöhnlichen Dienstverhältnis gegenüber bevorteilt würde; hier sei weiterhin die Selbsterhaltungsfähigkeit ausschlaggebend (OGH10 ObS 18/88 SZ 61/85 = ZAS 1989, 63 [Migsch]). Diese Differenzierung zu Einkünften neben der Ausbildung lässt sich aber weder dem Gesetzeswortlaut, noch den Materialien zur 29. Novelle (vgl ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 88) entnehmen. Aus früher OGH-Rsp wird ersichtlich, dass sich diese Judikaturlinie vor allem darauf beruft, dass Ausbildungsdienstverhältnisse als Sonderform behandelt und nach deren Zweck beurteilt werden sollen – sei in ihnen eine Ausbildungs- sowie eine Erwerbstätigkeit nämlich untrennbar „verquickt“ (vgl OGH 12.4.1988, 10 ObS 18/88). Welche der beiden überwiegt, werde ua aus der jeweiligen Einkommenshöhe ersichtlich (zust Migsch, ZAS 1989, 63).
Genau diese Differenzierung nahm das Berufungsgericht zum Anlass für eine gegenteilige Entscheidung und verwies auf zahlreiche Kritik im Schrifttum. Es knüpft daran aber eine Rechtsfolge, die eher die Mindermeinung ist; nämlich eine umfassende Berücksichtigung der Einkünfte und bringt so insgesamt wieder die Selbsterhaltungsfähigkeit ins Spiel (so vertreten von Migsch, ZAS 1989, 63; vgl auch Standeker, ZAS 2001, 129 ff). In der Literatur finden sich hingegen überwiegend Stimmen, die sich für eine Beurteilung nur anhand des zeitlichen Ausmaßes und losgelöst von jeglichen Einkünften aussprechen (vgl etwa Binder, ZAS 1979, 233; ebenso später ders, ZAS 1981, 70; so auch Müller,
Zu folgen ist mE aber jener Ansicht, nach der die Selbsterhaltungsfähigkeit sowohl bei einer Erwerbstätigkeit aus als auch neben der Ausbildung außer Acht zu lassen ist. Wie bereits Ivansits überzeugend aufgezeigt hat, bedarf es des Rückgriffs auf die Selbsterhaltungsfähigkeit auch bei Ausbildungsdienstverhältnissen nicht (vgl Ivansits, Waisenpension und Erwerbseinkommen,
Für das Tatbestandsmerkmal der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft stellt die Rsp grundsätzlich auf die Stundenanzahl der Ausbildung ab. Für deren Feststellung seien laut OGH nicht nur das zeitliche Ausmaß (vgl OGH 21.2.1989, 10 ObS 2/89 zu einer überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft durch 20 Schulstunden unter 60 Minuten) oder die Lage der Ausbildungseinheiten zu berücksichtigen (vgl dazu etwa OGH10 ObS 33/18b ZAS-Judikatur 2018/90 = DRdA-infas 2018/181, 314 = ARD 6622/13/2018 = SSV-NF 32/33, wo der Unterricht jeweils einmal im Monat am Wochenende geblockt stattfand). Vielmehr müsse die durchschnittliche Anzahl jener Wochenstunden innerhalb eines Kalendermonats berücksichtigt werden, die inklusive der erforderlichen Vor- und Nachbereitung sowie An- und Abfahrt zur erfolgreichen Absolvierung der Ausbildung notwendig sind. Eine über den Kalendermonat hinausgehende Betrachtung sei nicht zulässig (weshalb etwa in OGH 17.9.1991, 10 ObS 202/91 eine zwar nur im Sommer verfolgte, aber über einen Ferialjob hinausgehende Beschäftigung im Ausmaß von 40 Stunden zu einem Entfall der Waisenpension führte). Ob diese dann auch in Relation zu jener einer Erwerbstätigkeit gesetzt werden muss, ist strittig.
Über die Auslegung des § 252 Abs 1 Z 1 ASVG war sich auch die Rsp für eine geraume Zeit nach der 29. Novelle des ASVG uneins. In Urteilen der Oberlandesgerichte wurde vorerst ein strenger Maßstab an ein Überwiegen gelegt: Ein Schulbesuch oder eine berufliche Ausbildung überwog erst, wenn die Teilnahme „ein solches Maß an Zeit erfordert[e], da[ss] eine allenfalls daneben noch ausgeübte Erwerbstätigkeit in den Hintergrund treten mu[sste]
“ (OLG Wien 5.9.1984, 31 R 172/84). Dieser Rsp stand etwa Binder kritisch gegenüber und schlug als alternativen Ansatz vor, eine überwiegende Beanspruchung durch „Inbeziehungsetzen der konkret gegebenen Auslastung der Arbeitskraft infolge des Ausbildungsvorgangs zu dem von der geltenden Arbeits- und Sozialrechtsordnung für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastungsausmaß“ anhand einer konkretisierenden Betrachtungsweise zu ermitteln (Binder, ZAS 1979, 232 [234]). Dem schloss sich auch der OGH an. Ein Doktoratsstudium mit acht Wochenstunden an Ausbildungseinheiten und einem sonstigen täglichen Aufwand von drei bis vier Stunden zur Abfassung einer Dissertation bewertete er daher als die Arbeitskraft überwiegend beanspruchend (OGH10 ObS 87/87 JBl 1989, 129 = SZ 60/200).
Dem entspricht auch das aktuelle Urteil. In Linie mit seiner stRsp macht der OGH auch hier ein Überwiegen am von Binder vorgeschlagenen Vergleich mit „der von der geltenden Arbeitsordnung oder Sozialordnung, wie etwa im Arbeitszeitgesetz oder in den Kollektivverträgen für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung“ (vgl 2.2. der zu besprechenden E; so bereits OGH 6.10.1987, 10 ObS 87/87) fest. Die überwiegende Beanspruchung durch eine Ausbildung könne daher ab einer Auslastung von 20 Stunden angenommen werden (vgl auch OGH 21.2.1989, 10 ObS 2/89). Bei berufstätigen Waisen setzt er aber darüber hinaus auf doppeltes Überwiegen: Zunächst müsse die Beanspruchung durch die Ausbildung die 20-Stunden-Grenze erreichen, zudem aber auch das Ausmaß der konkret ausgeübten Erwerbstätigkeit übersteigen (so bereits OGH 6.10.1987, 10 ObS 87/87; vgl aber auch OGH10 ObS 120/15tDRdA-infas 2016/107, 158 = ARD 6500/13/2016 = ZAS 2017/15, 82 [Panhölzl] = SSVNF 30/17; krit Panhölzl, Schließt eine Vollzeitbeschäftigung den Bezug einer Waisenpension aus? ZAS 2017/15, 88, der diese zusätzliche Schwelle als unsachlich und verfassungsrechtlich bedenklich bezeichnet). Hierbei tut sich aber – wenn auch mangels Überwiegens in der aktuellen E konsequenzlos – ein Wertungswiderspruch auf: Der OGH definiert den Terminus „Arbeitskraft“ einmal objektiv-abstrakt (als allgemeine Vergleichsgröße von 40 Stunden), für berufstätige Waisen dann aber auch subjektiv-konkret (als tatsächlich für verschiedene Tätigkeiten aufgewandte Stundenanzahl) und setzt daher gleiche Ausbildungstätigkeiten mit unterschiedlichen Vergleichsgrößen in Beziehung. Diese gemischte Vorgehensweise von subjektiver und objektiver Betrachtung ist nicht schon per se abzulehnen. So begründet auch Harrer, dass die Feststellung des Stundenausmaßes der Ausbildung grundsätzlich anhand objektiver Kriterien erfolgen soll, subjektive Elemente jedoch insofern Berücksichtigung finden müssten, als Scheinausbildungen zu verhindern seien (Harrer,
Dem Gedanken, dass Missbrauchsfällen iS einer Scheinausbildung vorgebeugt werden solle, ist mE im Ergebnis zuzustimmen. Trotzdem setzen sowohl der OGH als auch Harrer auf der falschen54Ebene an. Scheint die konkrete Erwerbstätigkeit aufgrund ihres Ausmaßes einer erfolgreichen Absolvierung der Ausbildung im Wege zu stehen, so kann dies bereits im ersten Schritt der Feststellung der für die Ausbildung zur Verfügung stehenden Stundenanzahl berücksichtigt werden. Mit Panhölzl ist dahingehend zu folgern, dass eine ausgeprägte Erwerbstätigkeit als Indiz dienen sollte, eben schon auf dieser Stufe eine eingehendere Prüfung des Ausmaßes der fraglichen Schul- oder Berufsausbildung (anhand der konkreten Sachlage) anzustellen (Panhölzl, ZAS 2017/15, 85, der auch aufzeigt, dass dem Großteil solcher Fälle tatsächlich eine Scheinausbildung zu Grunde lag und daher schon eine überwiegende Ausbildungstätigkeit eigentlich nicht bejaht hätte werden dürfen). Die aA des OGH führte hingegen dazu, dass etwa einer Waise mit 40-Stunden-Job die Waisenpension aberkannt wurde, obwohl außerdem eine Beanspruchung durch eine Ausbildung von 25 bis 30 Stunden pro Woche im Rahmen einer Abendschule festgestellt wurde. Bei selber Auslastung durch das Studium hätte sie ihren Anspruch mit geringfügigerer oder ohne Erwerbstätigkeit behalten. Diese Ungleichbehandlung kann mE unter Berücksichtigung der Entkoppelung der Waisenpension vom zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch und eben dem Entfall der Voraussetzung des Mangels an Selbsterhaltungsfähigkeit (vgl dazu ErläutRV 404 BlgNR 13. GP 88) nicht gerechtfertigt werden. Es kommt eben nicht mehr darauf an, dass die Waise finanziell auf die Pension angewiesen ist. Mag der OGH die Funktion als Unterhaltssurrogat zwar betonen (siehe Pkt 4.2. der Begründung mwN), lässt er die konkreten Umstände auch bei Einkünften aus einer Erwerbstätigkeit neben der Ausbildung unberücksichtigt. Genau im Vergleich mit dieser Rsp ergibt sich daher der angesprochene Wertungswiderspruch (für viele OGH10 ObS 133/95 SVSlg 43.235 = ARD 4705/22/95): Betont der OGH doch selbst, dass besondere Anstrengung bezüglich der Einkommensanrechnung nicht zu „sanktionieren“ sei (siehe oben Pkt 1.2.). Gilt das festgestellte Erreichen der 20-Stunden-Grenze einer Ausbildung dort also als absolute Voraussetzung und sind Einkünfte aus einer daneben ausgeübten Erwerbstätigkeit nicht anzurechnen, so muss das mE auch für die Stundenanzahl dieser nebenher ausgeübten Erwerbstätigkeit gelten.
Für den Bezug einer Waisenpension nach Erreichen der Volljährigkeit stellt der OGH auch in seiner aktuellen E auf die Relation der Auslastung (in Stunden) durch eine Ausbildung zur Normalarbeitszeit iSd AZG ab. Liegt die Auslastung daher bei mindestens 20 Stunden, ist von einer überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft auszugehen. Da die Kl einer Erwerbstätigkeit nachging, wurde die Ausbildung auch mit dieser in Relation gesetzt. Aufgrund des Überwiegens der Ausbildung wurde der Anspruch auf Waisenpension bejaht. Im Ergebnis ist das zu begrüßen, doch müsste letztere Schwelle mE gar nicht aufgestellt werden. Es würde vollkommen ausreichen, die Auslastung durch eine Ausbildung objektiv anhand der durchschnittlich aufzuwendenden Zeit vorzugeben und dann in einem zweiten Schritt subjektiv-konkret zu prüfen, ob eine solche Beanspruchung auch wirklich vorliegt. Dadurch wird einer Scheinausbildung vorgebeugt, aber trotzdem gewährleistet, dass erwerbstätige Waisen mit demselben Ausmaß an Ausbildungstätigkeit nicht unsachlich benachteiligt werden.
Das deckt sich auch mit dem Zweck der Novellierung – die Selbsterhaltungsfähigkeit wurde immerhin aus der Bestimmung gestrichen. Einkünfte sind daher seit der Novelle außer Acht zu lassen. Das muss aber ebenso für Ausbildungsdienstverhältnisse gelten. Auch hier ist abermals auf die erste Prüfungsebene, also die Feststellung des Vorliegens einer (überwiegenden) Ausbildungstätigkeit, zu verweisen. Sowohl ein mangelnder als auch ein zu geringer Ausbildungszweck schließen bereits einen Anspruch auf Waisenpension aus. Überwiegt die Erwerbstätigkeit – worüber nicht zwingend die Höhe der Einkünfte Auskunft gibt – kann schon von Beginn an von keiner überwiegenden Beanspruchung durch Schul- oder Berufsausbildung ausgegangen werden. Einer nachgelagerten Berücksichtigung von Erwerbseinkommen bedarf es hier nicht mehr.
Der aktuellen E des OGH ist daher im Ergebnis zuzustimmen. In der Begründung bettet sie sich jedoch in eine teils widersprüchliche Argumentationslinie ein, die in anders gelagerten Fällen überdacht werden sollte.55