7Zum Begriff des (Arbeits-)Unfalls in der gesetzlichen Sozialversicherung
Zum Begriff des (Arbeits-)Unfalls in der gesetzlichen Sozialversicherung
Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, sind kein Arbeitsunfall, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten.
Bei Verteilung mehrerer physischer oder psychischer Ereignisse über einen über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeitraum ist „Plötzlichkeit“ – und damit ein Arbeitsunfall iSd gesetzlichen UV – nur dann zu bejahen, wenn sich ein oder mehrere Ereignisse (Einwirkungen) innerhalb einer bestimmten Arbeitsschicht aus der Gesamtheit der Ereignisse (Einwirkungen) so herausheben, dass sie nicht bloß eine (insb die letzte) unter mehreren gleichwertigen Ursachen der Schädigung sind, sondern für die Schädigung wesentliche Bedeutung haben, diese also alleine wesentlich bedingen.
Der 1961 geborene Kl begann im Jahr 1985 seine Polizeiausbildung und war zuletzt als Polizeioffizier (Major) tätig. Im September 2015 war der Kl am Hauptbahnhof [einer Landeshauptstadt] im Einsatz, und zwar am 10., 12.,14. und 16.9.2015, überwiegend in 24 Stunden-Schichten. Seine Aufgabe war es, das anfängliche Chaos am Bahnhof infolge der damaligen Flüchtlingskrise zu bewältigen. Der Kl hatte dazu das Kommando über etwa 100 Personen im Einsatz.
Nach den [hier nicht im Einzelnen wiedergegebenen] erstgerichtlichen Feststellungen erlitt der Kl während dieses Dienstes aufgrund verschiedener dramatischer Vorkommnisse Angst und Panik und „wollte dort einfach nur weg“. Er verspürte auch Versagensangst. Aus Sicht des Kl waren diese Einsätze mit seinen bis dahin verrichteten Tätigkeiten nicht vergleichbar. Nach den „Problematiken Ende 2015“ arbeitete der Kl normal weiter. Im Krankenstand war er zunächst nicht.
Aufgrund der im September 2015 erlebten Vorfälle hätten sich beim Kl in der Folgezeit Beschwerden eingestellt. Das durch die Vorfälle erlittene Trauma habe zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt; es sei auch eine Angststörung entstanden, die dazu geführt habe, dass der Kl öffentliche Busse und öffentliche Plätze meide, weil er sich vor großen Menschenansammlungen fürchte. Seit November 2019 sei der Kl dienstunfähig.
Am 6.12.2019 erfolgte eine Unfallmeldung an die Bekl, die auszugsweise lautete wie folgt: „Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignete: Bewältigung der Flüchtlingsströme als polizeilicher Einsatzleiter am 10. September 2015 sowie weiters am 12. September, 14. September und 16. September 2015 ....
“ Der Kl ist nunmehr in psychiatrischer Behandlung.
Mit Bescheid vom 22.6.2020 lehnte die bekl Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) die Anerkennung des Vorfalls vom 10.9.2015 als Dienstunfall ebenso wie als Berufskrankheit ab.
Mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrte der Kl die Zuerkennung einer Vollrente als Dauerrente für die Folgen des Dienstunfalls vom 10./12./14./16.9.2015 ab 22.11.2019. Mit seinem ersten Eventualbegehren begehrte er die Zuerkennung einer vorläufigen Rente in Höhe der Vollrente für die Folgen dieses Dienstunfalls. Mit seinem zweiten Eventualbegehren begehrte er die Feststellung, dass die Gesundheitsstörung, die er am 10./12./14./16.9.2015 erlitten habe, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Angststörung, Folgen des Dienstunfalls seien. Die Bekl wandte ein, dass es sich bei einem Unfall um ein zeitlich begrenztes Ereignis handle. Ein solches liege hier nicht vor.
Das Erstgericht wies das Haupt- und die Eventualbegehren des Kl ab, weil der gesetzliche Unfallbegriff nicht erfüllt sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. Die Revision sei zulässig, weil eine Klarstellung zu den Grenzen des „zeitlich begrenzten Ereignisses“ iSd Unfallversicherungsrechts durch den OGH geboten erscheine.
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt
[19] Der Revisionswerber macht geltend, dass von einem einheitlichen Dauereinsatz an einem Dienstort auszugehen sei. Daher seien die Einwirkungen, die zur posttraumatischen Belastungsstörung geführt hätten, als plötzlich anzusehen. Aus einem Vergleich zum sonstigen Dienst des Kl ergebe sich, dass es beim besonderen Einsatz im Jahr 2015 zu mehreren Situationen gekommen sei, die als kurz aufeinander folgende Einwirkungen „in ihrer Gesamtheit“ zu den Gesundheitsstörungen des Kl geführt hätten. Signifikant hervortretende Teilursache sei die „Szene“ mit Mutter und Kind am Absperrgitter gewesen.
[20] Dem steht Folgendes entgegen:
[21] 1.1 Als Dienstunfälle gelten nach der Generalklausel des § 90 Abs 1 B-KUVG Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit dem die Versicherung begründenden Dienstverhältnis oder mit der die Versicherung begründenden Funktion ereignen.
[22] 1.2 Da die Voraussetzungen für eine Dienstunfallbeurteilung nach § 90 B-KUVG (im Wesentlichen) gleich wie für die Beurteilung eines Arbeitsunfalls in der UV nach dem ASVG sind, können Lehre und Rsp zu den Bestimmungen des ASVG zur Auslegung der entsprechenden Bestimmungen des B-KUVG herangezogen werden (RIS-Justiz RS0110598 [T2]).
[23] 2.1 Der Unfall unterscheidet sich von der (hier nicht mehr geltend gemachten) Berufskrankheit durch den Zeitraum, in dem er sich ereignet: Während sich die Berufskrankheit typischerweise während eines längeren Zeitraums entwickelt, mag sie auch mitunter plötzlich zu Gesundheitsstörungen führen, versteht man unter einem Unfall ein im56Allgemeinen von außen auf Geist und/oder Körper einwirkendes, meist plötzlich eintretendes, zumindest aber zeitlich eng begrenztes Ereignis, durch das eine Gesundheitsschädigung oder der Tod bewirkt wird (RS0084348; RS0110320; R. Müller in SV-Komm [263. Lfg] Vor §§ 174-177 ASVG Rz 8 mwH).
[24] 2.2 Für den Unfallbegriff nicht maßgeblich ist, ob die Körperschädigung durch eine physische oder eine psychische Wirkung (zB einen Nervenschock) hervorgerufen wird (RS0110320).
[25] 2.3 „Plötzlichkeit“ muss nicht Einmaligkeit heißen. Die Rsp hat die äußerste zeitliche Grenze bei der Dauer einer Arbeitsschicht gezogen (10 ObS 45/12h SSV-NF 26/31 ua; R. Müller in SV-Komm Vor §§ 174-177 ASVG Rz 8). Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, stellen keinen Arbeitsunfall dar, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinaus gehenden Zeit eintreten (10 ObS 96/11g SSV-NF 25/84; 10 ObS 10/03y SSV-NF 17/15; grundlegend 10 ObS 224/98h SSV-NF 12/89). Die letzte körperliche oder seelische Belastung stellt dann nur das Endglied einer Kette von Ereignissen dar, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem einzelnen dieser Ereignisse die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden kann (RS0110322). Liegt das Ergebnis einer längeren krankheitsbedingten, möglicherweise auch berufsbedingten Entwicklung vor, kann nicht von einem Unfall gesprochen werden (RS0110323). So ist zB eine Anpassungsstörung als Folge mehrerer Ereignisse in ihrer Gesamtheit, die in einem mehrwöchigen Zeitraum eintraten, nicht als Folge eines Unfalls anzusehen (10 ObS 53/14p).
[26] 3.1 Im vorliegenden Fall macht der Kl geltend, dass er infolge der Ereignisse während insgesamt vier (von Ruhezeiten unterbrochenen) Diensten eine Gesundheitsstörung erlitten habe. Die von der Rsp für die zeitliche Begrenzung eines Unfallereignisses herausgearbeitete Dauer einer Arbeitsschicht ist damit überschritten.
[27] 3.2 Erstmals in der E 10 ObS 224/98h (SSVNF 12/89) hat der OGH in diesem Zusammenhang – unter Berufung auf deutsche Rsp – formuliert (Hervorhebung durch den Senat):
[28] „Auch kurz aufeinanderfolgende Einwirkungen, die nur in ihrer Gesamtheit einen Körperschaden bewirken, sind noch als plötzlich anzusehen, wenn sie sich innerhalb einer Arbeitsschicht oder eines sich auch auf mehrere Tage erstreckenden Dienstauftrages ereignet haben.
“
[29] 3.3 Völlig zutreffend hat das Berufungsgericht herausgearbeitet, dass ein Fall eines sich auf mehrere Tage erstreckenden Unfallereignisses von der Rsp bisher nicht zu beurteilen war. In der E 10 ObS 224/98h (SSV-NF 12/89) war der Entschluss zum Selbstmord nicht die Folge eines schweren psychischen Traumas, sondern das Ergebnis einer längeren krankheitsbedingten, allenfalls berufsbedingten Entwicklung. In 10 ObS 10/03y (SSV-NF 17/15) stand ein Selbstmordversuch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung. In 10 ObS 89/08y (SSVNF 22/46) waren Wirbelsäulenbeschwerden auf ein anlagebedingtes Vorleiden zurückzuführen; zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung fehlte es an einer Gesundheitsstörung. In der E 10 ObS 67/11t (SSV-NF 25/81 = DRdA 2012/25, 349 [R. Müller]) war eine beim Kl aufgetretene Hyperventilation, die bedrohlich wirkende Krampfund Lähmungserscheinungen auslöste, Folge einer mehrstündigen, körperlich anstrengenden Wanderung in Verbindung mit einer Durchfallerkrankung (diese Entscheidung betraf einen Unfall iSd § 131 Abs 4 ASVG). In 10 ObS 96/11g (SSV-NF 25/84) führte ein bestimmter Vorfall als Schlüsselreiz zur Aktualisierung einer bereits zuvor bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 30 %. In der E 10 ObS 45/12h (SSV-NF 26/31) war eine betriebliche Auseinandersetzung an einem bestimmten Tag nicht kausal für die beim Kl bestehende leichtere, länger andauernde ängstlichdepressive Störung.
[30] 4.1 Gemäß dem seit 1.1.1997 geltenden § 8 Abs 1 Satz 2 des deutschen SGB VII sind Unfälle „zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen
“. Dieser Unfallbegriff übernahm den bereits zuvor von der deutschen Rsp verwendeten Unfallbegriff (Krasney in Krasney/Burkhardt/Kruschinsky/Becker, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] – Kommentar [37. Lfg] § 8 Rn 2), der auch dem in Österreich verwendeten Unfallbegriff entspricht.
[31] 4.2 Auch nach deutscher Rsp und Lehre dient die zeitliche Begrenzung der Abgrenzung des Unfalls von der Krankheit. Auch dort wird angenommen, dass die Arbeitsschicht die äußerste zeitliche Grenze bildet: Neben der Verletzung zB durch Gegenstände, Insektenstiche oder Bisse kommen etwa auch Infektionskrankheiten als Unfall in Betracht, wenn die Infektion durch Einwirkungen innerhalb einer Arbeitsschicht die Gesundheitsstörung hervorruft (vgl nur Krasney, SGB VII § 8 Rn 635 mzwH; Holstraeter in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht6 § 8 SGB VII Rn 2 mwH; Lauterbach, Unfallversicherung – Sozialgesetzbuch VII4 [70. Lfg] § 8 SGB VII Rn 27; BSG 2 RU 17/84; B 2 U 1/98 R; B 2 U 2/11 R, Rn 24 mwH).
[32] 4.3 In einer älteren E hatte das Bundessozialgericht den Fall eines Hüttenarbeiters zu beurteilen, der über die Jahre 1935 bis 1944 in einem Eisenhüttenwerk mit dem Bündeln von Eisen- und Drahtpacken als sogenannter Scherenmann beschäftigt war. Er hatte am kleinen Finger der rechten Hand eine Warze, an der er sich bei dieser Arbeit wiederholt verletzte. Im Herbst 1949 verstarb er an Krebs. Die Kl – die Hinterbliebenen des Hüttenarbeiters – behaupteten, dass das tödliche Leiden durch wiederholte Verletzungen der Warze bei der Betriebsarbeit entstanden sei. Dazu führte das Bundessozialgericht in der E 2 RU 57/64 aus:
„Der rechtlichen Betrachtungsweise des angefochtenen Urteils liegt ein Sachverhalt zugrunde, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Krebserkrankung L‘s nur durch Verletzungen an der Warze57hervorgerufen worden sein kann, die sich in verschiedenen, mehr oder weniger eng aufeinanderfolgenden zahlreichen Arbeitsschichten ereignet und auf eine lange Zeit verteilt haben. Für das Bösartigwerden des Warzengewebes kommt als rechtlich wesentliche Ursache somit nicht eine einzelne Verletzung, sondern nur die Gesamtheit der im Laufe der Jahre eingetretenen Schädigungen am rechten Kleinfinger in Betracht. Einen solchen Geschehensablauf hat das [Landessozialgericht] zwar mit Recht nicht als einen Arbeitsunfall gewertet, da die Gesamtheit der auf einen längeren Zeitraum verteilten Gewalteinwirkungen nicht ein Unfallereignis im Sinne des [§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO] darstellt. Dies schließt jedoch nicht aus, dass ein Schaden, der durch wiederholte, in mehreren Arbeitsschichten aufgetretene Gewalteinwirkungen hervorgerufen wird, gleichwohl als Folge eines Arbeitsunfalles anzusehen ist, wenn sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur als die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Gewalteinwirkungen erscheint ....“
[33] Das Bundessozialgericht erachtete daher eine Ergänzung des Verfahrens als erforderlich, weil zu entscheiden sei, „ob eine der zahlreichen Schädigungen an der Warze ein Unfallereignis darstellt, das innerhalb einer Arbeitsschicht abgelaufen ist und daher die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache im Rechtssinne für die Entstehung des Krebsleidens hat
“ (die Folgeentscheidung im fortgesetzten Verfahren traf das Bundessozialgericht zu 2 RU 15/69).
[34] 4.4 Wenn daher bei über mehrere Arbeitsschichten auftretenden zB Gewalteinwirkungen sich eine einzelne Gewalteinwirkung aus der Gesamtheit derart hervorhebt, dass sie nicht nur die letzte von mehreren für den Erfolg gleichwertigen Einwirkungen erscheint, so ist diese eine eigenständige Gewalteinwirkung für die Schädigung von wesentlicher Bedeutung und damit ein Unfall iSd UV (Krasney, SGB VII § 8 Rn 636 mwH; Ricke in Kasseler Kommentar [112. Lfg] SGB VII § 8 Rn 23; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 Rn 12 mwH; Mehrtens/Valentin/Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit9 10; Wietfeld in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck-OK SozR, 60. Edition SGB VII § 8 Rn 100).
[35] 4.5 Dem entspricht auch die Rsp des OGH: Bereits in der E10 ObS 224/98h wurde ausgeführt, dass betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, keinen Arbeitsunfall darstellen, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausreichenden Zeit eintreten. Die letzte körperliche oder seelische Belastung am Todestag ist dann nur das Endglied einer Kette von alltäglichen Ereignissen, die allmählich eingewirkt haben, ohne dass einem einzelnen Ereignis davon die Bedeutung eines Arbeitsunfalls beigemessen werden könnte. Ein solches zeitlich begrenztes psychisches Ereignis – etwa ein psychisches Trauma – als dessen kausale Folge der Entschluss zum Selbstmord fällt, kann einen Unfall darstellen (10 ObS 10/03y SSV-NF 17/15 ua, RS0110322).
[36] Klarzustellen ist, dass es nicht unbedingt das letzte von mehreren betrieblichen Ereignissen, die sich über mehr als eine (bestimmte) Arbeitsschicht erstrecken, sein muss, das für die Schädigung von wesentlicher Bedeutung ist.
[37] 4.6 Ergebnis:
[38] a) Betriebliche Ereignisse, die nicht im Einzelnen, sondern erst in ihrer Gesamtheit eine messbare Gesundheitsstörung zur Folge haben, sind kein Arbeitsunfall, wenn sie in einer über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeit eintreten.
[39] b) Bei Verteilung mehrerer physischer oder psychischer Ereignisse über einen über eine Arbeitsschicht hinausgehenden Zeitraum ist „Plötzlichkeit“ – und damit ein Arbeitsunfall iSd gesetzlichen UV – nur dann zu bejahen, wenn sich ein oder mehrere Ereignisse (Einwirkungen) innerhalb einer bestimmten Arbeitsschicht aus der Gesamtheit der Ereignisse (Einwirkungen) so herausheben, dass sie nicht bloß eine (insb die letzte) unter mehreren gleichwertigen Ursachen der Schädigung sind, sondern für die Schädigung wesentliche Bedeutung haben, diese also alleine wesentlich bedingen.
[40] 5.1 Das Berufungsgericht hat diese Rechtslage im vorliegenden Fall zutreffend angewandt. Nach dem Vorbringen des Kl seien die auf ihn eindringenden belastenden Ereignisse während seiner vier Einsätze in ihrer Gesamtheit verantwortlich für die bei ihm aufgetretene posttraumatische Belastungsstörung und die Angststörung gewesen. Erstrecken sich Vorgänge wie hier über mehrere Einsätze („Arbeitsschichten“), so fehlt es an der erforderlichen zeitlichen Begrenztheit für die Bejahung des unfallversicherungsrechtlichen Unfallbegriffs.
[41] 5.2 Der Kl hat zwar vorgebracht, dass ihm die Bedrohung einer Mutter und ihres kleinen Kindes am Absperrgitter durch andere Flüchtlinge erinnerlich sei, „als wäre es gestern gewesen“. Aus der den OGH bindenden Feststellung ergibt sich aber nicht, dass es sich dabei um ein Ereignis gehandelt hätte, dass alleine wesentlich die bei ihm bestehende Gesundheitsschädigung bedingt hätte. Die Behauptung des Revisionswerbers, dabei habe es sich um eine „aus der Gesamtheit der Einwirkungen signifikant hervorhebende wesentliche Teilursache seiner eingetretenen Gesundheitsstörung“ gehandelt, findet weder im Vorbringen des Kl noch in den Feststellungen eine Grundlage.
Was ist ein Unfall? „Eine körperschädigende und plötzliche Einwirkung eines äußeren Vorganges oder Zustandes auf den menschlichen Körper
“ (Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österreichischem Rechte [1893] 280) bzw ein „plötzliches, zeitlich und örtlich bestimmbares und von außen einwirkendes Ereignis, bei dem eine natürliche Person unfreiwillig einen Körperschaden (bis hin zum Tod) erleidet (Personenschaden) oder eine Sache unbeabsichtigt beschädigt wird (Sach-
58schaden)
“ (Wikipedia Stichwort „Unfall“ aufger. 23.9.2021).
Plötzlich, körperschädigend und von außen kommend (ebenso Kerber, GSVG [1935] § 176, Anm 1 und Ziegler, Grundsätzliches über die Unfallversicherung, SozSi 1950, 103): Diese drei Elemente, die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch den Unfall charakterisieren, waren schon zum Zeitpunkt der Entstehung der gesetzlichen UV für den Unfallbegriff maßgebend und daran hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch bis heute nichts Wesentliches geändert – Wikipedia scheint insofern unverdächtig und die Lehre ist sich darin im Wesentlichen einig (Resch, Sozialrecht8 [2020] 90; Brodil/Windisch-Graetz, Sozialrecht in Grundzügen9 [2021] 109; Pfeil/Auer-Mayer, Österreichisches Sozialrecht13 [2021] 71; Tomandl, System, 2.3.2.2.A.; ders, Sozialrecht7 [2019] Rz 194; R. Müller in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm, Vor §§ 174-177, Rz 8).
Was das Element der Plötzlichkeit betrifft, hat schon Ziegler (SozSi 1950, 103) die Auffassung vertreten, dass in der gesetzlichen UV das Element der Plötzlichkeit auch dann noch zu bejahen sei, wenn längstens während der Dauer einer Arbeitsschicht im Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit ein äußerer Tatbestand auf den Menschen einwirkt, durch den der Tod oder eine Körperverletzung verursacht wurde. Dem hat sich das OLG Wien als damaliges Höchstgericht in Leistungsstreitsachen angeschlossen (OLG Wien 22.1.1974, 20 R 5/74) und die Lehre ist der Rsp gefolgt (Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 13). Der OGH hat in der Begründung der vorliegenden E die Entwicklung von Rsp und Lehre in Österreich und Deutschland umfassend dargestellt, sodass es insoweit hier keiner weiteren Wiederholungen bedarf. Es sei aber ein kritischer Blick auf die Rolle der Arbeitsschicht als Äquivalent des Elements der Plötzlichkeit bei der Definition des Unfalls geworfen.
Im vorliegenden Fall geht es nach dem Sachverhalt um drei nur durch die Ruhepausen unterbrochenen 24-Stunden-Arbeitsschichten und eine Arbeitsschicht in der Dauer von ca 19 Stunden im Zusammenhang mit der sicherheitspolizeilichen Bewältigung des berüchtigten europäischen Flüchtlingsstroms von knapp einer Million Menschen (zitiert nach „Flucht und Asyl-Jahresrückblick 2015“ des Österreichischen Integrationsfonds [ÖIF] vom 28.12.2015, APA OTS 0037) im Jahre 2015.
Wie man zur Gleichsetzung der Dauer einer Arbeitsschicht mit der Plötzlichkeit als konstituierendes Element des Unfallereignisses gekommen ist, darüber schweigen sich Lehre und Rsp weitgehend aus. Die „Tendenz, den Ablauf des [Unfall-] Ereignisses über die Augenblicklichkeit hinaus zu verlängern
“ (Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht [1969] 82) wurde schon in den Sechzigerjahren konstatiert und war nicht auf Österreich und Deutschland beschränkt. Teils wurde ein „verhältnismäßig kurzer Zeitraum“ statuiert (Niederlande; Gitter, aaO 82), teils ein Zeitraum „mehrerer Stunden“ (Schweiz; Gitter, aaO 83). Die Dauer der Arbeitsschicht wird demgegenüber als „sicheres Abgrenzungskriterium“ beurteilt. Gitter erachtet diese Erweiterung der „Plötzlichkeit“ im Hinblick auf die Übernahme der betrieblichen Risken durch die UV als gerechtfertigt (Gitter, aaO 83).
Plötzlichkeit bedeutet also nicht Sekundenschnelle oder Schlagartigkeit, sondern kann nach dieser Lehre uU sogar einen längeren Zeitraum umfassen. Als Beispiele für Unfallsgeschehen, welche die Dauer einer Arbeitsschicht beanspruchen, werden die wiederholte Aufnahme von Krankheitserregern, Erfrierungen, Erkältungen oder Hitzeeinwirkungen als schadensverursachende Einwirkungen genannt (Ricke in KassKomm § 8 SGB VII Rz 23).
Als nächstes stellt sich die Frage, eine wie lange Zeitdauer der Begriff der Arbeitsschicht umfasst: Ist damit eine übliche acht- oder zwölfstündige Dauer der Arbeitsleistung oder gar die Dauer der konkreten Schicht – die wie im vorliegenden Fall durchaus auch 24 Stunden umfassen kann – gemeint? Auch dazu schweigen sich (wohl auch mangels geeigneter Fälle) bisher die Lehre und die Rsp aus. Zum deutschen Unfallversicherungsrecht wird die Auffassung vertreten, dass es auf die konkrete Arbeitsschicht ankomme, die durchaus auch 20 Stunden dauern könne, wobei auf die langen Schichten in der Seefahrt verwiesen wird (vgl Ricke in KassKomm § 8 SGB VII Rz 23).
Als ein innerer Grund für die Erweiterung des Zeitraums, innerhalb dessen auf das Element der Plötzlichkeit im strikten Sinn verzichtet werden kann, könnte das Ausgeliefertsein der betroffenen Person vor im Wesentlichen gleichartigen, schädigend einwirkenden, äußeren Verhältnissen während einer ganzen Arbeitsschicht sein, die insoweit nicht anders als bei der Plötzlichkeit gegeben ist. Um ein plastisches Bild zu verwenden: Das Element der Plötzlichkeit verhält sich zur Dauerwirkung während einer Arbeitsschicht nach dieser Vorstellung wie ein Trommelschlag zu einem Trommelwirbel. In diesem Bild wäre es vor dem Hintergrund der Zwecke der UV in der Tat fatal, formalistisch an der Plötzlichkeit im strengen Wortsinn zu haften und jede andere zeitliche Variante außen vor zu lassen. Die seit Jahrzehnten eingebürgerte zeitliche Toleranz bei der sukzessiv eintretenden schädigenden Wirkung mag auch den Vorteil haben, dass durch die Anerkennung als Arbeitsunfall auch Schadensfälle deutlicher ins Blickfeld kommen, deren künftige Vermeidung unter dem Gesichtspunkt der Unfallverhütung um nichts weniger wichtig ist, als jene, die mit dem Trommelschlag der Plötzlichkeit eintreten.59
Daraus entsteht aber sofort das Problem der Grenzziehung zwischen einem Unfallsgeschehen und einem Erkrankungsgeschehen, welches bekanntlich nur dann zu unfallversicherungsrechtlicher Relevanz führt, wenn daraus eine Berufskrankheit entstanden ist. Die zeitliche Toleranz beim Unfallereignis kann nicht dazu führen, dass die mit Grund etablierte Liste der Berufskrankheiten aufgeweicht wird. Das Abgrenzungsproblem besteht unabhängig vom hier vorliegenden Fall: Psychische Beeinträchtigungen, wie die hier vorliegende, können bekanntlich von vornherein nicht zur Anerkennung als Berufskrankheit führen (vgl R. Müller in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 177 Rz 22, und Spellbrink, Psychische Erkrankungen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, SGb 2013, 154).
Bei der Bestimmung der höchstzulässigen Dauer der Einwirkung des schädigenden Ereignisses muss man sich also nicht nur vor Augen halten, dass wir es mit einem Äquivalent für die ganz kurzzeitige Plötzlichkeit des Unfalls zu tun haben, sondern sie muss zugleich eine plausible Grenzziehung zum Krankheitsbegriff leisten können. Wir haben es also mit zwei miteinander zusammenhängenden Momenten zu tun, die uns eine erhebliche dogmatische Beschränkung bei der Erweiterung der Plötzlichkeit auferlegen. Der Spagat bei der Grenzziehung wird umso schwieriger, je weiter man das Zeitfenster für die „Plötzlichkeit“ beim Unfallbegriff öffnet.
Die Grenzziehung mit der Arbeitsschicht – so praktisch sie ist – enthält zugleich Elemente der Willkür: Einwirkungen durch zwei Schichten zu je acht Stunden, insgesamt also 16 Stunden, scheiden als Unfall aus, dieselben Einwirkungen während einer Schicht von 20 Stunden können einen Unfall konstituieren. Das deutsche BSG versucht diesem Problem eher großzügig dadurch einigermaßen beizukommen, dass selbst eine Verteilung schädlicher Einwirkungen über mehrere Schichten immer noch als Arbeitsunfall anerkannt werden kann, wenn sich die Einwirkungen innerhalb einer Schicht gegenüber jener in den anderen Schichten so herausheben, dass ihnen für die Schädigung die wesentliche Bedeutung zukommt (BSG 1966, SozR Nr 1 zu § 838 RVO und die in der Begründung der vorliegenden E zitierte deutsche Lehre). Durch diesen Kunstgriff landet man auch bei arbeitsschichtüberschreitenden Einwirkungen wieder bei der einen Arbeitsschicht, auf die es ankommen soll. Messbare Intensitätsunterschiede der sich durch mehrere Arbeitsschichten ziehenden Einwirkung sollen also dazu führen, dass diese eine Arbeitsschicht als „wesentlich“ alle anderen vergleichbar schädlich einwirkenden Arbeitsschichten verdrängt.
Eine Quadratur des Kreises oder typisch für die Tricks im Sozialrecht? Je nach Einstellung bewundernd oder kritisch mag so manche Leserin und so mancher Leser über eine solche Argumentation denken. Diese wirkt nicht nur artifiziell, man gewinnt auch den Eindruck, dass dieses Zeitfenster von den Gerichten wie ein Schiebefenster gehandhabt werden kann, das je nach Lage des Falles einmal weiter auf- und ein anders Mal weiter zugemacht wird. Ein Umstand, der die vom Unfallbegriff her an sich erforderliche Plötzlichkeit in einen kaum begrenzten Zeitraum nach richterlichem Ermessen verwandelt, was zur Rechtssicherheit gewiss nicht beiträgt.
Der OGH hat im vorliegenden Fall die zuvor erwähnte Mehrschicht-Formel des BSG zwar in seinem Obersatz abstrakt aufgegriffen, er hat aber den Kl an einem formellen prozessualen Hindernis scheitern lassen. Der Kl hat nämlich die erforderliche Behauptung erst (verspätet) in der Revision vorgebracht, dass ein Vorfall, bei dem eine Mutter und ihr Kind beim Ausgang aus der Tiefgarage durch die dahinter drängende Masse minutenlang an die Absperrgitter gedrückt worden seien und verzweifelt geschrien hätten, eine „sich aus der Gesamtheit der [über mehrere Tage gehenden] Einwirkungen signifikant hervorhebende, wesentliche Teilursache seiner eingetretenen Gesundheitsstörung
“ sei.
Auch wenn der vom OGH entwickelte „Obersatz“ in der Mehrschicht-Problematik (der OGH hätte dies angesichts der fehlenden Prozessbehauptung vielleicht auch dahingestellt lassen können) wie so vieles in der UV aus der deutschen Rsp und Lehre stammt, sollte er aber gleichwohl aus den vorhin genannten Gründen überdacht werden.
Gehen wir davon aus, dass sich während des Flüchtlingschaos an all den Tagen, an denen der Kl Dienst getan hat, in einer im Wesentlichen gleichbleibenden oder wiederholenden Weise für das Personal psychisch sehr belastende Situationen ereignet haben und nehmen wir an, es wäre erweislich, dass diese Belastungen in ihrer Gesamtheit den (erst deutlich später hervorgetretenen) Gesundheitsschaden des Kl verursacht hätten, dann scheiterte der Anspruch des Kl möglicherweise nur daran, dass seine gefühlt durchgehend enorm belastende Arbeit durch (gesetzlich vorgesehene) Unterbrechungen in Schichten gegliedert war. Eine andere Beurteilung der Sache wäre nur denkbar, wenn der Kl zB eine Bluttat oder einen Suizid, also ein sich über diese Belastungen noch hinaushebendes, besonders traumatisierendes Ereignis in einer seiner vier Schichten hätte miterleben müssen, obwohl die Ereignisse dieser Tage (nach seinem Vorbringen) auch ohne ein solches Drama bereits zur Arbeitsunfähigkeit des Kl aus psychischen Gründen geführt haben. Müsste es dann – legt man den Rechtssatz des OGH zugrunde – unter sozialpolitischen Gesichtspunkten nicht gleichgültig sein, ob sich die den Kl traumatisierenden, aufgrund ein und desselben Ereignisses (Flüchtlingskrise) jeweils durchgängig erlittenen, völlig gleichgelagerten seelischen Belastungen in60einer (über-)langen Arbeitsschicht oder in vier kürzeren Arbeitsschichten ereignet haben?
Angesichts der einhelligen Lehre und Rsp zum Unfallbegriff ist gegen die Gleichsetzung nur einer Arbeitsschicht mit dem Element der Plötzlichkeit nichts zu sagen. Ich neige wegen ansonsten nur schwer auszutarierenden Weiterungen im Ergebnis eher der zurückhaltenden, wenngleich starren „Ein-Schicht“-Lösung zu: Die Äquivalenz der Dauer einer (auch längeren) Arbeitsschicht mit dem Tatbestandselement der Plötzlichkeit beim (Arbeits-) Unfall stellt schon für sich allein im Verhältnis zum allgemeinen Sprachgebrauch eine Überdehnung des herkömmlichen, bereits vom historischen Gesetzgeber verwendeten Unfallbegriffs dar.
Schon diese Erweiterung ist den sozialpolitischen Zwecken des Unfallversicherungsrechts geschuldet. Jedem weiteren Versuch, diesen Zeitraum „über mehrere Arbeitsschichten“ hinweg durch Kunstgriffe noch auszuweiten, fehlt daher die dogmatische Grundlage. Die erforderliche Abgrenzung lässt sich sauber nur bewältigen, wenn erwiesen ist, dass die während einer Arbeitsschicht sich ereignende Einwirkung für sich allein kausal für die Erkrankung bzw die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist. Dann würde es wohl nicht schaden, dass sich eine weitere schädliche Einwirkung nicht nur während dieser einen Arbeitsschicht, sondern auch darüber hinaus ereignet hat. Ich bezweifle aber, dass eine solche Konstellation in der Realität vorkommen wird. Man muss sich jedenfalls darüber im Klaren sein, dass jede Ausweitung des unfallversicherungsrechtlichen Verständnisses von der Plötzlichkeit des Unfallereignisses die Abgrenzung zum Krankheitsbegriff zunehmend schwieriger machen und letztlich ad absurdum führen würde.
Daher ist bei der unfallversicherungsrechtlichen Beurteilung von gesundheitsschädlichen Einwirkungen, die während mehrerer Arbeitsschichten andauerten, vor systemschädigenden Verrenkungen iSd Rechtsfigur einer „wesentlich mitwirkenden Arbeitsschicht“ zu warnen.