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Grundrechtsschutz für Unionsbürger:innen in Bezug auf existenzsichernde Sozialleistungen*

Art 18 AEUV; RL 2004/38/EG; GRC
EuGH 15.7.2021 C-709/20 CG gegen The Department for Communities in Northern Ireland
  1. Gewährt ein Mitgliedstaat ein nationales Aufenthaltsrecht, das unionsrechtlich nicht erforderlich wäre, so kommt diese Person nicht in den Schutzbereich des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots nach Art 24 der RL 2004/38/EG (die seit der Entscheidung in der Rs C-333/13, Dano, vom EuGH gewählte restriktive Auslegung wird damit bestätigt).

  2. Allerdings muss vor der Ablehnung eines Antrags einer Person mit Unionsbürgerschaft auf eine existenzsichernde Sozialleistung, weil diese kein unionsrechtliches, sondern nur ein nationales Aufenthaltsrecht hat, geprüft werden, ob sie dadurch in ihren Grundrechten nach der GRC verletzt wird.

[...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

30 CG besitzt sowohl die kroatische als auch die niederländische Staatsangehörigkeit. Sie ist Mutter zweier noch kleiner Kinder, die sie alleine großzieht. Nach ihren eigenen Angaben war sie 2018 mit ihrem Partner, dem Vater ihrer Kinder, der die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, nach Nordirland (Vereinigtes Königreich) eingereist. Sie war im Vereinigten Königreich zu keiner Zeit erwerbstätig. Sie lebte dort mit ihrem Partner zusammen, bis sie in ein Frauenhaus zog. CG ist mittellos. Sie ist nicht in der Lage, für ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Kinder aufzukommen.

31 Am 4.6.2020 wurde CG [...] der Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person (Pre-Settled Status) zuerkannt, auf dessen Grundlage ihr ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt gewährt wurde. Die Zuerkennung dieses Status setzt nicht voraus, dass die betreffende Person über bestimmte Mittel verfügt.

32 Am 8.6.2020 beantragte CG [...] eine Sozialhilfeleistung, die sogenannte Universalbeihilfe (Universal Credit). Ihr Antrag wurde mit Bescheid vom 17.6.2020 mit der Begründung abgelehnt, dass sie nicht die Voraussetzungen erfülle, die insoweit an den Aufenthalt gestellt würden.

33 Die zuständige Behörde vertrat die Auffassung, dass nur bei Personen, die gemäß Regulation 9(2) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich hätten, angenommen werden könne, dass sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hätten, und deshalb nur solche Personen die Universalbeihilfe erhalten könnten. Personen, die wie CG die Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten besäßen und über ein Aufenthaltsrecht nach Anhang EU der Niederlassungsregelung verfügten, kämen nach Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe hingegen nicht als potenzielle Empfänger der Universalbeihilfe in Betracht.

34 Das Aufenthaltsrecht, das durch den Anhang EU der Niederlassungsregelung für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten geschaffen wurde, gehört, wie sich aus Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe ergibt, nicht zu den Aufenthaltsrechten, die einen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich zu begründen vermögen. Mit dieser Bestimmung [...] wollten die nationalen Behörden die genannten Personen von der Kategorie der potenziellen Empfänger der Universalbeihilfe ausschließen. Hierzu sahen sie vor, dass das Aufenthaltsrecht, über das diese Personen nunmehr verfügen, für die Begründung eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ iSd Regulation 9(2) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe nicht relevant ist.

35 Der Bescheid des Ministers für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) vom 17.6.2020 wurde am 30.6.2020 bestätigt, nachdem CG gegen ihn Widerspruch eingelegt hatte.

36 CG erhob daraufhin beim Appeal Tribunal for Northern Ireland (Berufungsgericht für Nordirland, Vereinigtes Königreich) gegen den Bescheid vom 17.6.2020 Klage. Sie macht insb geltend, dass die Vorschrift, auf die der angefochtene Bescheid gestützt sei, nämlich die Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe, rechtswidrig sei. Diese Bestimmung verstoße insoweit gegen Art 18 AEUV und die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem European Communities Act 1972 [...], bei denen das Vereinigte Königreich anerkannt habe, dass sie sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhielten, keinen Anspruch auf Sozialhilfe hätten.

37 CG macht insoweit geltend, dass bei ihr, da sie über ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfüge [...]. Die Weigerung, ihr diese Sozialhilfeleistung zu gewähren, weil ihr Status für die Begründung eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Vereinigten Königreich unerheblich sei, stelle eine Ungleichbehandlung von Unionsbürgern, die sich rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhielten, und Personen, die die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besäßen, und damit eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit iS von Art 18 Abs 1 AEUV dar. Nach dem Urteil vom 7.9.2004, Trojani (C-456/02), und der einschlägigen nationalen Rsp könne sie sich unmittelbar auf diese Bestimmung berufen, um Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, da sie nach innerstaatlichem Recht ein Aufenthaltsrecht habe, auch wenn sie die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Erlangung eines Aufenthaltsrechts nicht erfülle.

[...]

39 Das Appeal Tribunal for Northern Ireland (Berufungsgericht für Nordirland) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. Ist die Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe, eingefügt durch 260 die Verordnung von 2019, die Unionsbürger, die nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf (vorübergehenden) Aufenthalt (im vorliegenden Fall den gemäß dem Anhang EU der Niederlassungsregelung erlangten „Status einer sich nicht dauerhaft im Vereinigten Königreich aufhaltenden Person“) verfügen, vom Bezug von Sozialhilfeleistungen ausschließt, (unmittelbar oder mittelbar) rechtswidrig diskriminierend nach Art 18 AEUV und nicht mit den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs nach dem Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften vereinbar?

  2. Wenn Frage 1 bejaht wird und Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe als mittelbar diskriminierend angesehen wird: Ist diese Bestimmung nach Art 18 AEUV gerechtfertigt und ist sie nicht mit den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs nach dem Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften vereinbar?

Zum Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren

[...]

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

[...]

51 Daraus folgt zum einen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt gem den Art 126 und 127 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs in den zeitlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und zum anderen, dass der Gerichtshof gem Art 86 Abs 2 des Abkommens dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über das Ersuchen des vorlegenden Gerichts zu entscheiden, soweit damit um die Auslegung von Art 18 Abs 1 AEUV ersucht wird.

52 Dagegen ist der Gerichtshof für Frage 1 insoweit nicht zuständig, als die Vereinbarkeit von Regulation 9(3)(d)(i) der Verordnung von 2016 über die Universalbeihilfe mit den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften beurteilt werden soll. Frage 1 betrifft insoweit weder die Auslegung des Unionsrechts noch die Gültigkeit einer Handlung der Unionsorgane iS von Art 267 Abs 1 AEUV.

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit der Fragen

[...]

59 Die Situation von CG fiel daher bis zum Ende des im Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs vorgesehenen Übergangszeitraums in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Vorlagefragen sind mithin insoweit zulässig, als sie die Auslegung von Art 18 Abs 1 AEUV betreffen.

Zur Beantwortung der Vorlagefragen

Zu Frage 1

60 Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 18 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, nach der Unionsbürger, die nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, unter das in ihm vorgesehene Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit fällt.

[...]

62 Als Erstes ist auf die Vorschriften einzugehen, die für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts relevant sind. Art 20 Abs 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEU-Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 57 und 58 sowie die dort angeführte Rsp).

63 Deshalb kann sich jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gem Art 18 AEUV berufen. Zu diesen Situationen gehören diejenigen, die die Ausübung der durch Art 20 Abs 2 lit a AEUV und Art 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 59 und die dort angeführte Rsp).

64 CG ist eine Unionsbürgerin, die von ihrem Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, um sich im Vereinigten Königreich niederzulassen. Ihre Situation fällt daher in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass sie sich grundsätzlich auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gem Art 18 AEUV berufen kann.

65 Nach stRsp soll Art 18 Abs 1 AEUV eigenständig allerdings nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEUV keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom 6.10.2020, Jobcenter Krefeld, C-181/19, Rn 78). Außerdem sieht Art 20 Abs 2 Unterabs 2 AEUV ausdrücklich vor, dass die Rechte, die dieser Artikel den Unionsbürgern verleiht, „unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt [werden], die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind“, und nach Art 21 AEUV besteht auch das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ (vgl idS Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 60 und die dort angeführte Rsp).

66 So hat das Diskriminierungsverbot für Unionsbürger, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Art 24 der RL 2004/38 eine konkrete Ausprägung erfahren.

67 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art 3 Abs 1 der RL 2004/38 nur Unionsbürger, die sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, begeben oder sich dort aufhalten, sowie ihre Familienangehörigen iS von Art 2 Nr 2 der RL, die sie begleiten oder ihnen 261 nachziehen, in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen und Berechtigte der durch diese gewährten Rechte sind (Urteil vom 10.9.2019, Chenchooliah, C-94/18, Rn 54 und die dort angeführte Rsp). Bei einer Person wie CG, die sowohl die kroatische als auch die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und von der Freiheit, sich im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs frei zu bewegen und aufzuhalten, vor Ende des Übergangszeitraums gem Art 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Gebrauch gemacht hat, ist dies der Fall. Eine Person, die sich in der Situation von CG befindet, fällt mithin in den Anwendungsbereich der RL 2004/38, so dass für die Beurteilung der Frage, ob sie aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert wird, nicht Art 18 Abs 1 AEUV, sondern Art 24 der RL 2004/38 maßgeblich ist.

68 Was als Zweites die Art der Sozialleistungen betrifft, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist festzustellen, dass mit dem Begriff „Sozialhilfe“ iS von Art 24 Abs 2 der RL 2004/38 sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme gemeint sind, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Exis tenzmittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die der Aufnahmemitgliedstaat gewähren kann (Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 63 und die dort angeführte Rsp).

[...]

71 Unter dem Vorbehalt der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen haben wird, ist die Universalbeihilfe demnach als Sozialhilfe iS von Art 24 Abs 2 der RL 2004/38 einzustufen.

72 Frage 1 ist daher umzuformulieren. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art 24 der RL 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats entgegensteht, nach der Unionsbürger mit einem vom Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts gewährten Recht auf vorübergehenden Aufenthalt, die nicht erwerbstätig sind und nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, während Personen, die die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzen, in einer solchen Situation einen solchen Anspruch haben.

73 Das vorlegende Gericht hat im Vorlagebeschluss festgestellt, dass die Kl des Ausgangsverfahrens seit mehr als drei Monaten im Vereinigten Königreich lebt, dass sie nicht arbeitssuchend ist und dass sie in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs eingereist war, um ihren früheren Lebensgefährten zu begleiten, der der Vater ihrer noch kleinen Kinder ist und von dem sie sich, nachdem sie Opfer häuslicher Gewalt geworden war, getrennt hat. Eine solche Situation fällt unter keinen der Fälle, in denen Art 24 Abs 2 der RL 2004/38 eine Ausnahme von der Gleichbehandlung zulässt, insb was den Zugang zu einer Sozialhilfeleistung wie der Universalbeihilfe betrifft.

74 Nach Art 24 Abs 1 der RL 2004/38 genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund der Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats.

75 Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Unionsbürger nur dann verlangen kann, hinsichtlich des Zugangs zur Sozialhilfe gemäß dieser Bestimmung die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats zu genießen, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der RL 2004/38 erfüllt (vgl idS Urteil vom Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 68 und 69).

76 Insoweit ist zu beachten, dass das Aufenthaltsrecht bei einem Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats von mehr als drei Monaten und weniger als fünf Jahren von den in Art 7 Abs 1 der RL 2004/38 genannten Voraussetzungen abhängig ist. Insb muss ein Bürger, der nicht erwerbstätig ist, für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen (Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38). Wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, soll damit ua verhindert werden, dass solche Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (vgl idS Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 71 und die dort angeführte Rsp).

77 Ließe man zu, dass Unionsbürger, denen kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38 zusteht, ebenso wie Inländer Sozialhilfeleistungen beanspruchen könnten, liefe dies diesem Ziel zuwider und würde es nicht erwerbstätigen Unionsbürgern unter Umständen ermöglichen, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl idS Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 74, 76 und 77 sowie die dort angeführte Rsp).

78 Ein Mitgliedstaat hat daher gem Art 7 der RL 2004/38 die Möglichkeit, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen und nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts gemäß der Richtlinie verfügen, Sozialhilfeleistungen zu versagen (vgl idS Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 78).

79 Folglich ist bei der Beurteilung der Frage, ob ein Unionsbürger gem Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38 über ausreichende Existenzmittel verfügt und sich daher im Aufnahmemitgliedstaat auf das Diskriminierungsverbot des Art 24 Abs 1 der Richtlinie berufen kann, um die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats zu genießen, eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation jedes Betroffenen vorzunehmen, bei der die beantragten Sozialhilfeleistungen außer Betracht bleiben (vgl idS Urteil vom 11.11.2014, Dano, C-333/13, Rn 80 und 81).

80 Im Ausgangsverfahren ergibt sich aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das Auskunftsersuchen des Gerichtshofs, dass CG nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Folglich kann bei einer solchen Person angenommen werden, dass sie 262 die Sozialhilfeleistungen des Vereinigten Königreichs unangemessen in Anspruch nimmt. Sie kann sich daher nicht auf das in Art 24 Abs 1 der RL 2004/38 vorgesehene Diskriminierungsverbot berufen.

81 Dem steht nicht entgegen, dass CG nach innerstaatlichem Recht über ein Recht auf vorübergehenden Aufenthalt verfügt, das ihr ohne Rücksicht darauf gewährt wurde, ob sie über bestimmte Mittel verfügt. Könnte sich nämlich ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger, der nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt und sich außerhalb der in der RL 2004/38 vorgesehenen Bedingungen im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, auf das Diskriminierungsverbot des Art 24 Abs 1 der Richtlinie berufen, würde er einen umfassenderen Schutz genießen als denjenigen, den er bei Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie erhalten hätte, die dazu geführt hätten, dass ihm ein Aufenthaltsrecht verweigert worden wäre.

82 Bei innerstaatlichen Bestimmungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die einem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht gewähren, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen der RL 2004/38 nicht alle erfüllt sind, ist zwar Art 37 der Richtlinie einschlägig. Danach steht die Richtlinie nicht dem entgegen, dass das Recht der Mitgliedstaaten eine Regelung vorsieht, die günstiger ist als die durch die Bestimmungen der Richtlinie eingeführte. 83 Bei einem solchen Aufenthaltsrecht kann aber nicht angenommen werden, dass es iS von Art 24 Abs 1 der RL 2004/38 „aufgrund dieser Richtlinie“ gewährt worden wäre. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Umstand, dass innerstaatliche Bestimmungen, die in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger günstiger sind als die der RL 2004/38, unberührt bleiben, keineswegs bedeutet, dass diese Bestimmungen in das mit der Richtlinie eingeführte System aufzunehmen wären. Er hat daraus insb gefolgert, dass ein Mitgliedstaat, der sich dafür entschieden hat, eine Regelung einzuführen, die günstiger ist als die durch die Bestimmungen der RL 2004/38 eingeführte, zu bestimmen hat, welche Folgen ein nur aufgrund des innerstaatlichen Rechts gewährtes Aufenthaltsrecht hat (Urteil vom 21.12.2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, Rn 49 und 50).

84 Wie bereits ausgeführt [...], hat ein Unionsbürger, der sich wie CG in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, jedoch von seiner in Art 21 Abs 1 AEUV verbürgten Grundfreiheit Gebrauch gemacht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, so dass seine Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und zwar selbst dann, wenn er sein Aufenthaltsrecht aus dem innerstaatlichen Recht ableitet.

85 Insoweit ist festzustellen, dass der Anwendungsbereich der Charta in Art 51 Abs 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil vom 13.6.2017, Florescu ua, C-258/14, Rn 44 und die dort angeführte Rsp). Nach ihrem Art 51 Abs 2 dehnt die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der EU hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch

ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben (Urteil vom 19.11.2019, TSN und AKT, C-609/17 und C-610/17, Rn 42).

86 Nach stRsp finden die in der Unionsrechtsordnung gewährleisteten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung (Urteil vom 19.11.2019, TSN und AKT, C-609/17 und C-610/17, Rn 43 und die dort angeführte Rsp).

87 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorlagebeschluss, dass die Behörden des Vereinigten Königreichs CG ein Aufenthaltsrecht gewährt haben, obwohl diese nicht über ausreichende Existenzmittel verfügte. Wie bereits ausgeführt [...], haben die Behörden des Vereinigten Königreichs eine Regelung angewandt, die, was das Aufenthaltsrecht angeht, günstiger ist als die durch die Bestimmungen der RL 2004/38 eingeführte. Diese Handlung kann daher nicht als Durchführung der Richtlinie angesehen werden. Die Behörden des Vereinigten Königreichs haben damit allerdings das den Unionsbürgern durch Art 21 Abs 1 AEUV verliehene Recht eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in seinem Hoheitsgebiet frei aufzuhalten, anerkannt, ohne sich auf die in der RL 2004/38 vorgesehenen Bedingungen und Beschränkungen dieses Rechts zu berufen.

88 Daraus folgt, dass die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, wenn sie dieses Recht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens gewähren, die Bestimmungen des AEUV über den Unionsbürgerstatus durchführen, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein [...], und dass sie daher verpflichtet sind, die Vorschriften der Charta zu beachten.

89 Insb hat sich der Aufnahmemitgliedstaat gem Art 1 der Charta zu vergewissern, dass ein Unionsbürger, der von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nach innerstaatlichem Recht ein Aufenthaltsrecht hat und sich in einer Situation befindet, in der er schutzbedürftig ist, gleichwohl unter würdigen Bedingungen leben kann.

90 Außerdem erkennt Art 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens an. Dieser Artikel ist iVm der Verpflichtung zu sehen, bei allen Handlungen, die Kinder betreffen, das in Art 24 Abs 2 der Charta anerkannte Wohl des Kindes zu berücksichtigen (vgl idS Urteil vom 26.3.2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C-129/18, Rn 67 und die dort angeführte Rsp).

91 Der Aufnahmemitgliedstaat ist verpflichtet, es den Kindern, die besonders schutzbedürftig sind, zu ermöglichen, dass sie mit dem Elternteil bzw den Eltern, dem bzw denen die elterliche Sorge zusteht, unter würdigen Bedingungen wohnen können.

92 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass CG Mutter von zwei noch kleinen Kindern ist, über keinerlei Mittel verfügt, um für ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Kinder aufzukommen, und auf sich allein gestellt ist, weil sie vor einem gewalttätigen Partner geflohen ist. In einem solchen Fall können die zuständigen nationalen Behörden einen Antrag auf eine Sozialhilfeleistung wie die Universalbeihilfe erst dann ablehnen, wenn sie sich vergewissert haben, dass dies den betreffen 263 den Bürger und die Kinder, für die ihm die elterliche Sorge zusteht, nicht dem konkreten und gegenwärtigen Risiko einer Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Art 1, 7 und 24 der Charta verbürgt sind, aussetzt. Im Rahmen dieser Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden sämtliche Hilfeleistungen berücksichtigen, die das innerstaatliche Recht vorsieht und die der betroffene Bürger und seine Kinder gegenwärtig tatsächlich in Anspruch nehmen können. Im Ausgangsrechtsstreit wird das vorlegende Gericht insb zu prüfen haben, ob CG und ihre Kinder die anderen Leistungen als die Universalbeihilfe, auf die die Vertreter des Vereinigten Königreichs und des Ministeriums für kommunale Angelegenheiten (Nordirland) in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen verwiesen haben, gegenwärtig tatsächlich in Anspruch nehmen können.

93 Nach alledem ist auf Frage 1 zu antworten:

  • Art 24 der RL 2004/38 ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats, nach der Unionsbürger mit einem vom Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts gewährten Recht auf vorübergehenden Aufenthalt, die nicht erwerbstätig sind und nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, während Personen, die die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats besitzen, in einer solchen Situation einen solchen Anspruch haben, nicht entgegensteht.

  • Hält sich ein Unionsbürger nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf, haben sich die zuständigen nationalen Behörden bei der Entscheidung über die Gewährung von Sozialhilfe jedoch zu vergewissern, dass die auf die genannte Regelung gestützte Ablehnung von Sozialhilfe den betreffenden Unionsbürger und die Kinder, für die ihm die elterliche Sorge zusteht, nicht einem konkreten und gegenwärtigen Risiko der Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Art 1, 7 und 24 der Charta verbürgt sind, aussetzt. Verfügt der betreffende Unionsbürger über keinerlei Mittel, um für seinen Lebensunterhalt und den seiner Kinder aufzukommen, und ist er auf sich allein gestellt, haben sich die zuständigen nationalen Behörden zu vergewissern, dass er im Falle der Nichtgewährung von Sozialhilfe mit seinen Kindern dennoch unter würdigen Umständen leben kann. Bei dieser Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden sämtliche Hilfeleistungen berücksichtigen, die das innerstaatliche Recht vorsieht und die der betreffende Unionsbürger und seine Kinder tatsächlich in Anspruch nehmen können.

Zu Frage 2

94 In Anbetracht der Antwort auf Frage 1 ist Frage 2 nicht zu beantworten.