„Die Impfung der natürlichen Blattern wird zu dem Zwecke anbefohlen, den Verlauf derselben milder zu machen.“ – Kurze Anmerkungen zur Geschichte der Impfpflicht

 KLAUS DIETERMULLEY (WIEN)

Die im Titel zitierte Kaiserliche Hofresolution wurde am 12.6.1769 unter Maria Theresia (1717-1780) an die Behörden gegeben.* Es dürfte sich – nach Einführung der sogenannten „Kindsplattern-Impfung“ – um eine der ersten staatlichen Anweisungen zur großflächigen Durchführung einer Impfung handeln, auch wenn von einer „Impfpflicht“ damals noch nicht die Rede sein konnte. Bis 1948, als die Impfpflicht gegen Pocken in Österreich normiert wurde,* gab es im Laufe der Jahrzehnte immer wieder heftig diskutierte Bemühungen und Vorschläge für eine gesetzliche Regelung.* Der vorliegende kleine Beitrag* wird versuchen, den bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Diskurs am Beispiel der „Blattern-Impfung“ (Pocken) in groben Umrissen* nachzuzeichnen.*

1.
Von der Pest- zur Pockenepidemie

Übertragbare Krankheiten geißeln die Menschheit seit jeher. 2018 fand man in Russland Hinweise auf die Existenz der „Beulenpest“ vor 3.800 Jahren.* Epidemien wurden von Historikern der Antike beschrieben.* Zahlreiche Quellen belegen das Wüten der Pest im Mittelalter, wobei unter „Pest“ oft auch andere Infektionskrankheiten subsumiert wurden. Doch nicht nur in Europa, in allen Teilen der Welt, in allen Kulturen, spielten Epidemien und Pandemien eine oft verheerende Rolle.* Die ansteckenden Krankheiten, die oft ganze Siedlungen in den Tod rissen und vielleicht auch ganze Kulturen ausrotteten, wurden von den Menschen vielfach als himmlische Strafe der Götter oder des Gottes gesehen, der man mit Beten und Opfergaben zu begegnen suchte. Als das Übertragungsrisiko dem Gemeinwesen, insb der jeweiligen Herrschaft, bewusst wurde, versuchte man die von der Krankheit befallenen Menschen ab- und auszusondern und Quarantäne-Regeln aufzustellen. Aus dem Mittelalter sind „Pestordnungen“ überliefert, die detailliert Anweisungen für das Verhalten beim Auftreten von Seuchen geben. Quarantäne, Isolation und Desinfektion waren jene Maßnahmen, mit welchen man ansteckende Krankheiten weitgehend einzudämmen bzw hintanzuhalten versuchte.* War bis zum 17. Jahrhundert die Pest die vorherrschende Infektionskrankheit, so wurden die folgenden Jahrzehnte zum „Jahrhundert der Pocken“.* Zwar lassen sich die „Blattern“, wie die Pocken damals genannt wurden, bis um 1500 v. Chr. zurückverfolgen, quälten zu unterschiedlichen Zeiten viele Kulturen, doch in Mitteleuropa schrieben sie sich erst später als gefährlichste Infektionskrankheit ein. So gab es – wie Angetta-Pfeiffer in ihrer sehr anregenden und gut recherchierten Publikation schreibt – um 1800 in Wien bereits 3.500 Pockenfälle, worunter viele Kinder waren.* Erreger der Pocken sind Viren, die durch Tröpfcheninfektion, durch Einatmen von Partikeln, somit durch Niesen oder Husten, oder auch über die Wäsche infizierter Personen übertragen werden.* Die Krankheit tritt in der zweiten Woche nach der Infektion auf, äußert sich in leichten und schweren Verläufen und kann – wie etwa bei einem Drittel der Erkrankten – zum Tod führen. Nach Fieber, Kopf- und Rückenschmerzen und Husten kommt es zu Hautreizungen (Pusteln), die 265 den ganzen Körper betreffen, aber sich vor allem am Kopf, an den Händen und an den Füßen zeigen. Bei einem leichten Befall trocknen die Pusteln nach vierzehn Tagen aus und es bleiben unschöne Narben. Ein schwerer Verlauf kann zu Lungenentzündung, Schädigung des Gehirns und der Augen, zu Lähmungen und dem Tod führen. Man stand den „Blattern“ – wie auch anderen ansteckenden Krankheiten – vorerst völlig hilflos gegenüber. „Kaiserin“ (Erzherzogin von Österreich und Königin ua von Ungarn und Böhmen) Maria Theresia überlebte die Pockenkrankheit und bemühte sich in der Folge, die damals bereits bekannte Impfung gegen die Epidemie auch in Österreich einzuführen.*

2.
Von der „Variolation“ zur „Vakzination“

Unter „Variolation“, auch „Inokulation“ genannt,* verstand man die Übertragung eines Sekrets der Pockenpusteln („Lymphe“) eines Menschen auf einen anderen Menschen etwa mit einem Faden durch Einritzen der Haut.* Damit sollte ein milderer Verlauf der Krankheit erreicht werden. Wurde dieses Verfahren bereits vor Jahrhunderten in China und Indien angewandt, so war es im 13. Jahrhundert auch in Europa bekannt, dürfte dann jedoch wieder in Vergessenheit geraten sein. Im 18. Jahrhundert dürfte die Variolation auf den Fürstenhöfen Verbreitung gefunden haben. Die Ärzte Anton Rechberger und Xaver von Lederer schrieben Abhandlungen über die „Einimpfung der Kinderblattern“.* Beide Schriften wurden 1796 und 1797 den Kreisämtern (damals gab es den vier Vierteln Niederösterreichs entsprechend vier Kreisämter) zur Verteilung angeboten.* Ein weitverbreiteter Aberglaube und die Verwendung herkömmlicher, nutzloser Heilmittel bestärkte in ländlichen Regionen die Abneigung der Bevölkerungen gegen die Variolation.*

Während in Ländern der Monarchie noch die Variolation favorisiert und der Aberglauben bekämpft wurde, entwickelte der englische Arzt Edward Jenner die sogenannte „Kuhpockenimpfung“, die sich bald als „game changer“ in der Pockenprophylaxe entwickeln konnte.* Nach mehreren Versuchen, letztlich auch an den eigenen Kindern, konnte er feststellen, dass die Infizierung mit Lymphe von an Pocken erkrankten Kühen Menschen weitgehend von der „Blatternkrankheit“ immunisierte, zumindest zu einem schwachen Verlauf der Krankheit führte. Die „Vakzination“ (von „vacca“ lateinisch „Kuh“), die Impfung mit „Kuhpocken“, verbreitete sich rasch über alle europäischen Länder. Nach entsprechenden Tests wurde 1802 diese Impfung auch vom kaiserlichen Hof in Wien empfohlen und in der Folge verpflichtend gemacht.

3.
Indirekte Impfpflicht in der Habsburgermonarchie*

Die um 1800 in Wien grassierende Pockenepidemie ebbte in den folgenden Jahren rasch ab, was allerdings mehr auf Selbstschutz der Bevölkerung denn auf eine Verbreitung der Vakzination zurückzuführen war. Die Wiener Findelanstalt* wurde als Impfinstitut eingerichtet. 1804 wurde „nach dem umittelbaren Willen Sr. Maj. des Kaisers“ (damals Franz II.) ein Aufruf von den Bezirksverwaltungsbehörden an die Seelsorger verteilt, den diese bei jeder Taufe den Eltern des Kindes überreichen oder vorlesen sollten.* In dem umfangreichen Brief an die „lieben Eltern“ wird eingangs auf die Freude der Eltern an dem Neugeborenen eingegangen. Nach Aufzählung aller Vorteile der „Kuhpoken- Einimpfung“ wird, ausgehend von einem Dank an den „Allmächtigen“ für die Überwindung der Blatternkrankheit, vor dem Versäumnis einer Impfung gewarnt. Wehe den Eltern, deren Kind oder Kinder ungeimpft an den Blattern sterben. Sie würden sich nicht nur ihr Leben lang Gewissensvorwürfe machen: „Gewiß, ihr würdet in diesem Falle nichts geringeres als die Mörder eurer eigenen Kinder sein! Und ihr würdet es einst dem Allmächtigen schwer verantworten müssen ...“. Soweit dieses wohl einzigartige Dokument, in dem von Motivation (Freude am Kind) über Information (Vorteile der neuen Impfung) und Warnung (vor dem Leben als Kindermörder) bis hin zur Sanktion (durch den „Allmächtigen“) alles enthalten war, was moderne Kommunikation ausmacht. 266

4.
Impfzwang und Impfrenitenz

Im September 1805 kam es in Wien zu einem Ausbruch der Pocken, der nahezu täglich eines oder mehrere ungeimpfte Kinder in den Tod riss. Das Versäumnis, die Kinder impfen zu lassen, führte die k.k. Landesregierung auf eine bei den Eltern offenbar weit verbreitete geringe Aufmerksamkeit, Unwissenheit und auf Vorurteile zurück. Die Landesregierung warnte vor einem Versäumnis der Impfung, denn dieses sei auch „immer Verletzung der Pflicht der Aeltern gegen ihre Kinder, und gegen den Staat“. Erstmals wird die Vernachlässigung der Impfung als eine gegen den Staat gerichtete Handlung bezeichnet.*

1807 gab die niederösterreichische Behörde die Anweisung, „daß alle Jahre im May und Junius auf dem Lande eine allgemeine Vaccination bey allen denjenigen Kinder vorgenommen werden soll, die von den natürlichen Blattern noch nicht befallen worden sind“.* Damit wurde de facto erstmals in „Österreich unter der Enns“ der Impfzwang für Kinder eingeführt. Auch für die Aufnahme in die Wiener Neustädter Militärakademie war ein Impfzeugnis Voraussetzung.* Im Jänner 1808 bestimmte ein „Impf-Normale“ Belohnungen für besonders fleißige Impfärzte, die Stempelfreiheit von Impfzeugnissen und den Schutz von Krankenanstalten. Die Gültigkeit aller bisherigen einschlägigen Hofbefehle, soweit sie nicht im Widerspruch zur erlassenen Norm standen, wurden bestätigt.*

Nach einem erneuten Ausbruch der Krankheit in Niederösterreich überlegte die niederösterreichische Regierung scharfe Maßnahmen gegen Impfrenitenten. Der zu Rate gezogene „Director und Präses der medicinischen Studien und Facultät in Wien“ schlug vor, „die nicht geimpften oder geblatterten Kinder aufzusuchen, zwangsweise zu impfen, und etwaigen Widerstand selbst durch Militärassistenz zu brechen“.* Das ging der Hofkanzlei nun doch zu weit. „Zwangseinleitungen, die mit Störung der häuslichen Verhältnisse verbunden sind, und welche Willkür und mancherlei Kränkungen zu freien Spielraum lassen, die sich endlich in ihrer näheren Entwicklung vollens undurchführbar darstelllen“ dürfe es nicht geben.* Und der Kaiser meinte: „Bevor die gänzliche Überzeugung nicht vorhanden ist, dass die Vaccination ganz von den natürlichen Pocken schütze, kann von Seite des Staates nicht zwangsweise vorgegangen werden.“* Die Hofkanzlei blieb deshalb vorsichtig und trat für „indirecte Zwangsmittel“ ein.*

Nachdem es jedoch weiterhin zu Blatternausbrüchen unter Ungeimpften kam, wurden „die ersten umfangreichen Zwangsmassregeln mit Hofkanzleidekret v. 21. Febr. 1812 angeordnet“.* An Blattern verstorbene Kinder sollten ohne priesterliche und verwandtschaftliche Begleitung still beigesetzt werden. Ärzte und Familienoberhäupte hatten einen Fall von Blattern sofort der Obrigkeit zu melden. Das Haus, in dem sich ein blatternkrankes Kind befindet, musste gekennzeichnet, der Name des Kindes veröffentlicht werden. Die Pfarrer hatten vierteljährlich die Namen an Blattern verstorbener Kinder von der Kanzel mit Hinweis auf die Verantwortlichkeit der Eltern vor Gott zu verlesen. Familienoberhäupter, welche die Vaccination verweigern, waren der Hofstelle zu melden. Die Bestrafung der Erziehungsberechtigten für die Impfverweigerung zielte auf die Zerstörung ihres gesellschaftlichen Status, ihres Prestige im Gemeinwesen. Im Juni 1812 wurde verordnet, dass bei Erkrankung eines Schulkindes alle noch nicht geimpften Kinder der Schule bei Weiterbezahlung des Schulgeldes für vier Wochen vom Unterricht ausgeschlossen werden.* Nachdem es in den folgenden Jahren jedoch zu Impfdurchbrüchen bei Vaccinierten kam, mussten einige Vorschriften gelockert oder geändert werden. So etwa jene des Begräbnisses und der Warungstafeln am Haus.* Andererseits wurde nun die Unterlassung der Anzeigepflicht mit einer Geldstrafe von höchstens drei Gulden (rund € 60,–) bedroht, sogenannte „Impf-Renitenten“ mussten weiterhin dem Hof angezeigt werden.*

In der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts verschärfte der Staat, wo er Einfluss hatte, das Erfordernis eines gültigen Impfnachweises: So etwa bei der Erlangung von Stipendien, bei den Kindern in Waisenhäusern, bei der Übergabe von Pflegekindern, bei der Entlassung von als geheilt angesehenen Kranken aus Spitälern und bei Klosterkandidatinnen.* Später wurden alle Eltern und Vormünder verpflichtet, ihre noch ungeimpften Kinder unter Strafandrohung auf bestimmte Impfplätze zur Vornahme der Vakzination zu bringen.* Die Impfung war kostenlos. Die Kosten wurden anfangs durch einen an den Staat zu leistenden Beitrag bei der Trauung gedeckt, später dann aus dem Budget übernommen. 1825 wurden dann jene Vorschriften benannt, nach denen Impfrenitenten sowie „unbefähigte Impfärzte“ zu bestrafen waren. Wenn Eltern oder Vormünder sich weigern, mit ihren anvertrauten Kinder zu den von den Bezirksobrigkeiten bekannt gemachten Impfterminen zu erscheinen, waren sie „nach dem Untertanstrafpatente vom Jahre 1781 als ungehorsame Untertanen“ zu behandeln.* Konnten oder wollten Impfärzte die vorgeschriebene Impfung nicht durchführen, waren sie als „Kurpfuscher“ zu bestrafen, bei Säumigkeit mit Strafen 267 in der Höhe von 50 Gulden (rund € 650,–) zu belegen. Bei Wiederholung war ihnen die Impfbefugnis zu entziehen.* Des Weiteren wurde befohlen, mit allen gesetzlichen Mitteln gegen Impfverweigerer vorzugehen, sie in Listen zu verzeichnen und der Obrigkeit zu melden.*

5.
Die Normalvorschrift über die Schutzpockenimpfung 1836

Die Impfgesetzgebung war überwiegend Anlassgesetzgebung: Wenn es zu keinem größeren Ausbruch der Krankheit kam, ruhte der Diskurs über Prophylaxe und Bekämpfung der Seuche. Machten sich die Blattern bemerkbar, reagierte die Obrigkeit mit Vorschriften. Dadurch kam es im Laufe der Jahre zu einer Fülle von sich inhaltlich überlappenden Verordnungen. Zu einer Kodifizierung kam es nach Konsultationen mit den Landesregierungen erst durch die „Vorschrift über die Kuhpockenimpfung in den k. k. Staaten“, die durch das Hofkanzleidekret vom 9.7.1836 kundgemacht wurde.* Die Vorschrift normierte die indirekte Impfpflicht. Abschnitt 1 behandelt die Leitung der Impfung durch Kreisärzte, die Besorgung und Aufbewahrung des Impfstoffes und verpflichtet Seelsorger, Lehrer und Gutsbesitzer zur Verbreitung der Impfung. So etwa wurden den Pfarrern aufgetragen, zweimal im Jahr von der Kanzel über die Notwendigkeit der Impfung zu sprechen, Volksschriften über die Impfung sollten verteilt werden, die Gutsbesitzer sollten ihre eigenen Kinder impfen und damit ein Beispiel für das „gemeine Volk“ geben. Von Strafbestimmungen für Impfrenitenten wurde abgesehen, da die bisherigen Regelungen in Kraft blieben. Im zweiten Abschnitt der Normalvorschrift wird die Durchführung der Impfung für die Ärzte im Detail beschrieben. Die Ärzte wurden mit der Ausstellung von Impfzeugnissen und entsprechenden Impfprotokollen beauftragt. Seelsorger, Impfärzte und die Ortsobrigkeit hatten bei Evidenzführung zusammen zu arbeiten. Nachdem bald bekannt wurde, dass ein lebenslanger Schutz gegen Pocken nur durch eine Auffrischungsimpfung möglich war, wurde die allgemeine Revaccination angeordnet: Insb bei einem epidemischen Ausbruch sollte nicht nur „eine Nothimpfung aller ungeimpften von Haus zu Haus vorzunehmen“ sein, sondern auch alle Geimpften erneut geimpft werden.* In den 1850er-Jahren befeuerten zwei Anfragen den Diskurs über die Impfpflicht: Zum einen bat das Innenministerium 1853 die Ärzteschaft um eine Evaluierung der bisherigen Impfvorschriften,* zum anderen ersuchte das britische Parlament die europäischen Staaten um ein Gutachten über eine Impfempfehlung.* Die Diskussion wurde in der österreichischen Ärzteschaft mit beispielloser Härte geführt: Statistiken wurden angezweifelt angezweifelt, Ergebnisse von Untersuchungen ad absurdum geführt, persönliche Angriffe blieben nicht aus.* Für die überwiegende Zahl der Ärzte bot die Impfung einen guten, wenn auch nicht vollständigen Schutz vor der Erkrankung, besonders aber vor dem Tod.*

6.
Ein „despotisches Gesetz“?

Nahezu ein Jahrzehnt später flammte der Impfdiskurs erneut auf: Der Salzburger Landtag beschloss 1864 die Regierung in Wien aufzufordern, einen „direkten Impfzwang“ einzuführen, zumal sich dieser seit 1807 im benachbarten Bayern bewährt habe.* Dessen ungeachtet erklärte der oberösterreichische Landtag die Impfung „von zweifelhaftem Nutzen“ und begründete dies mit der Uneinigkeit von Ärzten und Wissenschaftern. Die Steiermark und Kärnten sprachen sich mit unterschiedlicher Argumentation gegen die Impfpflicht aus, Tirol, Vorarlberg und die Bukowina waren teils unter Bedingungen dafür, Sanitätsorgane in Böhmen und Mähren und ein Ärzteverein von Krain waren dagegen.* Die medizinische Fakultät der Universität Wien wurde beauftragt, ein Gutachten über die Notwendigkeit einer Impfpflicht zu erstellen. Aus Vertretern der Fakultät und der Gesellschaft der Ärzte wurde ein Comité gebildet, welches einen neuen „Impf-Gesetzentwurf“ erarbeitete. Nach heftigen Diskussionen beschloss das Fakultätskollegium am 31.10.1864 nach Vorschlag des Comités einen § 1 in der Textierung „Jeder Bewohner des österreichischen Staates ist verpflichtet, sich der Impfung mit der Schutzpocke zu unterziehen“. Dem Entwurf musste vereinbarungsgemäß auch die Gesellschaft der Ärzte zustimmen. Diese stieß sich an den Strafbestimmungen in § 14 des Entwurfs und initiierte eine neuerliche Grundsatzdiskussion über eine generelle Impfpflicht. Letztlich wurde diese abgelehnt, der Entwurf verworfen und eine Stellungnahme für die Beibehaltung der indirekten Impfpflicht beschlossen. Den Impfpflichtbefürwortern des Comités, die den Entwurf mühsam erarbeitet hatten, verblieb nur ein Minoritätsgutachten.* Eine der Gründe für das Scheitern der staatlichen Impfpflicht lag im weit verbreiteten bürgerlich-liberalen, freisinnigen Zeitgeist. Das „Linzer Abendblatt“ kommentierte die Ablehnung einer generellen Impfpflicht mit den Worten: „In Wien fängt man an, einzusehen, daß sich mit den268konstitutionellen Staatsformen ein despotisches Gesetz nicht gut verträgt.“*

7.
Für und Wider einer Impfpflicht

Anfangs der 1870er-Jahre wurde Europa von einer Blatternepidemie heimgesucht. Insb Wien wurde stark betroffen, da die Impfbereitschaft zurückgegangen war.* Außerdem waren nun auch in der Wissenschaft und in der Ärzteschaft vermehrt Zweifel über die Effizienz der Vaccination, aber auch einer Revaccination hörbar geworden.* Die Gefahr der Ansteckung mit Syphilis durch unreinen Impfstoff, was offenbar sehr oft vorkam, trug ebenfalls zur Ablehnung der Impfung bei.* Die lokale und regionale Verwaltung besaß nicht jene Durchgriffsmöglichkeiten wie die frühere Partimonalverwaltung. Und die Herrn Seelsorger fühlten sich auch nicht mehr an die Verordnungen des Staates gebunden. Sowohl der Obersanitätsrat Dr. Joseph Schneller*, wie der Primararzt Dr. H. Auspitz*, beide glühende Befürworter eines direkten Impfzwanges, blieben mit ihren Vorschlägen für eine Neufassung des Impfgesetzes weitgehend allein. Nachdem im Deutschen Reich 1874 ein Impfgesetz beschlossen wurde,* setzte sich eine Reihe von Publikationen mit dem Für und Wider eines Impfzwanges auseinander, brachten jedoch keine neuen Erkenntnisse.

8.
Naturheilkunde und Impfpflicht

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekamen jene, die aus religiösen, juridischen oder ärztlichen Motiven die Pockenimpfung ablehnten, durch die Bewegung der Naturheilkundler Zuwachs. So etwa fand am 2.2.1902 eine Versammlung im Saal des Ingenieur- und Architektenvereins statt, zu dem die „vereinigten Naturheiler, Vegetarier, Antivivisektionisten*und Impfgegner sehr zahlreich erschienen“.* Ein Redner aus Deutschland behauptete, es sei widersinnig, in das Blut eines gesunden Menschen eine „Eiterjauche“ einzuführen. Und „es widerspräche der Logik und den Satzungen der Naturheilkunde, einen Menschen durch krank machende Stoffe, und das sei die Lymphe, gegen Krankheit schützen zu wollen“. Dadurch würden nur bis zu 50 verschiedene Krankheiten übertragen werden. Eine „reinliche und hygienische Lebensweise“ allein sei „ein ausreichender Schutz gegen die Pocken“. Wiewohl zu jener Zeit die Einführung der Impfpflicht nicht im politischen Diskurs war, riefen die Naturheiler auf, sich mit allen Mitteln gegen derartige Pläne zu wehren.

Jahre später, die Pocken hatten wieder einmal Wien erreicht,* wurde die schlechte Durchimpfungsrate der Agitation der Naturheilbewegung* und von den Sozialdemokraten den in der Stadt herrschenden Christlichsozialen zugeschrieben.* Am 21.10.1907 stellte die christlichsoziale Stadtverwaltung den Impfgegnern die Volkshalle des Rathauses für eine Versammlung zur Verfügung, wo es zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern zu tumultartigen Zusammenstößen kam.*

Als 1912 im Abgeordnetenhaus des Reichsrates der Vorschlag für ein Epidemiegesetz verhandelt wurde, meldete sich der Obmann des Sanitätsausschusses und sozialdemokratischer Abgeordnete Victor Adler zu Wort.* Er geißelte die Verzögerung einer Beschlussfassung durch die Anhänger der Naturheiler, die völlig unzutreffend durch das Gesetz die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht vermuteten.

9.
Vom Protest 1919 zum deutschen Impfgesetz

Im Frühjahr 1919 protestierte der „Naturheilverein Wien“ mit Plakaten gegen einen Impfzwang, der die ohnehin unterernährte Bevölkerung noch mehr schwächen würde. Vertreter des Vereins wandten sich in einem Schreiben an die Mitglieder der Nationalversammlung sowie an Sanitätsbehörden gegen die Einführung von „Zwangsimpfmaßnahmen“.* Sie behaupteten, ein Impfzwang sei unnötig, da es dennoch – wie sich in Deutschland zeige – immer wieder zu Blatternausbrüchen komme. Der beste Schutz sei „erhöhte Reinlichkeit und Körperpflege durch Dampf-, Wasser-, Luft- und Sonnenbäder ...“.* Es waren wohl nicht die entsprechenden Bäder der Naturheilkundler, sondern vielmehr die regelmäßig durchgeführten Impfungen, die Österreich in der Ersten Republik von der Pockenepidemie verschonte. So etwa wurde 1922 in Wien mit der Vorziehung der obligaten Pockenimpfung für Schulkinder rasch reagiert, als es zu Erkrankungsfällen an Blattern in der Schweiz kam.* In Vorarlberg wiesen die Zollbehörden, ob der Pockenepidemie in der Schweiz, gebrauchte Wäsche, getragene Kleider und Ähnliches zurück.* Ab Mitte 269 August 1923 wurde für den kleinen Grenzverkehr mit Liechtenstein und der Schweiz der Impfzwang verordnet.* Nach dem Abebben der Epidemie in der Schweiz wurden die Einschränkungen wieder aufgehoben.

1931 stellte die christlich-soziale Abgeordnete Olga Rudel-Zeynek im Bundesrat einen Antrag auf eine gesetzliche Einführung der Impfpflicht. Sie verwies darauf, dass die Impfpflicht in allen Nachbarländern besteht und es durch die Einschleppung der Krankheit zu einer Schädigung des Fremdenverkehrs und somit der gesamten Wirtschaft des Landes kommen könnte.* Der Antrag wurde im zuständigen Ausschuss beraten, prinzipiell angenommen, jedoch dem Sanitätsrat zur Begutachtung übersandt.* Die Politik dürfte aber wenig Interesse an der Frage gezeigt haben.

Erst 1937, als ein Rekrut die Impfung mit Hinweis, dass er dazu nicht verpflichtet sei, verweigert hatte, beschäftigte sich die austrofaschistische Regierung mit der Frage einer Einführung der Impfpflicht. Sie beschloss die Einführung der Impfpflicht im Heer und im austrofaschistischen Wehrverband „Frontmiliz“. Das „Militärimpfpflichtgesetz“* war Vorbote für ein geplantes Impfpflichtgesetz, zu dem es infolge der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht mehr kam.*

Nach ihrer Machtübernahme in Deutschland hatten die Nationalsozialisten 1933 jegliche Betätigung der Impfgegner unter Strafandrohung verboten. Ihre Vereine wurden behördlich aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt.* Nach der Annexion Österreichs wurde mit der „Verordnung zur Einführung reichsrechtlicher Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in der Ostmark“ vom 14.7.1939 das deutsche Impfgesetz vom 8.4.1874 eingeführt.* Um eine Massennachimpfung und damit Unruhe in der Bevölkerung zu vermeiden, wurde bestimmt, dass alle Personen, die älter als zwei Jahre sind und noch nicht geimpft wurden, auch weiterhin vom Impfzwang befreit sind. Bei drohender Pockengefahr mussten aber auch sie sich impfen lassen, sollte dies angeordnet werden. 1940 wurde eine Verordnung zur Durchführung des Impfgesetzes erlassen, welche Fragen des Impfstoffes und der Durchführung der Impfung regelte und bestimmte, dass die Ortspolizeibehörden für die Erfassung der säumigen Impfpflichtigen zuständig sind.* Für den Nationalsozialismus war Impfen Pflicht an der sogenannten „Volksgemeinschaft“. Die Eltern sollten ihre Kinder nicht ob der Strafandrohung, sondern aus Verpflichtung gegenüber der „Volksgemeinschaft“ in den „Mutterberatungsstellen“ oder in den Gesundheitsämtern impfen lassen.*

10.
Von der Impfpflicht zu deren Abschaffung

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in Österreich weiter nach dem von den Nationalsozialisten eingeführten deutschen Impfgesetz vorgegangen. Im Juni 1946 wurde in Linz die Pockenschutzimpfung nach dem deutschen Impfgesetz angeordnet: „Eltern oder Kindererziehungsberechtigte, deren Kinder oder Pfleglinge ohne gesetzlichen Grund der Impfung fernbleiben, werden nach dem Impfgesetz mit Geldstrafen bis zu 50 S bestraft.“*

Auch vom Wiener Gesundheitsamt wurde diese Strafdrohung bei unentschuldigendem Fernbleiben von der angeordneten Impfung ausgesprochen.* Das im Juni 1947 beschlossene Gesetz „über die Wiederherstellung österreichischen Rechtes auf dem Gebiet des Gesundheitswesens“ beließ das deutsche Impfgesetz weiterhin in Wirksamkeit.*

Zu groß schien die Gefahr, dass durch den Reiseverkehr der Alliierten die noch immer in der Welt grassierenden Pocken wieder in Österreich eingeschleppt werden. Im Sozialministerium beschäftigte man sich mittlerweile mit einem österreichischen Impfgesetz, welches die deutschen Bestimmungen ersetzen sollte.* Man ging – wie im Ausschussbericht ausgeführt* – von einer „Verminderung der Impffreudigkeit“ der Bevölkerung aus. Man müsse jedoch auf der Hut sein, da die Ansteckungsgefahr durch eine Verkürzung der Reisezeit bei Zunahme des Reiseverkehrs „vor allem durch die Alliierten in Österreich“ steigt. Nachdem sich der Oberste Sanitätsrat gegen „die im ursprünglichen Entwurf enthaltenen Bestimmungen, nach denen Möglichkeit bestanden hätte, im Verordnungswege Vorschriften über Vornahme von Schutzimpfungen auch gegen Cholera, Scharlach, Diphterie, Paratyphus und Typhus anzuordnen“ aussprach, blieb es bei der Impfpflicht nur gegen Pocken.* Der Gesetzesentwurf erhielt breite Zustimmung mit Ausnahme vom Land Vorarlberg, welches gegen die Einführung der Impfpflicht war.* Das am 30.6.1948 vom Nationalrat einstimmig beschlossene Gesetz* sieht in der Verweigerung der in § 1 ausgesprochenen Impfpflicht eine Verwaltungsübertretung, die mit Geld bis 1.000 Schilling oder mit bis zu 14 Tagen Arrest bestraft wird. Holt der Impfverweigerer sein Versäumnis nach, bleibt er straffrei.* Wichtig war auch, dass die AN keine finanziellen Nachteile durch die Erfüllung der Impfpflicht zu befürchten hatten.* Eine Verordnung vom 22.11.1948 regelte die Durchführung der Impfung.*

Neben der Impfpflicht gegen Pocken wurden im Laufe der Jahrzehnte Impfungen gegen weitere 270 Krankheiten auf freiwilliger Basis eingeführt. Und wieder nahm die Impfbereitschaft in der Bevölkerung im Laufe der Jahre ab. Trotzdem würden „prinzipielle weltanschauliche und gesundheitspolitische Überlegungen“ gegen eine gesetzliche Impfpflicht sprechen, wie Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter 1975 ausführte: „Es sei richtiger den Staatsbürger über Sinn und Zweck prophilaktisch-gesundheitlicher Maßnahmen zu informieren.“* Dennoch trat die Gesundheitsministerin vorerst für eine Beibehaltung der Impfpflicht gegen Pocken ein, da – wie sie 1976 in einer parlamentarischen Beantwortung ausführte* – es von der Weltgesundheitsorganisation noch keine entsprechende Empfehlung gab. Erst als am 8.5.1980 die Weltgesundheitsversammlung in Genf feierlich die Befreiung der Welt von der Pockenkrankheit verkündete, beschloss der Oberste Sanitätsrat am 21.6.1980 einstimmig die Aufhebung der Impfpflicht.* Am 15.12.1980 beschloss dann der Nationalrat einstimmig mit Wirkung vom 1.1.1981, das BG über Schutzimpfungen gegen Pocken aufzuheben.*

41 Jahre später wurde* – im Rahmen der Bekämpfung der Corona-Epidemie – für alle in Österreich wohnhaften Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, wieder ein „Impfpflichtgesetz“ beschlossen.*