Tálos/ObingerSozialstaat Österreich (1945-2020)

StudienVerlag, Innsbruck 2020,192 Seiten, gebunden, € 24,90

ANDREASRAFFEINER (BOZEN)

Beim zu rezensierenden Werk handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des 273 vor rund eineinhalb Jahrzehnten erschienenen Buches „Vom Siegeszug zum Rückzug. Sozialstaat Österreich 1945-2005“. Auch dieser Band war im renommierten Innsbrucker StudienVerlag erschienen. Im ersten Teil befassen sich die akkurat und gewissenhaft arbeitenden Autoren mit der Entwicklung des Sozialstaates, der ohne Zweifel als Aufbau angesehen werden kann. Dabei wurden die Anfänge der Arbeitsschutzgesetze und die Etablierung der Sozialversicherungszweige UV und KV der 1880er-Jahre angesprochen. Darüber hinaus werden die von der Sozialdemokratischen Partei in die Wege geleiteten, fundamentalen sozialpolitischen Reformen nach dem Ersten Weltkrieg, einhergehend mit der Gründung der Ersten Republik, bis hin zum „Siegeszug“ des Sozialstaats von 1945 bis 1985 umrissen. Es ist keineswegs fehl am Platz, wenn man die vier Jahrzehnte als „goldenes Zeitalter“ des Sozialstaats und der Sozialpartnerschaft beschreibt.

Im zweiten Abschnitt des überblicksartig gut gelungenen Buches beschäftigen sich Emmerich Tálos und Herbert Obinger mit den sozialpolitischen Veränderungen seit den 1980er-Jahren. Wirtschaftlich gesehen war diese Epoche von geringerem Wirtschaftswachstum, höheren Arbeitslosenzahlen, steigender Lebenserwartung und Frauenerwerbsarbeit, ökonomischem Wohlstand und sinkenden Geburtenraten gekennzeichnet. Aber auch die Tertiärisierung, eine verstärkte Zuwanderung, die europäische Integration und das keineswegs mehr zu verleugnende Aufkommen der Globalisierung passen in dieses Zeitfenster. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die sozialpolitischen Folgen des EUBeitritts einige Widersprüchlichkeiten und Antagonismen ans Tageslicht beförderten. Die Sozialpolitik der von Vranitzky und Klima geführten Großen Koalition zwischen 1986 und 1999 beinhaltete pragmatische Anpassungen an die erneuerten sozioökonomischen Bedingungen; ein auffallend substanzieller Kurswechsel konnte nicht dingfest gemacht werden.

Das Intermezzo unter Schüssel und dem zwischen 2000 und 2006 bestehenden ÖVP-FPÖ/BZÖ- Regierungsbündnis trat dessen ungeachtet mit der programmatischen Zielsetzung an, die Grundpfeiler des Sozialstaates zu ändern. Dabei sollten die Sozialleistungen dem neoliberalen Denkmuster angepasst, dem neoliberal angehauchten wirtschafts-, standort- und bugdetpolitischen Dringlichkeiten untergeordnet bzw auf die tatsächlich Bedürftigen zugeschnitten werden. Ein „schlanker Staat“ sollte eigens dafür eingeführt, die Kritik am großen sozialpolitischen Aktionsradius des Staates angesteuert und verwirklicht werden. Die türkis-blaue Koalition unter Kurz knüpfte an diese Zielsetzung an und setzte alle Hebel in Bewegung, um den Selbstverwaltungsmechanismus in der SV umzubauen. Dabei wurden die zulässige Höchstarbeitszeit auf zwölf Stunden pro Tag bzw 60 Stunden pro Woche angehoben. Das Einschlagen dieses neuen Kurses war ohne Zweifel eine Abkehr vom Entwicklungsgang nach 1945. Durch die Ibiza-Affäre um Vizekanzler Strache, den vorgezogenen Wahlen zum Nationalrat und den Austausch des Juniorpartners in der Regierung nach dem Motto „aus blau mach grün“ kam der Sozialhilfestaat à la Thatcher nicht mehr zustande.

Im dritten Abschnitt untersuchen Tálos und Obinger die interessanten Bestimmungskennzeichen der staatlichen Sozialpolitik. Dabei erfährt der Leser, dass die eingangs angeführte Sozialpolitik seit den 80er- Jahren des letzten Jahrhunderts in einer mehr als nur engen Verknüpfung mit den sozio-ökonomischen Entwicklungen jener Ära stand. Just diese Entwicklungen haben die politischen Handlungsspielräume, die ihnen geboten wurden, keinesfalls beseitigt. Die Reaktionen auf die Herausforderungen dieser Zeit können mit Fug und Recht als Ergebnis von Akteuren und Konstellationen der Macht, aber auch in der gleichen Art und Weise von politischen Debatten, institutionellen Rahmenbedingungen, Besprechungen und Verhandlungen bezeichnet werden. Es ist überhaupt kein Fehler, wenn man das Ganze als politische Bestimmungsrichtlinien iSd Ressourcen der Macht und der Differenzentheorie innerhalb des Parteienspektrums titulieren würde. Dass zusätzlich eine wesentliche Rolle für die Entwicklungsdynamik staatlicher Sozialpolitik freigesetzt wurde, kommt als entscheidender und gewissermaßen wesentlicher Faktor hinzu.

Im vierten und letzten Kapitel kommen die Freunde wirtschaftlicher Kennzahlen und Vergleiche voll auf ihre Rechnung, geht es ja um Sozialstaatsindikatoren für Österreich und anderer, hoch entwickelter Länder des OECD-Raums. Wenn man den Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt betrachtet, befand sich Österreich im Jahr 2017 mit 27,7 % im Spitzenfeld und überdies ein wenig über dem Wert von Mitte der 1980er-Jahre. Ein Drittel wurde über Sachleistungen, der Rest über Geldleistungen ermittelt. Man muss wissen, dass Geld- und Sachleistungen als die essentiellen Kernelemente der hohen Transferorientierung der Sozialpolitik auszumachen sind. Folglich weist das Sozialsystem hinsichtlich der drei Esping-Andersen‘schen Idealmuster von Sozial- und Wohlfahrtsstaatsregimen die größte Schnittmenge zum Muster eines konservativen Modells schlechthin auf. Die soziale Sicherung wurde dessen ungeachtet um Punkte des sozialdemokratischen Modells angereichert. Mehr als die Hälfte der staatlichen Ausgaben fielen im Folgejahr auf den Sozialsektor. Ferner muss man auch auf die Nettosozialausgabenquote in Relation zum Bruttoinlandsprodukt Rücksicht nehmen und sich die Frage stellen, wie hoch der Wirtschaftsleistungsanteil effektiv ist, der für rein sozialpolitische Zielsetzungen netto zur Verfügung steht. Diese Quote berücksichtigt dabei die freiwilligen Sozialausgaben und die sozialpolitisch zu verstehenden und folglich motivierten Steuervergünstigungen. Zudem bereinigt sie die privaten und öffentlichen Sozialtransfers um die Steuer- und Abgabenlasten, einerlei, ob sie nun direkt oder indirekt sind. Im Jahre 2015 lag Österreich auf Platz zehn aller OCED-Länder, wenn man die Nettosozialausgabenquote von gut 24 % als Gradmesser heranzieht. Der drei Jahre später ermittelte Anteil der Sozialversicherungsbeiträge am Bruttoinlandsprodukt lag bei 14,7 %. Diese wenigen Zahlen unterstrichen eindrucksvoll, dass Österreich 2015 zum internationalen Spitzenfeld gehörte und in drei von vier Gebieten, wenn wir die Pension bewusst ausklammern, die Nettolohnersatzrate niedriger als 1980 war.

Bleibt das Gesamturteil: Tálos und Obinger haben keine Mühen gescheut, um dieses Buch zu schreiben. Der zu besprechende Band, und das ist wohl hoffentlich keinesfalls bloß die Meinung des Rezensenten, sollte nicht nur sozialpolitischen Fachleuten Lesestoff bieten. Jedem, der sich einen guten und in der gewis- 274 sen Weise auch kompakten Überblick über die Evolution der Sozialpolitik in der jüngeren Vergangenheit verschaffen will, wird das Buch wärmstens ans Herz gelegt. In einem Folgeband wäre es nicht schlecht, wenn man die Zeitreihen zu bedeutsamen Indikatoren vervollständigen würde. Das würde hier die Sozialquote im Allgemeinen betreffen. Eine Untersuchung des Beitrags hinsichtlich aufkommender Fragen im Sozial- und Gesundheitswesen im unmittelbaren Zusammenhang zur Gesamtbeschäftigung wäre auch ein lesenswerter und durchaus interessanter, weil auch lohnender Zusatz gewesen. Die zwei abschließenden Punkte sollen den ansonsten mehr als sehr guten Gesamteindruck des Buches von Tálos und Obinger keineswegs schmälern, sondern nur als kleiner Denkanstoß anzusehen sein.