MünderRichtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2021, 374 Seiten, € 109,90

THOMASDULLINGER (WIEN)

Das nationale Recht ist bekanntlich nach Möglichkeit so auszulegen, dass es in Einklang mit dem Unionsrecht steht. Nationale Gesetze sind also möglichst richtlinienkonform, Tarifverträge sind ihrerseits möglichst gesetzeskonform auszulegen. Damit werden Tarifverträge regelmäßig zumindest mittelbar richtlinienkonform ausgelegt. Aber wie ist mit Tarifverträgen zu verfahren, wenn es kein nationales Gesetz gibt, das richtlinienkonform ausgelegt werden kann? Dieser Frage geht die Dissertation von Matthias Münder nach, indem sie untersucht, ob es eine nationale und/oder unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen gibt.

Im ersten Teil der Untersuchung widmet sich Münder den Grundlagen der gewählten Thematik. Zunächst stellt er die wesentlichen Aspekte des Rechtssetzungsinstruments Richtlinie dar (S 37 ff). Daran anschließend beleuchtet er die Grundsätze richtlinienkonformer Auslegung und Rechtsfortbildung (S 46 ff). Behandelt werden auch die Maßstäbe der Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen (S 91 ff) sowie die Maßstäbe der Rechtsfindung im Primärrecht (S 112 ff). Soweit diese Ausführungen Unionsrecht zum Gegenstand haben, sind sie unmittelbar auch für Österreich relevant. Die Ausführungen zur Methodik der Tarifvertragsauslegung sind hingegen aufgrund der abweichenden dogmatischen Einordnung im Rechtsquellensystem nur bedingt auf das österreichische Recht übertragbar. Entscheidend ist jedoch, dass auch in diesem Punkt eine im Ergebnis vergleichbare Ausgangslage für den zweiten Teil der Untersuchung besteht. Resultat dieses ersten Teils der Untersuchung sind zahlreiche Prämissen, die dem zweiten Teil der Untersuchung zugrunde gelegt werden.

Der Hauptteil der Untersuchung beginnt mit einer Darstellung der Judikatur des EuGH und der deutschen Arbeitsgerichte sowie der Literatur zur richtlinienkonformen Auslegung und Fortbildung von Tarifverträgen (S 131 ff). Im Anschluss daran untersucht Münder, ob die Tarifvertragsparteien an Richtlinien gebunden sind. Er zeigt auf, dass sowohl die Rsp des EuGH (S 146 ff) als auch des Bundesarbeitsgerichts (BAG) (S 164 ff) bisher zu keinen eindeutigen Lösungen gekommen ist. Er selbst lehnt eine Bindung privater Tarifvertragsparteien ab, da eine solche nicht von Art 288 Abs 3 AEUV gedeckt sei (S 173 ff). Anderes gelte bei unter den weiten unionsrechtlichen Staatsbegriff fallenden Tarifvertragsparteien, diese seien wie der Staat selbst an die Richtlinie gebunden (S 195 f).

Darauf aufbauend kommt Münder im Rahmen einer äußerst differenzierten und detaillierten Argumentation zum Ergebnis, dass Tarifverträge privater Tarifvertragsparteien nicht richtlinienkonform auszulegen und fortzubilden sind (S 199 ff). Er wählt hierbei einen tendenziell restriktiven Zugang hinsichtlich der Fortbildung von Tarifverträgen und ist bemüht, die Kompetenzen der EU und insb des EuGH nicht zu weit zu ziehen. Münder begründet jedoch jede seiner dogmatischen Überlegungen fundiert und leitet sein Ergebnis schlüssig aus den einzelnen Argumenten ab. Er stützt sich dabei in einigen wesentlichen Aspekten auf das deutsche Verständnis von Tarifverträgen: Diese werden als kollektiv ausgeübte Privatautonomie verstanden und nicht als vom Staat delegierte Rechtsetzung. Auch der hohe Stellenwert der Tarifautonomie (Art 9 Abs 3 GG) für die deutsche Rechtsordnung wird mehrmals betont. Ein stärkerer Fokus auf die Effektivität des Unionsrechts und eine funktionale, unionsweit einheitliche Betrachtung kollektiver Rechtssetzung würde unter Umständen zu einem anderen Ergebnis führen. Deutlich wird das vor allem bei der Gegenüberstellung allgemeinverbindlich erklärter Tarifverträge (§ 5 TVG) mit der Tarifvertragsgeltung kraft Rechtsverordnung (§§ 7, 7a Arbeitnehmer-Entsendegesetz [AentG]). In beiden Fällen führt ein Akt der Exekutive zur Anwendung eines Tarifvertrags auf Personen, die nicht Mitglieder der abschließenden Parteien sind/ waren. Während bei der Allgemeinverbindlicherklärung die tarifvertraglichen Regelungen im Ergebnis nicht richtlinienkonform auszulegen und fortzubilden seien (S 305 ff), gelte bei der Tarifvertragsgeltung kraft Rechtsverordnung das Gegenteil (S 322 ff). Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Instrumenten ist nach Ansicht des Verfassers die unterschiedliche Konzeption und Einordnung nach deutschem Recht. Ob der EuGH diese aus innerstaatlicher dogmatischer Sicht vertretbare Differenzierung akzeptieren wird, ist mE fraglich.

Aus österreichischer Perspektive besonders interessant sind die Ausführungen Münders betreffend jene Tarifverträge, an welchen auf AG-Seite eine staatliche Tarifvertragspartei beteiligt ist. In diesen Fällen sei eine richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung zugunsten der AN geboten (S 302). Zwar muss sich Münder nicht zur Einordnung von Tarifvertragsparteien mit Pflichtmitgliedschaft äußern, weil es solche in Deutschland aktuell nicht gibt, allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese tendenziell als staatlich eingeordnet würden (S 173, 242 ff). Für Österreich folgt daraus, dass alle Kollektivverträge, die von der WKO abgeschlossen wurden, grundsätzlich richtlinienkonform auszulegen sind, solange dies zu einer Besserstellung der AN führt. Für dieses Ergebnis spricht in der Systematik Münders vor allem auch, 275 dass die WKO – wie auch andere Kammern – Teil der staatlichen Verwaltung ist. Führt man diesen Gedanken weiter fort, müssten auch Kollektivverträge, die von der AK abgeschlossen werden (und die es derzeit nicht gibt), richtlinienkonform ausgelegt werden – diesfalls zugunsten der privaten AG. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nämlich die Bindung des Staates an die betreffende Richtlinie, nicht der Schutz der AN. Weitere Probleme verursacht dabei auch die Außenseiterwirkung, die auch auf Seiten der AN in vielen Fällen die Legitimation der Normsetzung durch KollV schwächt. Für die Beantwortung all dieser Fragen liefert Münder eine umfangreiche Ausgangsbasis.

Die vorliegende Monografie ist klar und nachvollziehbar strukturiert und sehr angenehm zu lesen. Regelmäßige Zwischenergebnisse und gezielt eingesetzte Wiederholungen von für die Argumentation wichtigen Passagen erleichtern das Lesen dieser hochspezialisierten Materie enorm. Gerade für LeserInnen aus anderen Rechtsordnungen ist die Aufbereitung der methodischen Grundlagen der deutschen Arbeitsrechtsordnung eine große Hilfe, zahlreiche Hinweise auf die praktischen Auswirkungen verschiedener Differenzierungen erleichtern das Verständnis. Dasselbe gilt für das Beispiel, das Münder an den Beginn seiner Arbeit stellt und das die LeserInnen bis zum Ende begleitet; es dient der durchgängigen Veranschaulichung der gefundenen Lösungen. Aus all diesen Gründen ist dieses Werk uneingeschränkt zu empfehlen.