Löschnigg/Melzer-Azodanloo (Hrsg)Entgeltfortzahlung bei Krankheit und Arbeitsunfall im internationalen Vergleich
Verlag des ÖGB, Wien 2020, 304 Seiten, broschiert, € 36,–
Löschnigg/Melzer-Azodanloo (Hrsg)Entgeltfortzahlung bei Krankheit und Arbeitsunfall im internationalen Vergleich
Der Band geht auf eine Tagung an der Universität Graz im November 2019 zurück. Er versammelt 17 Beiträge zur Entgeltfortzahlung bei Krankheit und Arbeitsunfall. Dabei werden neben zahlreichen Rechtsordnungen der Europäischen Union auch das israelische, schweizerische und türkische Recht sowie die Bestimmungen einzelner US-Bundesstaaten vorgestellt. Auch wenn der Band schon im Titel mit einem „internationalen Vergleich“ wirbt, werden die Rechtsordnungen strenggenommen lediglich nebeneinandergestellt. Die Aufgabe, diese einzelnen Beiträge miteinander in Beziehung zu setzen, kommt damit den LeserInnen selbst zu. Sie wird aber ungemein erleichtert, indem die Beiträge nach einer einheitlichen Gliederung vorgehen. Zudem wurde von den HerausgeberInnen ein Fallbeispiel vorgegeben, das nach den einzelnen Rechtsordnungen zu lösen gewesen wäre. Bedauerlicherweise behandeln aber nur wenige Beiträge auch tatsächlich diesen Fall. Hervorzuheben ist indes, dass sich fast alle Beiträge auf das für einen Rechtsvergleich Wesentliche beschränken.
Die LeserInnen werden mit Details verschont, die für einen zweckmäßigen Vergleich ohnehin ausgeblendet werden müssten. Für die Arbeitsrechtsvergleichung ist der Band damit eine große Bereicherung. Zu hoffen bleibt, dass noch viele weitere Gebiete des Arbeits- und Sozialrechts in dieser Form erschlossen werden.
Versucht man, die einzelnen Beiträge miteinander zu verbinden, so fällt zunächst auf, dass sich die Entgeltfortzahlung weder eindeutig dem Arbeits- noch dem Sozialversicherungsrecht zuordnen lässt. Das ist im innereuropäischen Vergleich ein alter Hut. Schon in der Rs Paletta I (EuGHC-45/90, ECLI:EU:C:1992:236, Rn 19) hat der EuGH den Anspruch auf Lohnfortzahlung nach deutschem Recht der sozialen Sicherheit zugeordnet, obwohl die Leistung von den AG erbracht wird. Diese Grenzlage zieht sich durch fast alle anderen Rechtsordnungen. Arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Regeln greifen hier häufig ineinander. So kann es etwa sein, dass die Entgeltfortzahlung zunächst von den AG zu leisten ist, wobei diese einen Erstattungsanspruch gegenüber den Sozialversicherungsträgern erhalten (etwa Italien). In Spanien können AG die Entgeltfortzahlung mit ihrer Beitragspflicht gegenüber dem Sozialversicherungsträger gegenverrechnen. In der Slowakei werden die ersten Tage der Entgeltfortzahlung von einem eigenen Fonds übernommen, der von den AG finanziert wird. In anderen Ländern laufen die Leistungen der AG und Sozialversicherungsträger hingegen parallel: So besteht nach türkischem Recht ein sozialversicherungsrechtlicher Anspruch auf einen Sockelbetrag, der von den AG ergänzt wird. Umgekehrt tritt nach dänischem Recht ein kommunales Krankengeld zur arbeitsrechtlichen Leistung hinzu. Bedauerlicherweise gehen nur wenige Beiträge auf die Verteilung der Beitragslast zwischen AN und AG ein. Offen bleibt damit, ob das Risiko der Arbeitsunfähigkeit finanziell von den AG oder solidarisch von den AN zu schultern ist.
Weil häufig verschiedene Ansprüche zusammenwirken, ist auch die Höhe der Entgeltfortzahlung nicht immer eindeutig ermittelbar. So sehen etwa Portugal, Frankreich und die Slowakei nur eine anteilige Entgeltfortzahlung vor, wobei Kollektivverträge Günstigeres bestimmen können. Regelmäßig nimmt der Anspruch nach einer bestimmten Zeit ab. So gebührt in Frankreich zunächst eine Entgeltfortzahlung iHv 90 %, die nach 30 Tagen auf zwei Drittel abnimmt. Betragsmäßige Höchstgrenzen sind hingegen selten zu finden; so aber etwa in Dänemark.
Eine Mindestbeschäftigungsdauer wird für den Anspruch in aller Regel nicht vorausgesetzt. Er erhöht sich aber häufig mit zunehmender Dienstzeit. Lediglich in Israel und in Kalifornien wird der Anspruch auf Entgeltfortzahlung (erst) mit der Arbeitsleistung erworben. So steht AN in Kalifornien je 30 geleisteter Arbeitsstunden eine Stunde Entgeltfortzahlung zu. Die Entgeltfortzahlung ist aber in vielen Ländern mit einer Wartezeit verbunden, sodass die Leistung noch nicht am ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit zusteht. In Frankreich gebührt Entgeltfortzahlung etwa erst ab dem achten Tag der Arbeitsunfähigkeit.
Alle Staaten verfügen über eine Melde- und Nachweispflicht der AN. Während der konkrete Nachweis erst nach Aufforderung der AG in Form einer ärztlichen Bestätigung zu erbringen ist, ist die bloße Meldepflicht 279 häufig Anspruchsvoraussetzung. In den meisten Staaten ergeben sich diese Pflichten zumindest implizit aus dem Gesetz, hingegen werden sie in Slowenien durch allgemeine Arbeitsbedingungen festgelegt. Verstoßen AN gegen die Melde- oder Nachweispflicht, so ruht oder entfällt der Anspruch. Diese Sanktion kann sich aber auch mittelbar daraus ergeben, dass ein Verstoß überhaupt zur vorzeitigen Beendigung des Arbeitsvertrages aus wichtigem Grund berechtigt (so etwa in Dänemark). In der Regel kommt dem Nachweis eine besondere Beweiskraft zu. AG können also nicht einfach den Gegenbeweis antreten, sondern sind dabei an bestimmte Verfahren gebunden; dazu zählen etwa kontrollärztliche Untersuchungen (Italien), befristete Gültigkeit des Nachweises (Türkei) oder eine Kombination aus beidem (Slowenien). Im Übrigen gilt eine generelle Mitwirkungspflicht der AN, wonach diese ihre Genesung bestmöglich fördern müssen. Konkrete Bestimmungen fehlen hier häufig, soweit nicht spezielle Fragen betroffen sind; so behandelt das italienische Recht die Verlegung des Aufenthaltsortes. Zumeist werden hier zivilrechtliche Generalklauseln herangezogen, wie etwa Treu und Glauben oder nebenvertragliche Sorgfaltspflichten.
Auch bei der Ursache der Arbeitsunfähigkeit selbst ist das Verhalten der AN zu berücksichtigen. Hier gibt es ein breites Spektrum: Nach griechischem Recht schließt bereits die leichte Fahrlässigkeit den Anspruch zur Gänze aus, während dies etwa in Deutschland erst bei grober Fahrlässigkeit der Fall ist. Grobe Fahrlässigkeit führt wiederum nach türkischem Recht nur zu einer Minderung der Leistung. Sehr vergröbernd betrachtet, können strenge Regeln auf ein Fehlen arbeitsrechtlicher Spezialnormen zurückgeführt werden, so ergibt sich die Entgeltfortzahlung in Griechenland aus allgemein- zivilrechtlichen Bestimmungen.
Endet der Arbeitsvertrag, hätte dies in vielen Fällen auch das Ende der Entgeltfortzahlung zur Folge. Ist der Anspruch arbeitsrechtlicher Natur, so ergibt sich dies bereits aus dem Wegfall des (prolongierten) Erfüllungsanspruchs. Aber auch sozialversicherungsrechtliche Ansprüche sind regelmäßig an den Bestand des Arbeitsvertrages gekoppelt. Beinahe alle untersuchten Länder schützen AN aber davor, dass die Entgeltfortzahlung durch Kündigung des Arbeitsvertrages gekappt werden kann (Ausnahme etwa Dänemark). Wie dieser Schutz gewährt wird, hängt offenkundig mit dem Bestandschutz des Arbeitsvertrages zusammen. Rechtsordnungen, die positive Kündigungsgründe voraussetzen, können diesen Schutz allein dadurch gewähren, dass das Arbeitsverhältnis während der Arbeitsunfähigkeit nur in Ausnahmefällen beendet werden kann (so etwa Slowenien und Italien). In anderen Ländern kann der Arbeitsvertrag zwar wirksam beendet werden, die Fortzahlungspflicht wird aber von der Rechtsordnung dennoch aufrechterhalten. Sie ist dann häufig kalendermäßig befristet (etwa Kroatien) oder auf andere Weise formell beschränkt. Zu diesen formellen Schranken zählt etwa die vom Nachweis gedeckte Dauer der Arbeitsunfähigkeit, die dann nicht mehr verlängert werden kann (so etwa in der Türkei), oder eine festgelegte Höchstdauer der Arbeitsunfähigkeit selbst, wo bei einem Überschreiten eine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit (und damit ein Risiko der PV) angenommen wird (etwa die Slowakei).
Bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten greifen die Entgeltfortzahlung und der Unfallversicherungsschutz ineinander. In einzelnen Ländern sind hier die Wurzeln der UV im Schadenersatzrecht noch besonders deutlich erkennbar. So besteht in den Ländern mit common-law-Tradition (etwa Irland oder die US-Bundesstaaten South Carolina und Virginia) für Arbeitsunfälle kein sozialversicherungsrechtlicher Schutz, sondern ein besonderes Schadenersatzregime mit Zügen der Gefährdungshaftung. Der Ursprung im Schadenersatzrecht erklärt auch, warum Regeln für die Entgeltfortzahlung bei schlichter Erkrankung fehlen, da hier die AG kein Verschulden trifft. Nur in Ausnahmefällen – wie etwa jenem des US-Bundesstaats Kalifornien – sind hier eigene Regeln vorgesehen. In Ländern mit civil-law-Tradition ist diese schadenersatzrechtliche Perspektive hingegen weit weniger spürbar. Ein Beispiel ist aber Dänemark, wo Leistungen aus einer Betriebshaftpflichtversicherung zustehen können, die von den AG verpflichtend abzuschließen ist.
In anderen Staaten hat sich ein sozialversicherungsrechtlicher Schutz als Alternative zur Haftpflicht durchgesetzt. Ist die Arbeitsunfähigkeit auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen, wird sie regelmäßig privilegiert behandelt. Dann entfallen Wartefristen häufig zur Gänze (Frankreich) oder die Leistung steht länger zu (Türkei). 280