Neue Wege zu existenzsichernden Sozialleistungen für nicht erwerbstätige Unionsbürger:innen*
Neue Wege zu existenzsichernden Sozialleistungen für nicht erwerbstätige Unionsbürger:innen*
Auslösender Sachverhalt
Mögliche Lösungswege für den EuGH
Der Dano-Weg
Der Brey-Weg
Der GA de la Tour-Weg
Der Trojani-Weg
Entscheidung des EuGH
Analyse des Urteils
Bedeutung für das Vereinigte Königreich – stranded investments bei der Analyse des Unionsrechts?
Generelle Bedeutung – trägt das Urteil zu mehr Rechtssicherheit bei?
Welches Aufenthaltsrecht ist betroffen?
Konsequenzen der unmittelbaren Anwendbarkeit der GRC
Grundrechtsschutz zusätzlich zum Diskriminierungsverbot?
Bedeutung für Österreich
Conclusio
In der Rs C-709/20, CG,* hatte der EuGH sich wieder einmal mit der Frage des Zusammenwirkens von Aufenthaltsrecht und einem Anspruch auf Sozialleistungen zu beschäftigen. Das Urteil reiht sich somit in jene Urteile der letzten Zeit ein, die das „Gespenst des Sozialtourismus“* zum Gegenstand haben. Im Fokus dieser Frage stehen idR jene Sozialsysteme der Mitgliedstaaten, die einen Schutz aller Einwohner durch steuerfinanzierte Leistungen zur Abdeckung der erforderlichen Existenzmittel vorsehen. Diese Systeme werden aus nationaler Sicht entweder als Sozialhilfe oder auch als soziale Sicherheit betrachtet. Gemeinsam ist diesen Systemen, dass sie durch aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen verhindern wollen, dass Personen ohne hinreichende Bindung an den Aufnahmestaat auch in den Genuss der Leistungen kommen können. Die unionsrechtliche Zulässigkeit solcher Voraussetzungen steht im Mittelpunkt etlicher vom EuGH in letzter Zeit entschiedenen Rechtssachen.
Ausgelöst wurde der vorliegende Fall durch Frau CG, die als kroatisch-niederländische Doppelstaatsbürgerin nach eigenen Angaben 2018 mit ihrem damaligen Partner, einem niederländischen Staatsbürger ins Vereinigte Königreich (VK) einreiste, dort aber in der Folge nie erwerbstätig war, sondern sich um die beiden aus dieser Beziehung stammenden Kinder kümmerte. Aufgrund von häuslicher Gewalt trennte sie sich von ihrem Partner und lebte dann in einem Frauenhaus. Sie war mittellos 209 und nicht in der Lage, für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Kinder zu sorgen.*
Um die aufenthaltsrechtliche Situation von Unionsbürger:innen, die sich bereits vor dem 31.12.2020* im VK aufhielten, nach dem Brexit zu regeln, musste das VK spezifische Regelungen erlassen. Personen, die sich bereits fünf Jahre lang im VK rechtmäßig aufgehalten haben, erhalten dort ein Recht auf Daueraufenthalt;* bis zu diesem Zeitpunkt haben diese Personen – vereinfacht gesagt – dieselben Rechte wie Unionsbüger:innen, die sich in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhalten, aber dort noch kein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben.* Es sind daher die aufenthaltsrechtlichen Regelungen, wie sie nach dem Unionsrecht (vor allem nach der RL 2004/38/EG*) vorgesehen sind, anzuwenden.
Das VK hat diese Verpflichtung durch das „EU Settlement Scheme – Immigration Rules Appendix EU“ umgesetzt und für Personen mit einem Aufenthalt von mindestens fünf Jahren einen „Settled Status“, sowie für Personen, die diese Voraussetzung noch nicht erfüllten, aber schon vor dem 31.12.2020 einen Aufenthalt im VK hatten, einen „Pre-Settled Status“ geschaffen.* Der Antrag auf Genehmigung des Verbleibs unter einem dieser beiden Möglichkeiten musste bis zum 31.6.2021 eingereicht werden. Allerdings unterscheidet sich dieser „Pre-Settled Status“ von den aufenthaltsrechtlichen Regelungen in der EU dadurch, dass dieser Status ohne weitere Voraussetzungen gegeben ist, es wird insb nicht verlangt, dass auch ausreichende Existenzmittel vorliegen, damit nicht die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaates in Anspruch genommen werden müssen, wie dies nach der RL 2004/38/EG verlangt wird.*
Frau CGerlangte am 4.6.2020 einen „Pre-Settled Status“. Da sie ohne Einkünfte war und dringend öffentliche Unterstützung benötigte, beantragte sie am 8.6.2020 die sogenannte „Universalbeihilfe“ (Universal Credit), die eine steuerfinanzierte Mindestleistung für alle bedürftigen Einwohner (unter Anrechnung sonstiger Einkünfte) ist.* Diese Sozialleistung setzt aber ein Aufenthaltsrecht im VK voraus, wobei ein „Pre-Settled Status“ die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen dieser Leistung nicht erfüllt.* Der Antrag von Frau CG auf Universal Credit wurde daher abgelehnt. Frau CG wandte sich gegen diese Entscheidung insb mit dem Hinweis, dass dieser Anspruchsausschluss nach nationalem Recht gegen Art 18 AEUV (Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit) verstoße. Das Berufungsgericht für Nordirland (Appeal Tribunal for Northern Ireland) setzte in der Folge das nationale Verfahren aus und ersuchte den EuGH um Entscheidung, ob die nationale Rechtslage des VK tatsächlich Art 18 AEUV widerspricht, und falls es sich um eine mittelbare Diskriminierung handeln sollte, ob diese gerechtfertigt werden kann.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der vom EuGH zu beantwortenden Frage im Hinblick auf den betroffenen Zeitraum13) um eine solche des Unionsrechts handelt, bei der Sonderregelungen im Verhältnis zum VK nicht beachtet werden müssen. In Zukunft wird aber das Zusammenspiel zwischen Aufenthaltsrecht und Sozialleistungsansprüchen im Verhältnis zum VK eine sicherlich noch viel größere Rolle als bisher spielen, da sämtliche sozialrechtlichen Regelungen der einschlägigen Abkommen auch starke aufenthaltsrechtliche Aspekte haben.*
Es ist nicht das erste Mal, dass nicht aktive Unionsbürger:innen unter Berufung auf das Unionsrecht Ansprüche auf Sozialleistungen (insb solche mit existenzsichernder Funktion) geltend machen und die damit zusammenhängenden Rechtsfragen vor dem EuGH landen.* Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, ob und ab welchem Zeitpunkt Unionsbürger:innen alleine aufgrund dieser Qualifikation Anspruch auf soziale Teilhabe haben (ob also eine Solidargemeinschaft auch in Bezug auf diese Personengruppe besteht), oder ob das nicht doch nur grundsätzlich den wirtschaftlich aktiven Personen zukommt und nicht-aktive nur unter einschränkenden Bedingungen solche Rechte geltend machen können.*
Bevor das Urteil des EuGH in der Rs CG analysiert wird, empfiehlt sich eine Darstellung der Wege, die der EuGH aufgrund seiner bisherigen Judikatur bzw von Schlussanträgen seiner GA beschreiten könnte.
In der Rs Dano* musste sich der EuGH mit einem Fall befassen, in dem sich eine Unions- 210 bürgerin offensichtlich mit der alleinigen Absicht, Sozialleistungen (Grundsicherung nach dem deutschen SGB II) zu beziehen, in einen anderen Mitgliedstaat begab. Nach dem betroffenen deutschen Recht sind nicht erwerbstätige Ausländer (die noch kein Recht auf Daueraufenthalt haben) vom Leistungsanspruch ausgeschlossen, womit eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich mit deutschen Staatsbürger:innen in derselben faktischen Situation gegeben ist. Der EuGH verwies zunächst darauf, dass sich jede Person mit Unionsbürgerschaft auf das Diskriminierungsverbot nach Art 18 AEUV berufen kann,* dass dieses Recht aber durch das Diskriminierungsverbot des Art 24 der RL 2004/38/EG konkretisiert wird und daher nur diese Bestimmung heranzuziehen ist.* Danach kann eine solche nicht erwerbstätige Person nur dann einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Sozialhilfeleistungen (wozu auch bestimmte von der VO 883/2004* erfasste Leistungen der sozialen Sicherheit* zählen) des Aufnahmestaates erlangen, wenn sie die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen dieser RL erfüllt (das Diskriminierungsverbot bezieht sich daher ausschließlich auf Personen, die ein Aufenthaltsrecht iSd der RL haben). Mit Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38/EG, der für nicht erwerbstätige Unionsbürger:innen ua das Vorhandensein von ausreichenden Existenzmitteln für ein Aufenthaltsrecht vor Erlangung eines Rechts auf Daueraufenthalt verlangt, soll verhindert werden, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaates unangemessen in Anspruch nehmen. Da somit im Fall von Frau Dano kein Aufenthaltsrecht iSd der RL vorliegt, ist auch keine unionsrechtliche Verpflichtung zur Gleichbehandlung in Bezug auf Sozialhilfeleistungen gegeben.*
In diesem Zusammenhang ist aber noch eine weitere Klarstellung des EuGH relevant: Da die RL 2004/38/EG selbst verschiedene Faktoren vorsieht, die die jeweiligen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, ist eine individuelle Prüfung der konkreten Situation der betroffenen Person nicht mehr erforderlich – daher schließt jede Beantragung von Sozialhilfeleistungen die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes aus, wie später in der Rs Alimanovic* präzisiert wurde. Bei Beschreitung dieses Weges hätte Frau CG somit keinen Anspruch auf Universal Credit, da sie eben kein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG (wegen des Fehlens ausreichender Existenzmittel) hätte, sondern nur ein solches nach nationalem Recht des VK.
Nicht eindeutig beantwortbar ist die Frage, ob durch die E in der Rs Dano die davor in der Rs Brey24) ergangene E des EuGH überholt oder zumindest relativiert wurde.* In dieser Rechtssache ging es um einen deutschen Rentenbezieher, der nach Österreich übersiedelte und einen Antrag auf Ausgleichszulage stellte (die, wiewohl sie für die VO 883/2004 als Leistung der sozialen Sicherheit anzusehen ist, für die RL 2004/38/ EG ebenfalls als Sozialhilfeleistung gilt*). Nach österreichischem Recht ist eine Voraussetzung für die Gewährung dieser Leistung ein rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt im Inland, den österreichische Staatsbürger:innen immer, ausländische Staatsbürger:innen aber nur nach Maßgabe des Aufenthaltsrechts haben können. Dieses verlangt bei nicht aktiven Unionsbürger:innen so wie die RL 2004/38/EG ua das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel.* Der EuGH zeichnet seine spätere E in der Rs Dano bereits vor, indem er ausschließlich das Vorliegen eines Aufenthaltsrechts nach der RL 2004/38/EG untersucht, wobei er aber bei der Prüfung, ob durch die Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistung eine unangemessene Belastung des Sozialhilfesystems entsteht, eine individuelle Prüfung verlangt.* Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung* sind zwar die individuellen Verhältnisse zu berücksichtigen (wie zB die Höhe der eigenen Einkünfte, wohl aber auch die Dauer des bisherigen Aufenthaltes*), nicht aber ist die finanzielle Belastung des Systems durch den konkreten Einzelfall heranzuziehen.*
Nach der E des EuGH in der Rs Brey kann also selbst dann noch ein rechtmäßiger Aufenthalt iSd RL 2004/38/EG vorliegen, wenn keine ausreichenden Existenzmittel vorliegen, die Inanspruchnahme der Sozialleistung aber – unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – nicht unangemessen ist. Ist diese Voraussetzung erfüllt, besteht Anspruch auf die Sozialhilfeleistung im Wege des Diskriminierungsverbotes der RL (ein Rückgriff auf Art 18 AEUV ist daher nicht notwendig). Bei Beschreitung des Brey-Weges könnte Frau CG somit im Rahmen der RL 2004/38/EG Anspruch auf den Universal Credit haben, wenn das nicht zu einer unangemessenen Belastung des Systems des VK führen würde. Zugunsten eines solchen Anspruchs könnte auf jeden Fall ins Treffen geführt werden, dass es sich nur um ganz wenige Fälle während eines überschaubaren Übergangszeitraums handeln dürfte, die über einen 211 „Pre-Settled Status“ verfügen und einen Universal Credit benötigen.*
Innerhalb der RL 2004/38/EG stünde aber noch ein weiterer Weg zur Verfügung: Nach deren Art 37 lässt die RL nämlich Regelungen der Mitgliedstaaten, die für die betreffenden Personen günstiger sind, unberührt. GA de la Tour schlägt daher in seinen Schlussanträgen in der Rs CG vor, dass Mitgliedstaaten, die von diesem Recht auf günstigere Regelungen (worunter auch ein Aufenthaltsrecht nach nationalem Recht zu verstehen ist, das über die Fälle hinausgeht, in denen ein solches Recht nach der RL 2004/38/EG gewährt werden muss) Gebrauch machen, damit ein Aufenthaltsrecht schaffen, das nicht außerhalb der RL steht, sodass auch das Diskriminierungsverbot nach Art 24 der RL (in Bezug auf Personen, die ein Aufenthaltsrecht nach dieser RL haben) zu beachten ist.*
Der Ausschluss von Personen mit „Pre-Settled Status“ wird von GA de la Tour in der Folge als mittelbar diskriminierend angesehen,* sodass eine Rechtfertigung dieses Leistungsausschlusses möglich ist, wobei aber der Grad der Integration zu berücksichtigen ist sowie der Zeitraum, für den die Leistung zu gewähren ist.* Da es sich um einen Sachverhalt im Anwendungsbereich des Unionsrechts handelt, müssten auch die Grundrechte bei dieser Rechtfertigungsprüfung herangezogen werden, wobei insb auf Art 7 Grundrechtecharta (GRC) (Recht auf Achtung des Familienlebens) und Art 24 GRC (Kindeswohl) Bedacht zu nehmen wäre.*
Würde der EuGH daher dem Vorschlag seines GA folgen, wäre Frau CG durch den Ausschluss von Personen mit „Pre-Settled Status“ mittelbar diskriminiert, was zu einem Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der RL 2004/38/EG führen würde, sofern dieser Ausschluss im Einzelfall nicht gerechtfertigt werden kann (zB im Hinblick auf das Ziel der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts des Sozialhilfesystems des Aufnahmestaates), was im Anlassfall im Hinblick auf die Vorgeschichte unter Einbeziehung auch der grundrechtlichen Aspekte wohl nur schwer gelingen dürfte.
Betrafen die bisher dargestellten Wege zu einer Lösung solche, die innerhalb der RL 2004/38/ EG möglich wären, bestünde ein weiterer Weg in einem Verlassen dieses Ansatzes und der Prüfung von Möglichkeiten außerhalb dieses Sekundärrechtsaktes. Auslöser für diese Überlegung ist die E des EuGH in der Rs Jobcenter Krefeld.* In dieser Rechtssache ging es um eine Person, die zwar nicht unter das Diskriminierungsverbot der RL 2004/38/EG fiel (da der für einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nach Art 24 Abs 2 der RL erforderliche AN-Status nicht mehr vorlag), die aber ein Aufenthaltsrecht nach der VO 492/2011* aufgrund des Schulbesuches der Kinder im Aufnahmestaat hatte und daher in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbotes dieser VO* gelangen könnte. Der EuGH stellte in dieser Rechtssache klar, dass das Diskriminierungsverbot nach der RL 2004/38/ EG nicht abschließend sei und daher auch in jenen Fällen, in denen diese RL keine Verpflichtung zur Gleichbehandlung vorsieht, eine solche sich aus anderen Rechtsquellen, wie eben der VO 492/2011, ergeben kann,* und er entschuldigt sich implizit, dass er diese Überlegungen nicht bereits in der Rs Alimanovic angestellt hatte, die auf einem ähnlichen Sachverhalt beruhte.*
Dieses Urteil könnte daher auch für die Rs CG den Weg für eine weiterhin gegebene unmittelbare Anwendbarkeit des Art 18 AEUV bereiten, wie dies ja auch in der Frage des vorlegenden Gerichts angedeutet wird.
Richtungsweisend könnte dabei das Urteil in der Rs Trojani* sein, das im nationalen Verfahren im VK eine große Rolle gespielt hat. Dabei ging es um einen Unionsbürger mit einem vorläufigen Aufenthaltsrecht („Aufenthaltserlaubnis“) in Belgien, der unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot einen Anspruch auf die belgische Sozialhilfe („Minimex“) geltend machen wollte. Diese Rechtssache bezog sich zwar auf einen Zeitraum vor dem Inkrafttreten der RL 2004/38/EG, allerdings bestand auch schon damals ein unionsrechtlicher Aufenthaltstitel nur beim Vorhandensein ausreichender Existenzmittel, die sicherstellen, dass während des Aufenthaltes nicht die Sozialhilfe des Aufnahmestaates in Anspruch genommen werden muss.*
Der EuGH kommt in der Rs Trojani zunächst zum Schluss, dass eine solche Person kein Unionsrecht auf Aufenthalt aus Art 21 AEUV aufgrund des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger:innen 212 ableiten kann, da sie eben nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt und die Verweigerung des Aufenthaltsrechtes auch nicht unverhältnismäßig ist.* Allerdings hielt sich Herr Trojani nach nationalem Recht rechtmäßig in Belgien auf, was die Anwendbarkeit des allgemeinen Diskriminierungsverbotes nach Art 18 AEUV nicht ausschließt.*
Da Belgier in derselben Situation wie Herr Trojanidas Minimex erhalten, liegt eine nach Art 18 AEUV verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vor.*
Auf diesem Weg müsste man für Frau CG außerhalb des Anwendungsbereichs des Diskriminierungsverbotes des Art 24 der RL 2004/38/EG das Vorliegen einer Diskriminierung nach Art 18 AEUV prüfen. Nicht eindeutig beantwortbar bliebe aber,* ob es sich bei der auf Frau CG zur Anwendung gebrachten nationalen Rechtslage um eine unmittelbare* oder eine mittelbare* Diskriminierung handeln würde. Dieser Unterschied wäre wichtig für die Frage, ob ein Rechtfertigungsversuch möglich wäre oder nicht. Sollte es sich um eine unmittelbare Diskriminierung handeln, wäre sie auf jeden Fall unionsrechtswidrig. Bei Annahme einer mittelbaren Diskriminierung würde der Rechtfertigungsversuch aber wohl bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit aus den iZm dem GA de la Tour-Weg angesprochenen Gründen scheitern.
Für welchen der aufgezeigten Wege entschied sich der EuGH? Der EuGH schwenkt zunächst auf den Dano-Weg ein, indem er festhält, dass Art 18 AEUV nur dann zum Tragen kommt, wenn es keine sekundärrechtliche Ausprägung dieses Grundsatzes gibt, was durch Art 24 der RL 2004/38/EG der Fall ist (damit ist eine Prüfung nach Art 18 AEUV ausgeschlossen).* Der EuGH bleibt auf dem Dano-Weg und prüft die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes iSd RL 2004/38/EG, um auszuloten, ob das Diskriminierungsverbot des Art 24 Abs 1* dieser RL zur Anwendung kommen kann. Da Frau CG nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, kann angenommen werden, dass sie die Sozialhilfeleistungen des VK unangemessen in Anspruch nehmen würde, sodass sie keinen rechtmäßigen Aufenthalt im VK iSd der RL 2004/38/EG haben kann und damit auch eine Berufung auf das Diskriminierungsverbot des Art 24 Abs 1 der RL ausgeschlossen ist.* Damit hat der EuGH die mögliche Abzweigung auf den Brey-Weg verpasst, da er eine individuelle Prüfung der Situation von Frau CG bei der Frage, ob sie – nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung – nicht trotz Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen einen rechtmäßigen Aufenthalt iSd RL 2004/38/EG haben könnte, nicht für erforderlich hielt.* Anschließend verwirft der EuGH auch noch den GA de la Tour-Weg, da ein günstigeres nach nationalem Recht eingeräumtes Aufenthaltsrecht eben nicht als ein solches iSd RL interpretiert werden kann, vielmehr kann ein Staat, der ein solches Aufenthaltsrecht gewährt, selbst entscheiden, welche Folgen ein solches Recht hat.*
Auf dem Dano-Weg wäre damit eigentlich das Ziel erreicht: Art 18 AEUV wird ausschließlich durch Art 24 RL 2004/38/EG umgesetzt und wenn kein Aufenthaltsrecht nach dieser RL besteht, gibt es kein anwendbares Diskriminierungsverbot in Bezug auf einen Sozialhilfeanspruch. Allerdings biegt der EuGH kurz vor diesem Ziel ab und bahnt sich einen neuen Weg. Er kommt dazu zunächst auf seine anfänglichen Ausführungen betreffend die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf diesen Fall zurück,* nämlich, dass eine Person mit Unionsbürgerschaft, die in einen anderen Mitgliedstaat gezogen ist, von ihrem durch Art 21 AEUV verbrieften Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und dadurch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts kommt.* Damit ist aber auch der Anwendungsbereich der GRC eröffnet.* Da das VK durch den „Pre-Settled Status“ ein Aufenthaltsrecht für Unionsbürger:innen anerkannt hat, wiewohl diese nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, bedeutet dies eine nationale Anerkennungsmaßnahme dieses Freizügigkeitsrechtes.* Dabei sind die in der GRC enthaltenen Grundrechte 213 zu beachten, und zwar insb Art 1 GRC (Würde des Menschen), Art 7 GRC (Achtung des Privatund Familienlebens) und Art 24 Abs 2 GRC (Wohl des Kindes). Diese Auswahl aus dem Katalog der Grundrechte ist bereits offensichtlich auf Frau CG zugeschnitten, da sie Mutter von zwei noch kleinen Kindern ist und vor ihrem gewalttätigen Partner geflohen ist. Der Antrag auf Universal Credit kann daher nur dann abgelehnt werden, wenn dadurch bei Frau CGund ihren Kindern keine Verletzung ihrer Grundrechte befürchtet werden muss, wobei auch sämtliche andere Hilfeleistungen in die Betrachtung einbezogen werden müssen, die nach innerstaatlichem Recht vorgesehen sind (diese müssen aber tatsächlich in Anspruch genommen werden können).*
Muss man dieses Urteil wegen des neu eingeschlagenen Weges als neues Grundsatzurteil mit bahnbrechender Bedeutung einschätzen? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht, vor allem da die konkreten Konsequenzen nach nur einem Urteil in eine neue Richtung schwer abschätzbar sind. Die bisher vorliegenden Analysen des Urteils sind allerdings durchwegs kritisch.* Jedenfalls muss man bei einer ersten Annäherung die verschiedenen Auswirkungen getrennt untersuchen. Es hat natürlich zunächst unmittelbare Auswirkungen im VK, auf die in einem ersten Schritt wegen der bisher sehr eingehenden Auseinandersetzung mit dem Thema in diesem Staat etwas ausführlicher einzugehen ist (Abschnitt 4.1.), danach ist eine Einschätzung aus genereller, gesamteuropäischer Sicht angezeigt (Abschnitt 4.2.), um abschließend die möglichen Auswirkungen auch für Österreich zu untersuchen (Abschnitt 4.3.).
Frau CG war nicht die einzige Person, die im VK einen Anspruch auf Universal Credit mit einem „nur“ „Pre-Settled Status“ durchzusetzen versuchte. In einem Parallelverfahren beantragten Frau Fratila und Herr Tanase, beide rumänische Staatsangehörige mit einem „Pre-Settled Status“, ebenfalls Universal Credit. Dieses von den Behörden des VK aus denselben Gründen wie bei Frau CG abgelehnte Begehren war vor den Gerichten des VK anhängig, ohne dass ebenfalls der EuGH angerufen wurde.
Im Urteil des Court of Appeal (CoA)* wurde in der Rs Fratila und Tanase sehr ausführlich das maßgebende Unionsrecht analysiert. In der innerbritischen Auseinandersetzung geht es vorrangig um den Trojani-Weg und darum, ob dieser Weg nach den Urteilen in den Rs Brey und Dano noch offensteht. Dabei wird deutlich, dass die neuere Judikatur des EuGH es unterlassen hat, sich eingehend mit der auf Art 18 AEUV beruhenden Vor-Judikatur auseinanderzusetzen.*Lord Justice McCombe (unterstützt durch Lord Justice Moylan) kommt zur Auffassung, dass die Grundsätze aus der Rs Trojani noch immer anwendbar bleiben und daher die Verweigerung des Universal Credit wegen des Vorliegens nur eines „Pre-Settled Status“ an Art 18 AEUV zu messen sei.* Der CoA setzt sich konsequenterweise anschließend mit der Frage auseinander, ob es sich bei dieser Rechtslage des VK um eine mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung* handelt. Lord Justice McCombe folgert, insb unter Verweis auf die Rs Trojani, dass es sich um eine unmittelbare Diskriminierung handelt und daher eine Rechtfertigung ausgeschlossen ist.* Sollte die Rechtslage im VK aber doch nur mittelbar diskriminierend sein, dann wäre wohl eine Rechtfertigung möglich.* Auch der dritte Richter des CoA, Lord Justice Dingemans, hat keine Zweifel daran, dass Art 18 AEUV zur Anwendung gelangen muss,* nimmt aber eine mittelbare Diskriminierung an, die gerechtfertigt werden kann.* Der CoA lässt ein Rechtsmittel an den Supreme Court des VK (SC) zu.
Der SC setzt in der Folge sein Verfahren aus, um die E des EuGH in der zwischenzeitig anhängig gewordenen Rs CG abzuwarten. Dem EuGH war die Anhängigkeit derselben Rechtsfrage vor 214 Gerichten des VK insb in der Rs Fratila bekannt; er wusste daher, dass es im VK – so wie auch in der Vorlagefrage konkret ausformuliert – vorrangig um die Auslegung des Art 18 AEUV und damit auch der Rs Trojani ging.*
Aus der Sicht der Rechtsanwendung im VK dürfte das Urteil des EuGH in der Rs CG enttäuschend gewesen sein, da viele grundsätzliche Fragen nicht beantwortet wurden. Trotz der sehr eingehenden und ausführlichen Auseinandersetzung im VK* mit der fundamentalen Frage nach dem Verhältnis der RL 2004/38/EG zum Primärrecht scheut der EuGH offensichtlich dieses Thema und formuliert die Frage dahingehend um, dass nur Art 24 der RL zu analysieren ist.* Die Rs Trojani erwähnt der EuGH nur an einer Stelle, und zwar dort, wo er die Position von Frau CG zusammenfasst, sonst setzt er sich damit überhaupt nicht auseinander.* Ebenso wenig behandelt er die Frage des Ausmaßes des diskriminierungsrelevanten Raumes jenseits des Art 24 der RL 2004/38/EG aufgrund der Rs Jobcenter Krefeld.
Die Enttäuschung und Ratlosigkeit aufgrund des Urteils des EuGH in der Rs CG lässt sich aus der anschließenden E des SC* des VK in der Rs Fratila ablesen. Er verweist lediglich mit ganz wenigen Sätzen darauf, dass nur Art 24 RL 2004/38/EG anzuwenden sei und dieser ausschließlich Personen mit einem Aufenthaltsrecht nach der RL einen Gleichbehandlungsanspruch einräumt, was im vorliegenden Fall eben nicht gegeben ist.* Da im bisherigen Verfahren vor dem SC eine Grundrechtsverletzung nicht behauptet worden sei, könne darauf auch nicht eingegangen werden und im Übrigen seien die persönlichen Verhältnisse im Fall Fratila auch anders als bei Frau CG.* Ob Frau CG selbst letztendlich mit ihrem Antrag auf Universal Credit vor den Gerichten des VK durchdringt (weil sonst eine Verletzung ihrer Grundrechte droht), ist derzeit noch nicht entschieden.
Fasst man das Urteil des EuGH in der Rs CG zusammen, so kann man es auf die folgenden Kernaussagen reduzieren:
Bei der Prüfung, ob eine nicht aktive Person mit Unionsbürgerschaft vor dem Recht auf Daueraufenthalt ein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG hat, ist davon auszugehen, dass beim Fehlen ausreichender Existenzmittel automatisch von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen iSd RL* des Aufnahmestaates auszugehen ist. Im Einzelfall ist eine Prüfung der individuellen Situation nicht mehr erforderlich. Damit dürfte der Brey-Weg mit seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung endgültig ein einmaliger Ausrutscher des EuGH gewesen sein.
Beim Fehlen ausreichender Existenzmittel liegt daher kein rechtmäßiger Aufenthalt iSd RL 2004/38/EG vor, sodass auch das Diskriminierungsverbot des Art 24 der RL insb in Bezug auf existenzsichernde Sozialleistungen nicht aktiviert werden kann.
Für den Anwendungsbereich der RL 2004/38/ EG scheint nunmehr klargestellt zu sein, dass neben Art 24 RL 2004/38/EG Art 18 AEUV keine Anwendung findet; sofern nach der RL kein Aufenthaltsrecht gegeben ist, kann offensichtlich nur ein anderes sekundärrechtliches Aufenthaltsrecht zur Anwendung eines unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots, wie zB jenes in Art 7 der VO 492/2011,* führen (die Rs Jobcenter Krefeld scheint eng auszulegen zu sein).
Räumt ein Mitgliedstaat nach nationalem Recht ein Aufenthaltsrecht ein, zu dem er unionsrechtlich nicht verpflichtet ist, so löst dieses kein unionsrechtliches Diskriminierungsverbot in Bezug auf aufenthaltsrechtliche Voraussetzung für den Bezug existenzsichernder Sozialleistungen aus; allerdings ist dieses Aufenthaltsrecht als Anerkenntnis der Unionsbürgerfreizügigkeit durch diesen Mitgliedstaat zu werten und dieser hat daher danach zu trachten, dass die aufenthaltsberechtigte Person bei Ablehnung der Sozialleistung nicht in ihren durch die GRC verbrieften Grundrechten verletzt wird.
Die insb im VK in diese Rechtssachen gesetzten Erwartungen, dass mehr Rechtsklarheit hinsichtlich der Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger:innen auf existenzsichernde Sozialleistungen erzielt wird, wurden aber zum überwiegenden Teil nicht erfüllt. Viele Fragen wurden nicht beantwortet bzw etliche neue Fragen treten erstmals auf.
Aus der E in der Rs CG ist zu entnehmen, dass der Grundrechtsschutz nur dann greift, wenn es sich um einen rechtmäßigen Aufenthalt handelt; bei faktischen (vor allem rechtwidrigen) Anwesenheiten ohne Aufenthaltsrecht hat der Aufnahmestaat somit 215das Recht einer Person mit Unionsbürgerschaft auf Freizügigkeit nicht anerkannt und damit kommt dieser Fall auch nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Alleine die Ankündigung „cives europeus sum“, wie dies GA Jacobs bereits 1992 vorgeschlagen hat,* reicht somit nicht aus, um umfänglich in den Genuss nationaler Rechte (einschließlich eines Aufenthaltsrechtes) zu kommen, vielmehr handelt es sich bei einer solchen Berufung auf den Status als Unionsbürger:in um eine annahmepflichtige Erklärung. Der Aufnahmestaat muss den Status als Unionsbürger:in anerkennen und ein Aufenthaltsrecht auch tatsächlich einräumen.
Die Rs CG betrifft konkret den „Pre-Settled Status“ des VK, der nach nationalem, nicht aber nach Unionsrecht rechtmäßig ist. Wollte der EuGH nur diesen besonderen Aufenthaltstitel schützen, der aufgrund einer nationalen Registrierungspflicht im VK explizit erteilt wird?* Oder kann die E des EuGH generalisiert werden? Dann könnte sich das Urteil allerdings auf eine größere Palette an Aufenthaltssituationen beziehen und nicht nur auf diese Sonderfälle iZm dem Brexit, die im Übrigen nicht auf das VK begrenzt sind.* So ist auch an all die verschiedenen Situationen zu denken, in denen zwar die unionsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, aber dennoch eine (unionsrechtlich mögliche) Ausweisung nicht stattfindet.*
Bei einer extensiven und unbeschränkten Weiterentwicklung der Argumente hinter der E des EuGH in der Rs CG könnten wohl auch all die Fälle eines nur geduldeten Aufenthaltes* betroffen sein, die zwar somit nicht in den Anwendungsbereich eines unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes kommen können, allerdings durch die Grundrechte nach der GRC geschützt sind, was auch bei diesen im Einzelfall über das nationale Recht hinausgehende Sozialleistungsansprüche auslösen könnte. Führt das somit letztendlich zu einer Situation, in der die Mitgliedstaaten nur zwei Optionen haben: entweder sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu setzen* oder bei der Prüfung von Sozialleistungsansprüchen, die aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen haben, ist vor einer Ablehnung auch immer der Grundrechtsschutz zu beachten?*
Durch die Verquickung von nationalen Aufenthaltsrechten mit der GRC wurde ein System mit erheblicher Rechtsunsicherheit geschaffen. Wie die nationalen Gerichte mit diesem Element umzugehen haben, bleibt im Nebel verborgen. Können sich damit Unionsbürger:innen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig aufhalten, immer sofort auf ihren grundrechtlichen Schutz berufen, um in den Genuss insb von existenzsichernden Sozialleistungen, für die auch aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen vorgesehen sind, zu gelangen? Zunächst ist zur Vermeidung von Missverständnissen zu betonen, dass eine grundrechtliche Prüfung noch lange nicht einen Anspruch auf die jeweilige Sozialleistung auslöst. Es ist davon auszugehen, dass die Interpretation dieses Elements in den Mitgliedstaaten völlig unterschiedlich, je nach nationaler Tradition, sein wird. Eine einheitliche Praxis in der EU ist nicht zu erwarten.
Bei den Überlegungen zur Tragweite des Grundrechtsschutzes ist zunächst darauf Bedacht zu nehmen, dass der Bereich der Sozialsysteme eben nicht in die harmonisierende Zuständigkeit der Union fällt und daher eine generelle Wirkung der GRC für sämtliche Aspekte dieser nationalen Systeme von vornherein ausgeschlossen ist.* Die GRC kann daher nicht für die Leistungsansprüche von Unionsbürger:innen, die in ihrem Heimatland verblieben sind, sondern nur für jene, die sich in einem anderen Mitgliedstaat (rechtmäßig) aufhalten (die somit gewandert sind), in Anspruch genommen werden. Eine unmittelbare Rückwirkung der Rs CG auf die jeweils eigenen Staatsangehörigen des Aufnahmestaates, die ohnehin idR die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen der existenzsichernden Leistungen erfüllen, kann daher nicht eintreten.
Interessant und näher zu untersuchen ist auch die Liste der vom EuGH angesprochenen Grundrechte. Art 1 GRC betreffend die Würde des Menschen ist wohl sehr allgemein und daraus könnte man eigentlich vorweg sehr oft zu einem Anspruch von aufenthaltsberechtigten Unionsbürger:innen auf eine Leistung, die als Existenzminimum gedacht ist, kommen.* Die bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der unionsrechtlichen Diskrimi- 216 nierungsverbote zu beachtende Sicherstellung der Finanzierbarkeit eines Sozialsystems dürfte beim individuellen Grundrechtsschutz keine Rolle spielen. So betrachtet wäre daher der Verweis auf Art 7 GRC betreffend die Achtung des Privat- und Familienlebens sowie Art 24 GRC betreffend die Achtung des Wohls der Kinder gar nicht mehr erforderlich gewesen, allerdings können diese natürlich verstärkend hinzutreten. Unklar ist, warum der EuGH nicht auch weitere Grundrechte erwähnt hat, wie insb Art 34 GRC betreffend den Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit (Abs 1), bzw noch konkreter das Recht auf Leistungen der sozialen Sicherheit und soziale Vergünstigungen für alle Personen, die ihren Aufenthalt rechtmäßig wechseln (wobei keine Einschränkung auf einen rechtmäßigen Aufenthalt iSd des Unionsrechts verlangt wird – Abs 2*) sowie das Recht auf soziale Unterstützung für alle, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, um ein menschenwürdiges Dasein sicherzustellen (Abs 3), oder Art 45 GRC betreffend das Freizügigkeitsrecht.*
An sich sollte klar sein, dass der Grundrechtsschutz natürlich auch bei Anwendung eines unionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes zu gelten hat.* Bei mittelbaren Diskriminierungen kann die Entscheidung, ob die Grundrechte verletzt sind, bereits bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einfließen, was aber in Zukunft – wenn der EuGH den in der Rs CG eingeschlagenen Weg vermehrt auch bei den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten beibehält – möglicherweise ein stärkeres Eingehen auf die individuelle Situation der betroffenen Einzelperson als in der Vergangenheit erfordern könnte. Nicht eindeutig beantwortbar ist mE, ob damit auch das Diskriminierungsverbot nach der VO 883/2004 aus der Sicht des EuGH* in einem anderen Licht als bisher zu sehen sein wird.
So könnte man mE in der Rs Kommission gegen VK,* in der es um die Rechtslage des VK ging, nach der bestimmte unter die VO 883/2004 fallende Familienleistungen nur Personen gebühren, die einen rechtmäßigen Aufenthalt im VK haben,* zu einem differenzierteren Ergebnis kommen. Der EuGH hat nämlich das Diskriminierungsverbot der VO 883/2004 für anwendbar erklärt und die als indirekte Diskriminierung identifizierte Regelung ganz generell mit dem Ziel des Schutzes der Finanzen des Aufnahmestaates gerechtfertigt,* was bei einer Einbeziehung des Grundrechtsschutzes der betroffenen Personen* wohl nicht mehr so klar sein dürfte und zumindest untersucht hätte werden müssen. Allerdings könnte in diesem Fall – anders als in der Rs CG – der Grundrechtsschutz nicht aus der Unionsbürgerschaft an sich abgeleitet werden (da eben kein rechtmäßiger Aufenthalt vorliegt), sondern aus der Anwendung der VO 883/2004 (diese bezieht sich nicht nur auf Personen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten*). Offen bleibt mE daher, ob bei konsequenter Verfolgung des in der Rs CG eingeschlagenen Weges* die Berücksichtigung des (nur) durch die Unionsbürgerschaft ausgelösten Grundrechtsschutzes beim Zugang zu existenzsichernden Sozialleistungen zu anderen Ergebnissen führen kann als bei allfälliger Einbeziehung des Grundrechtsschutzes auch bei Anwendung des Diskriminierungsverbotes der VO 883/2004 in Bezug auf den Zugang zu solchen Leistungen.
In Österreich hat die Frage nach der unionsrechtlichen Rechtmäßigkeit eines Aufenthaltes als Voraussetzung für einen Sozialleistungsanspruch zweifellos – so wie im VK – bei der Sozialhilfe,* aber auch bei Leistungen der sozialen Sicherheit, 217
und bei diesen – wie bereits aus der Rs Brey ersichtlich – vor allem in Bezug auf die Ausgleichszulage Relevanz,* worauf sich die folgenden Ausführungen konzentrieren werden. Die Judikatur des OGH in Bezug auf die Ausgleichszulage durchlief bisher sämtliche Entwicklungsstufen, die der EuGH jeweils vorgab.* Der Letztstand ist, dass ein Aufenthalt einer Person mit Unionsbürgerschaft in Österreich ohne ausreichende Existenzmittel (wenn also im Hinblick auf die Einkommenssituation ein Anspruch auf Ausgleichzulage bestünde) nie ein rechtmäßiger Aufenthalt iSd RL 2004/38/EG ist und damit die Anspruchsvoraussetzungen für eine Ausgleichszulage nicht erfüllt sein können. Der OGH ging aber noch einen Schritt weiter und schuf einen Unterschied zwischen einem aufenthaltsrechtlich und einem sozialrechtlich relevanten rechtmäßigen Aufenthalt, sodass selbst bei Vorliegen einer Anmeldebescheinigung, die ein Aufenthaltsrecht nach der RL 2004/38/EG bescheinigt (zB weil die Existenzmittel durch Vorlage eines Sparbuches nachgewiesen wurden), kein sozialrechtlich zu beachtender rechtmäßiger Aufenthalt vorliegt, der einen Anspruch auf Ausgleichszulage auslösen könnte.*
Kann an dieser bisherigen Praxis in Österreich die E des EuGH in der Rs CG etwas ändern? Zunächst könnte diskutiert werden, ob die Trennung zwischen aufenthaltsrechtlich und sozialrechtlich relevantem rechtmäßigen Aufenthalt noch beibehalten werden kann. Es spricht einiges dafür, dass der EuGH davon ausgeht, dass die Mitgliedstaaten nur eine Prüfungsebene haben, um zu untersuchen, ob eine Person ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht hat. Bei dieser Prüfung kann natürlich auf das Vorhandensein der erforderlichen Existenzmittel abgestellt werden. Bei Personen, die einen für das Aufenthaltsrecht ausreichenden Nachweis über das Vorliegen der erforderlichen Mittel vorlegen und daher in Umsetzung der RL 2004/38/EG einen Aufenthaltstitel haben,* könnte überlegt werden, dass diese damit auch in den uneingeschränkten Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbotes des Art 24 Abs 1 dieser RL kommen müssten.* Das würde aber dazu führen, dass in etlichen Fallkonstellationen, die bisher abgelehnt wurden (weil kein sozialrechtlich relevantes Aufenthaltsrecht bestand), ein Ausgleichszulagenanspruch bestünde.
Sollte man das Urteil in der Rs CG tatsächlich in diese Richtung interpretieren müssen (wogegen aber auch ins Treffen geführt werden muss, dass das allerdings zu Ergebnissen führen würde, die den Zielen der RL 2004/38/EG widersprechen, die auch vom EuGH immer wieder hervorgehoben werden*), könnte man das Problem entweder dadurch lösen, dass solche anderen Mittel (zB ein Sparbuch) aufenthaltsrechtlich strenger beurteilt werden oder aber bei der Ausgleichszulage als schädlich definiert werden (so könnte zB vorgesehen werden, dass auch die für das Entstehen des Aufenthaltsrechts relevanten Geldquellen auf die Ausgleichzulage anzurechnen sind*). Eine solche Rechtsänderung im Sozialversicherungsbereich, die eine schwerwiegende Auswirkung auch in allen rein nationalen Fällen haben würde, ist aber sicherlich politisch kaum realisierbar.
Selbst wenn man weiterhin zulässt, dass Unterschiede zwischen einem für das Aufenthalts- und das Sozialrecht relevanten rechtmäßigen Aufenthalt bestehen können, wird man aus dem Urteil in der Rs CG ableiten müssen, dass bei einem aufrechten Aufenthaltsrecht in Österreich (selbst wenn dieses nur national ist) der Schutz der Grundrechte nach der GRC garantiert sein muss. Daher müsste vor Ablehnung eines Antrags auf Ausgleichzulage (weil kein aus sozialrechtlicher Sicht relevanter rechtmäßiger Aufenthalt vorliegt) einer Person mit zumindest für das Aufenthaltsrecht relevantem rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich* immer zunächst geprüft werden, ob dies nicht mit einem der vorgesehenen Grundrechte kollidieren könnte (wie zB Art 1 betreffend die Würde des Menschen, Art 15 betreffend das Recht älterer Menschen auf ein würdiges unabhängiges Leben, Art 26 betreffend die Integration von Menschen mit Behinderungen, 218 aber auch Art 34 betreffend das Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung).
Das Urteil des EuGH in der Rs CG beschreitet zweifellos einen neuen Weg. Jede Person mit einem nationalen – unionsrechtlich nicht erforderlichen – Aufenthaltsrecht fällt zwar nur ausnahmsweise* unter ein unionsrechtliches Diskriminierungsverbot, hat aber Anspruch darauf, dass bei einem Antrag auf Sozialleistungen mit aufenthaltsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen auch geprüft wird, ob bei einer Ablehnung nicht nach der GRC vorgesehene Grundrechte verletzt werden. Für die Praxis bedeutet das eine immense Belastung und Rechtsunsicherheit, da immer ein Abwägen in jeder individuellen Situation erforderlich ist und man die relevanten Kriterien – zB bei der Prüfung, ob ein Anspruch auf Ausgleichszulage besteht – nur sehr schwer in allgemein verwendbaren Anleitungen zusammenfassen kann. Einheitliche Ansätze der verschiedenen Mitgliedstaaten in Umsetzung dieses Urteils sind nicht zu erwarten.
Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum der EuGH diesen neuen Weg eingeschlagen hat. Er hätte mE ein vergleichbares Ergebnis auch auf einem der in der Vergangenheit bereits markierten und damit vertrauteren Weg erreichen können, wiewohl auch das in der Praxis nicht leicht zu vollziehen wäre. So hätte zB eine Rückbesinnung auf den in der Rs Brey angedeuteten Weg, auf dem noch innerhalb der RL 2004/38/EG zu prüfen ist, ob ein Aufenthaltsrecht besteht, wobei im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auch die persönliche Situation der betreffenden Person (einschließlich des Grundrechtsschutzes) miteinzubeziehen gewesen wäre, ebenfalls zu einer der individuellen Situation angepassten Lösungen führen können.* Ebenso hätte eine Bestätigung, dass auch das Trojani-Urteil noch aktuell ist, und damit auch das bewährte Diskriminierungsverbot des Art 18 AEUV für rein nationale Aufenthaltsrechte von Relevanz sein kann, nicht nur im VK zu einer klaren Lösung geführt.
Allerdings scheint der EuGH bewusst von seinem vor allem in der Rs Dano eingeschlagenen Weg nicht mehr abweichen, aber trotzdem Frau CG wegen ihrer besonderen Situation einen Leistungsanspruch nicht gänzlich verbauen zu wollen.* Wiewohl dieses Motiv verständlich ist, führt der dafür gewählte Weg zu dem dargelegten systematischen Chaos. Aber vielleicht besteht mein Problem wieder einmal hauptsächlich darin, dieses Urteil nicht nur als anlassbezogene Einzelfallentscheidung zu betrachten, sondern in ein System bringen zu wollen, um Kohärenz und klare Dienstanweisungen für alle anderen Fälle niederschreiben zu können? Welche Windungen, welches Ziel, aber auch welche gefährlichen Abgründe der CG-Weg hat, wird die Zukunft zeigen. Gerade für Staaten wie Österreich, die zwar beim Aufenthaltsrecht verhältnismäßig großzügig sind, bei den Sozialleistungen aber dann restriktiv vorgehen, wird das Urteil sicherlich Bedeutung haben. Die Praxis wird sich nicht leicht tun mit dem Spannungsfeld zwischen dem Grundrechtsschutz und dem auch vom EuGH klar anerkannten Ziel des Unionsrechts, dass Personen, die mit dem Ziel der Inanspruchnahme von Sozialleistungen zuwandern oder – auch bei anderen Motiven – das Sozialsystem des Aufnahmestaates unangemessen belasten, diese Leistungen nicht zu gewähren sind. 219