14Von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängige Bleibeprämien sind als Entgelt iSd IESG zu qualifizieren
Von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängige Bleibeprämien sind als Entgelt iSd IESG zu qualifizieren
Der Begriff „Entgeltansprüche“ iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG ist im arbeitsrechtlichen Sinn zu verstehen. Er umfasst alle Leistungen des/der AG, die diese/r den AN für die Zurverfügungstellung ihrer Arbeitskraft gewährt, einschließlich aperiodisch anfallender Prämien, Gewinnbeteiligungen oder Erfindungsvergütungen.
Eine Bleibeprämie, die von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig ist, ist als Sonderzahlung anzusehen und somit als gesichertes Entgelt iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG zu qualifizieren.
Von einer freiwilligen Abfertigung oder Abgangsentschädigung unterscheidet sich eine Bleibeprämie wesentlich dadurch, dass sie nicht aufgrund der Beendigung des Dienstverhältnisses, sondern gerade unter der Voraussetzung und zur Sicherung seines aufrechten Bestehens gewährt wird. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass die Prämie vereinbarungsgemäß auch im Falle einer Kündigung durch den/die AG im aliquoten Ausmaß gebührt.
Die Kl war ab 1.3.2018 bei der späteren Schuldnerin als Produktionsangestellte beschäftigt. [...]
Mit Schreiben vom 11.4.2019 unterbreitete ihr die DG das Angebot einer „Bleibeprämie (Stay-on-Bonus)“ in Höhe von 30 % des jährlichen Bruttogehalts, die ihr einen Anreiz bieten sollte, im Unternehmen beschäftigt zu bleiben. Als Voraussetzungen für die Auszahlung wurden das Vorliegen einer uneingeschränkten Betriebsbewilligung (im August 2019 erteilt) und eine aktive Beschäftigung der Kl bis zum 31.3.2020 genannt. Die Zahlung erfolge als einmalige freiwillige Leistung ohne Rechtsanspruch für die Zukunft. Bei langen Abwesenheiten im Dienst sowie bei DG-Kündigung vor Ablauf der Wartezeit stehe die Prämie nur aliquot zu. Bei längerem Krankenstand werde sie dem gesetzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch entsprechend gekürzt bzw entfalle sie nach dessen Ende.
Die Kl nahm dieses Angebot am 3.5.2019 an. Im August 2019 wurde allen Mitarbeitern überraschend eröffnet, dass sie Auflösungsvereinbarungen zu schließen hätten und die Dienstverhältnisse sofort beendet würden. Da die Kl keine einvernehmliche Auflösung unterschreiben wollte, wurde sie zum 30.11.2019 gekündigt. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der DG wurde mit Beschluss vom 2.12.2019 eröffnet.
Die Kl begehrte Insolvenz-Entgelt für offene Entgeltund Beendigungsansprüche, darunter [...] die aliquote Bleibeprämie im Ausmaß des Klagsbetrags.
Die Bekl wies [...] den Antrag auf Insolvenz-Entgelt für die Bleibeprämie ab.
In der dagegen erhobenen Klage wird auch vorgebracht, bei der Bleibeprämie handle es sich um eine Zuwendung aus dem Arbeitsverhältnis mit Entgeltcharakter, die nach § 1 Abs 2 Z 3 IESG gesichert sei.
Die Bekl wandte ein, die Bleibeprämie sei laut Angebot eine freiwillige Leistung, deren Zweck außerhalb des arbeitsvertraglichen Synallagmas stehe und die keiner Anspruchskategorie nach dem IESG zugeordnet werden könne.
Das Erstgericht wies die Klage ab [...].
Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Kl keine Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision [...] zulässig sei. [...]
Die von der Bekl beantwortete Revision der Kl ist [...] zulässig. Die Revision ist auch berechtigt.
Die Revision tritt dem Standpunkt [...] entgegen, dass es sich bei der strittigen Bleibeprämie um eine Leistung handle, die nach ihrer Intention einer freiwilligen Abfertigung entspreche und deren rechtliches Schicksal zu teilen habe. Es werde damit verkannt, dass die Bleibeprämie als Sonderzahlung anzusehen und damit Teil der ASVG-Bemessungsgrundlage sei, auf deren Grundlage auch die Beiträge zum Insolvenz-Entgeltfonds berechnet würden. Für freiwillige Abfertigungen nach § 49 Abs 3 Z 7 ASVG seien dagegen keine Beiträge zu entrichten, weshalb diese folgerichtig im Insolvenzfall ungesichert blieben. Die Prämienvereinbarung sei mangels der Voraussetzungen nach § 1 Abs 3 Z 2 IESG nicht von der Sicherung ausgenommen.
Diesen Ausführungen kommt aus den folgenden Gründen Berechtigung zu:
1. Ein nach den Bestimmungen des IESG geltend gemachter Anspruch muss einer im Gesetz normierten Kategorie gesicherter Ansprüche zugeordnet werden. Es muss sich entweder um Entgelt, Schadenersatz, einen sonstigen Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis oder um Verfahrenskosten handeln (RS0127035). 247
1.1. Der Begriff des Entgelts iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG setzt ein Synallagma zu den vom AN tatsächlich erbrachten Arbeitsleistungen voraus. Zu den laufenden Entgeltansprüchen gehören insb Lohn, Gehalt, unregelmäßige Einkünfte wie Provisionen, Zulagen, Prämien, sonstige leistungsbezogene Entgelte, Überstundenentlohnung, Sonderzahlungen, sowie Vergütungen für Diensterfindungen (Gahleitner in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1 IESG Rz 41; RS0076555).
1.2. Sonstige Ansprüche gegen den AG nach § 1 Abs 2 Z 3 IESG haben nach der Rsp zwar ihre Wurzel im Arbeitsverhältnis, entspringen jedoch nicht der Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung. In diese Kategorie fallen insb vertraglich zugesicherte, echte Aufwandsentschädigungen und der Ersatz von Auslagen, die dem AN aus der Erbringung der ihm obliegenden Arbeitsleistung erwachsen sind (RS0076571).
1.3. Sogenannte Bleibe- oder auch Halteprämien sind Zusagen an bestimmte AN oder AN-Gruppen, die der Mitarbeiterbindung dienen sollen. [...] Ziel ist es, jene AN, deren Weiterbeschäftigung in der gegebenen Situation von besonderer Bedeutung ist, zur Sicherung des Unternehmenserfolgs für einen bestimmten Zeitraum zu halten. Bei den Bleibeprämien handelt es sich in der Regel um – in Voraussetzungen und Zweck einer Treueprämie ähnliche – Sonderzahlungen. Sie können sowohl als reine Entgeltzusagen ausgestaltet sein als auch ausschließlich die Betriebstreue belohnen oder einen Mischcharakter aufweisen (vgl Steinhauser, Bleibeprämien in der Insolvenz des Arbeitgebers, Rz 20).
1.4. Die mit der Kl vereinbarte Bleibeprämie war als Einmalzahlung [...] an die Bedingung geknüpft, dass sie bis zum vorgegebenen Stichtag nicht selbst kündigt. Darüber hinaus sollte die Prämie aber auch nur für Zeiträume ausbezahlt werden, in denen die Kl ihre Arbeitsleistung tatsächlich erbringt. Bei längerdauernder, nicht lediglich urlaubsbedingter Abwesenheit hätte die Prämie nur aliquot gebührt, bei längerem Krankenstand hätte sie das Schicksal des Entgeltfortzahlungsanspruchs geteilt. In dieser Bedingung kam das Interesse der AG zum Ausdruck, die Kl nicht nur als DN zu halten, sondern vor allem sich ihre für das Unternehmen zur Bewältigung der Auftragslage wichtige Arbeitsleistung weiterhin zu sichern. Unter diesem Aspekt kann aber der Ansicht der Vorinstanzen, diese Bleibeprämie sei nur eine Belohnung für den Verzicht auf die Ausübung des Kündigungsrechts und als freiwillige Leistung außerhalb des arbeitsvertraglichen Synallagmas zu qualifizieren, nicht beigetreten werden.
In diesem Sinn interpretiert auch das deutsche Bundesarbeitsgericht sogenannte Halteprämien, selbst wenn sie keine zusätzliche Aliquotierungsregelung für Zeiten der Nichtarbeit enthalten, als Sonderzahlungen und Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis (dBAG 6 AZR 913/11; 6 AZR 980/11).
2. Die Vorinstanzen haben den aufgrund der DGKündigung aliquot entstandenen Anspruch auf die Bleibeprämie in ihrer rechtlichen Beurteilung einer freiwilligen Abfertigung oder Abgangsentschädigung gleichgestellt und daraus abgeleitet, dass ein solcher Anspruch nicht gesichert sei.
Eine Bleibeprämie unterscheidet sich von einer freiwilligen Abfertigung oder Abgangsentschädigung aber insofern wesentlich, als sie nicht aufgrund der Beendigung des Dienstverhältnisses, sondern – im Gegenteil – unter der Voraussetzung und zur Sicherung seines aufrechten Bestehens gewährt wird. An diesem Charakter ändert sich nichts, wenn die Bleibedauer durch eine DG-Kündigung vor dem Stichtag verkürzt wird. Mit einer Vereinbarung, dass die Bleibeprämie auch bei DG-Kündigung aliquot zu zahlen ist, wird vielmehr § 16 Abs 1 AngG Rechnung getragen, wonach ein Anspruch auf eine besondere Entlohnung auch dann verhältnismäßig gebührt, wenn das Dienstverhältnis vor Fälligkeit des Anspruchs gelöst wird. Die von der Bekl zitierte Rsp zum gesetzlichen Ausschluss freiwilliger Abfertigungen von der Insolvenz-Entgeltsicherung (RS0101975) ist daher hier nicht einschlägig. [...]
3.2. Der Begriff „Entgeltansprüche“ iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG ist im arbeitsrechtlichen Sinn zu verstehen. Er umfasst alle Leistungen des AG, die dieser dem AN für die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft gewährt, einschließlich aperiodisch anfallender Prämien, Gewinnbeteiligungen oder Erfindungsvergütungen (RS0076555; RS0028490; zum Jubiläumsgeld als Treueprämie: RS0125804; RS0119672 [T1] = 8 ObS 1/10w; 8 ObS 6/10f = ecolex 2010/407; 8 ObS 11/19d = ZIK 2020/304).
Nach Ansicht des Senats fällt die hier zu beurteilende Bleibeprämie, die von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig sowie auf etwa ein Jahr bezogen war und durch die DG-Kündigung fällig wurde, wie eine Sonderzahlung unter den Begriff des Entgelts aus dem Arbeitsverhältnis iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG. Der Anspruch hat nicht nur seine Wurzel im Arbeitsverhältnis und ist ohne die Arbeitsleistung selbst nicht denkbar, sondern entspringt hier auch einer unmittelbaren Wechselbeziehung von Leistung und Gegenleistung. Insoweit kommen die Argumente von Deriu, Die Bleibeprämie – ein gesicherter Anspruch nach dem IESG? (RdW 2021, 343) nicht zum Tragen.
4. Die Bekl verweist darauf, dass es Absicht des Gesetzgebers des IESG gewesen sei, alle Einzelvereinbarungen, die eine unkontrollierte Belastung des Insolvenz-Entgeltfonds bewirken könnten, der Höhe nach zu begrenzen (vgl RS0076384). Abgesehen von den ausdrücklich im Gesetz genannten Sicherungsausschlüssen sind Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, durch die das Risiko im Insolvenzfall missbräuchlich auf den Insolvenz- Entgeltfonds überwälzt werden soll bzw durch die eine sonst nicht bestehende Verpflichtung des Insolvenz-Entgeltfonds begründet werden soll, diesem gegenüber nichtig (vgl RS0112127; RS0018227; RS0119685; Ristic in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz8 § 1 IESG Rz 435; Gahleitner in ZellKomm3 § 1 IESG Rz 5). Der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs bestimmt sich danach, ob die Vorgangsweise dem Fremdvergleich standhält (RS0114470).
4.1. Nach stRsp besteht das nach dem IESG sozialversicherte Risiko im Kernbereich in der von den AN typischerweise nicht selbst abwendbaren und absicherbaren Gefahr des gänzlichen oder teilweisen 248 Verlusts ihrer Entgeltansprüche, auf die sie typischerweise zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts sowie des Lebensunterhalts ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen angewiesen sind (RS0076409). Ansprüche, die nicht mit einem typischen Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen oder deren Höhe nicht mehr zur Sicherung des laufenden Lebensunterhalts notwendig ist, sind überhaupt nicht gesichert (RS0076409 [zB T13 – Ersatz für Büromiete; T14 – lange stehengelassene Forderungen; T15 – Lohnsteuerschäden]; 9 ObS 4/91 – Darlehensrückzahlung; 8 ObS 294/99i – völlig atypisches Arbeitsverhältnis zur Beistellung der Gewerbeberechtigung). Auch sieht das IESG für die gesicherten Ansprüche detaillierte zeitliche und betragliche Beschränkungen vor.
4.2. Ein atypischer Sachverhalt liegt hier nicht vor. Der Auftragsstand der Schuldnerin war bei Abschluss der Prämienvereinbarung sehr hoch, sie bemühte sich erfolgreich um eine noch fehlende Betriebsbewilligung und nahm externe Betriebsberatung in Anspruch. Diese Umstände lassen auf ein redliches und nicht aussichtsloses Bemühen um eine positive Betriebsentwicklung schließen. Die Prämie war auf ein Jahr bezogen und mit 30 % festgelegt, sohin im Rahmen auch sonst üblicher Prämien und Sonderzahlungen. Aus diesem Sachverhalt lässt sich kein Anhaltspunkt für einen Missbrauch des arbeitsrechtlichen Gestaltungsinstruments der hier vereinbarten Prämie ableiten. Es ergibt sich weder, dass schon bei Abgabe des Offerts durch die DG nicht die Fortführung, sondern eine Insolvenz im Raum stand, noch dass von den Vertragsparteien mit einer zukünftigen Belastung des Insolvenzfonds gerechnet worden wäre. Die Prämie stellt, wie dargelegt, auch keinen für ein Arbeitsverhältnis völlig atypischen Anspruch dar. Die Revision verweist in diesem Zusammenhang auch zutreffend darauf, dass die Prämie als Sonderzahlung zur Bemessungsgrundlage nach § 49 ASVG zählt und grundsätzlich der Zuschlagspflicht nach § 12 Abs 1 Z 4 IESG unterliegt.
4.3. Der Möglichkeit, dass freiwillige Leistungen in Unternehmenskrisen missbräuchlich zu Lasten des Fonds vereinbart werden könnten, wird auch durch den Ausschlusstatbestand gem § 1 Abs 3 Z 2 IESG begegnet. Es gebührt kein Insolvenz-Entgelt für Ansprüche aus Einzelvereinbarungen, die nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder auf Anordnung der Geschäftsaufsicht, oder in den letzten sechs Monaten vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw der Anordnung der Geschäftsaufsicht abgeschlossen wurden, soweit sie über die kollektivrechtliche oder betriebsübliche Entlohnung hinausgehen und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Dieser Ausschluss kommt hier aber nicht zum Tragen, weil die strittige Prämie außerhalb des Zeitraums der letzten sechs Monate vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vereinbart wurde. [...]
4.4. Die in der Prämienzusage enthaltene Betonung ihrer Freiwilligkeit bedeutet lediglich, dass die Zuwendung auf den ursprünglich freiwilligen Entschluss des AG zurückgeht; es wird damit die Unterscheidung zu den kollektivvertraglich oder gesetzlich geschuldeten Leistungen zum Ausdruck gebracht, nicht aber ein Vorbehalt der Unverbindlichkeit (vgl RS0028297 [T5]). [...]
Gem § 1 Abs 1 IESG haben AN für die nach dem IESG gesicherten Ansprüche im Falle der Insolvenz des/der AG einen Anspruch auf Insolvenz-Entgelt. Gesichert sind gem § 1 Abs 2 IESG lediglich Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, und zwar nur insofern sie aufrecht, nicht verjährt und nicht ausgeschlossen sind.
In der vorliegenden E hatte sich der OGH erstmals mit der Qualifikation einer sogenannten „Bleibeprämie“ (auch „Halteprämie“) als gesicherter Anspruch nach dem IESG auseinanderzusetzen. Entgegen den Vorinstanzen gelangt er zum Ergebnis, dass die Ansprüche aus gegenständlich vereinbarter Bleibeprämie als Entgeltansprüche iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG gesichert sind. Die Vorinstanzen hatten eine solche Sicherung dagegen mit der Begründung verneint, dass die Bleibeprämie mit einer „freiwilligen“ Abfertigung zu vergleichen sei.
Ansprüche aus einer Bleibeprämie müssen – wie jegliche nach den Bestimmungen des IESG geltend gemachte Ansprüche – zwingend einer der vier im Gesetz normierten Kategorien gesicherter Ansprüche zugeordnet werden können, andernfalls keine Sicherung nach dem IESG zusteht (siehe nur OGH8 ObS 6/11gDRdA 2012, 59). Der Katalog der gesicherten Ansprüche in § 1 Abs 2 IESG umfasst Entgeltansprüche (Z 1), Schadenersatzansprüche (Z 2), sonstige Ansprüche gegen den/die AG (Z 3) und die notwendigen Kosten zur Rechtsverfolgung (Z 4). Dabei gilt es nach richtiger Ansicht der Z 1 als lex specialis den Vorrang gegenüber Z 3 einzuräumen, die als Auffangtatbestand angesehen wird (Gahleitner in Neumayr/Reissner [Hrsg], Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht3 § 1 IESG [Stand 1.1.2018, rdb.at] Rz 50). Entgeltansprüche nach § 1 Abs 2 Z 1 IESG sind grundsätzlich nach § 1 Abs 3 Z 4 iVm Abs 4 IESG betraglich begrenzt (Liebeg, Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz3 [2007] § 1 IESG Rz 345); Ansprüche nach § 1 Abs 2 Z 2 und 3 unterliegen dieser Begrenzung nicht (OGH8 ObS 7/06x Arb 12.624).
Der Entgeltbegriff des § 1 Abs 2 Z 1 IESG ist extensiv auszulegen (Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 [2018] § 1 IESG Rz 209). Er beinhaltet jede Art von Gegenleistung des/der AG für die Zurverfügungstellung der Arbeitskraft des/der AN (Löschnigg, Arbeitsrecht13 [2017] Rz 6/123 mwN). Dies können sowohl das laufende Entgelt als auch irreguläre Einkünfte wie etwa Sonderzahlungen 249 und Prämien sein (Gahleitner in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 1 IESG Rz 41; Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 § 1 IESG Rz 209). Nach Löschnigg (Arbeitsrecht13 Rz 6/125) ist der weitumfassende Entgeltbegriff konsequenterweise auf die nunmehr zeitgemäße Auffassung zurückzuführen, den Arbeitsvertrag nicht allein als Tausch von Arbeitsleistung und Entgelt zu betrachten. Dieser führt zu Recht ins Treffen, dass die schuldrechtliche Verknüpfung von Arbeit und Entgelt nicht bloß in der „ökonomischen Interdependenz“, sondern vielmehr in der „normativen Zuordnung“ wurzelt, die zahlreiche Fälle der Pflicht zur Entgeltleistung bei Entfall der Arbeitsleistung zur Folge hat.
Während die Bleibeprämien (hier auch als sog „Retention Bonus oder Payment“ bezeichnet) in der deutschen Judikatur und Literatur bereits tiefergehend beleuchtet wurden, sind sie in der österreichischen Rechtslandschaft noch vergleichsweise wenig diskutiert. Bleibeprämien werden in der Praxis insb AN in Führungspositionen und sons tigen LeistungsträgerInnen (dBAG 12.9.2013, 6 AZR 913/11 Rn 57), aber auch – wie im konkreten Fall – AN gewährt, deren Erhalt für das Unternehmen aus anderen Gründen von hoher Relevanz ist (vgl ErwGr 1.3. der aktuellen E); dies vor allem, aber nicht zwingend, in Zeiten wirtschaftlicher Krise eines Unternehmens. Im Gegenzug für die Prämie üben betroffene AN für einen gewissen Zeitraum ihr Kündigungsrecht nicht aus. Kommt es dennoch zu einer AN-Kündigung (ohne Vorliegen eines Austrittsgrundes), geht der Anspruch auf die Prämie verloren.
In einem nächsten Schritt stellt sich unweigerlich die Frage, was nun die Gegenleistung auf Seiten des/der AN für die Zahlung der Bleibeprämie bilden könnte. Deriu (Die Bleibeprämie – ein gesicherter Anspruch nach dem IESG? RdW 2021, 428 [429]) bezeichnet das Unterlassen der Ausübung des Kündigungsrechts, teleologisch weiterdenkend die Betriebstreue, als Gegenleistung für die Gewährung der Bleibeprämie, erachtet dies jedoch nicht als geeignete Gegenleistung innerhalb eines arbeitsvertraglichen Synallagmas. Er übersieht dabei aber, dass das in Aussichtstellen der Bleibeprämie nicht den bloßen Verzicht auf das Kündigungsrecht und die Betriebstreue bezweckt, sondern vielmehr die tatsächliche Arbeitsleistung erhalten will. Steinhauser (Bleibeprämien in der Insolvenz des Arbeitgebers [2016] Rz 348 ff [insb 353]) zieht das Unterlassen der Ausübung des Kündigungsrechts des/der AN nur insoweit als eine taugliche Gegenleistung in Erwägung, als seine/ihre Arbeitsleistung etwa aufgrund seiner/ihrer Fähigkeiten oder Qualifikation (ex ante) für das (taugliche) Sanierungskonzept des/der AG dienlich ist. Das Abstellen auf einen potenziellen Beitrag zum Sanierungskonzept des/der AG zur Eruierung einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Insolvenz-Entgelt-Fonds (Gahleitner in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 1 IESG Rz 5; Ristic in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 § 1 IESG Rz 435; Liebeg, Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz3 § 1 IESG Rz 481) ist mE überschießend (vgl ErwGr 4. der aktuellen E). Außerdem sollte dieser Aspekt nicht mit der Kategorisierung der Leistung vermischt werden, sondern erst auf einer nachgelagerten Ebene als Ausschlussgrund (hier wohl als „anfechtbare Rechtshandlung“ iSd § 1 Abs 3 Z 1 IESG) geprüft werden. Im aktuellen Fall lagen dafür keine Anhaltspunkte vor.
Das dBAG erblickt in seinen E vom 12.9.2013 (6 AZR 913/11 Rn 57; 6 AZR 980/11 Rn 42) in der Betriebstreue von Führungskräften sowie anderen LeistungsträgerInnen die Gegenleistung zur Bleibeprämie, vor allem in Zeiten der Unternehmenskrise. Dem dBAG teilweise folgend weist der OGH überzeugend darauf hin, dass die Bleibeprämie mehr als nur Belohnung für die Nichtausübung des Kündigungsrechts ist. Sie verfolge nämlich den Zweck des Erhalts der Arbeitsleistung des/der konkreten AN für das Unternehmen. Auch die vereinbarte Aliquotierungsregel für Zeiten der Nichtarbeit könne dafür als weiteres Argument ins Treffen geführt werden. Das ist zwar nachvollziehbar, er verweist aber – ohne nähere Begründung – in einem nächsten Schritt ausdrücklich auf das dBAG, welches eine Bleibeprämie selbst ohne Aliquotierungsregelung für Zeiten der Nichtarbeit als Sonderzahlung und Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis qualifizierte (dBAG6 AZR 913/11; 6 AZR 980/11). Der OGH will damit wohl zu erkennen geben, dass es dem/der AG aufgrund der vereinbarten Aliquotierungsregel gerade auf die Arbeitsleistung ankommt und daher der Entgeltcharakter umso mehr zu bejahen sei, er jedoch selbst im Falle des Fehlens einer solchen Aliquotierungsvereinbarung den Entgeltcharakter tendenziell bejaht.
Der OGH qualifiziert eine derartige Bleibeprämie (ohne allzu ausführliche Begründung) als Sonderzahlung, die in ihren Voraussetzungen und ihrem Telos einer Treueprämie ähnelt und sohin als vom Entgeltbegriff umfasst anzusehen ist (so auch Gahleitner in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 1 IESG Rz 41; Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 § 1 IESG Rz 209). Sonderzahlungen werden dem/der AN zusätzlich zum laufenden Entgelt zumeist, aber nicht zwingend, anlassbezogen (etwa wie bei der Treueprämie aus Anlass der Dauer der Betriebszugehörigkeit) in periodisch wiederkehrenden Abständen gewährt (Löschnigg, Arbeitsrecht13 Rz 6/168). Zusätzlich zum laufenden Entgelt gewährte Prämien dienen der Abgeltung außerordentlicher Arbeitsleistung, etwa aufgrund einer besonderen Qualität oder Quantität (OGH4 Ob 135/80 Arb 9884 =
) der geleis teten Arbeit (vgl zB Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 § 1 IESG Rz 222). Prima vista scheint es naheliegend auch die Bleibeprämie als Prämie zu 250qualifizieren. Immerhin werden auch Bleibeprämien idR nur jenen AN gewährt, die von besonderer Relevanz für das Unternehmen sind; da sie etwa über eine spezielle Ausbildung, Qualifikation oder langjährige Arbeitserfahrung verfügen (Steinhauser, Bleibeprämien in der Insolvenz des Arbeitgebers, Rz 162). Bei näherer Betrachtung hinkt jedoch der Vergleich mit der Prämie etwas. Denn Bleibeprämien verfolgen in erster Linie den Zweck der Mitarbeiterbindung (insb in der Krise), wohingegen Prämien ieS vor allem der Belohnung der AN dienen. Zwar werden auch Bleibeprämien meist jenen AN gewährt, deren Arbeitsleistung sich aufgrund qualitativer oder quantitativer Merkmale durch eine besondere Güte auszeichnet. Insb in der finanziellen Krise kann für AG aber auch die Bindung jener AN von Interesse sein, deren Arbeitsleistung aus anderen Gründen essenziell für das Fortkommen des Unternehmens ist (vor allem Fachkräftemangel macht den Erhalt jeglicher Arbeitskraft erforderlich). Die Treueprämie wird ab Erreichen eines bestimmten Dienstalters in wiederkehrenden Abständen (zumeist jährlich) an AN ausbezahlt (Preiss in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 16 AngG [Stand 1.1.2018, rdb.at] Rz 16). Im Gegensatz dazu wird das sogenannte Jubiläumsgeld, ein Unterfall der Treueprämie, an AN jeweils bei Erreichen einer bestimmten Betriebszugehörigkeitsdauer gewährt (OGH8 ObS 1/10wDRdA 2010, 425 = Arb 12.870) und ist insofern eine Einmalzahlung. Was Jubiläumsgelder anbelangt, hat der OGH( 18.2.2010, 8 ObS 1/10w; 8 ObS 11/19d ZIK 2020/304, 250) bereits zuvor ausgesprochen, dass es sich dabei um einen Teil des laufenden Entgelts iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG handelt. Bejaht der OGH bei Jubiläumsgeldern die Entgelteigenschaft (8 ObS 1/10wDRdA 2010, 425), so muss dies auch für die Bleibeprämie gelten, die an die Arbeitsleistung des/der AN anknüpft.Die Vorinstanzen qualifizierten die gegenständliche Bleibeprämie aufgrund der aliquoten Zuerkennung der Prämie auch im Fall der DG-Kündigung als „freiwillige“ Abfertigung. Zu prüfen ist daher, ob die Bleibeprämie nicht (doch) mit einer „freiwilligen“ Abfertigung vergleichbar ist, also kein Entgelt iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG darstellt. Sogenannte „freiwillige“ Abfertigungen sind über die gesetzliche Mindestabfertigung durch KollV oder Einzelvereinbarung zugestandene Abfertigungen (Liebeg, Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz3 § 1 IESG Rz 354; Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 § 1 IESG Rz 233 mwN). Nach stRsp des OGH (vgl nur 8 ObS 257/01dDRdA 2002, 245) gebührt lediglich für die im Gesetz wurzelnden Abfertigungsansprüche Insolvenz-Entgelt. Hingegen erfahren die Ansprüche aus „freiwilligen“ Abfertigungen – so der OGH (siehe nur 15.11.2001, 8 ObS 257/01d mwN) im Umkehrschluss aus § 1 Abs 4a IESG – keine Sicherung nach dem IESG (vgl auch Liebeg, Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz3 § 1 IESG Rz 345). Hier ist mE freilich eine differenziertere Betrachtung geboten (krit auch Reissner in Reissner, Arbeitsverhältnis und Insolvenz5 § 1 IESG Rz 387). Warum Jubiläumsgelder als dienstzeitbezogene Einmalzahlung nach Ansicht des OGH Teil des Entgelts sein sollen, „freiwillige“ Abfertigungen aber nur aufgrund eines – nicht eindeutig durchführbaren – Umkehrschlusses kategorisch ausgeschlossen werden, leuchtet mE nicht in jedem Fall ein. Auch hier sollten einzelfallbezogen die Hintergründe der Gewährung untersucht werden. Denn eine „freiwillige“ Abfertigung wird in den meisten Fällen – ähnlich wie eine Bleibeprämie – ebenfalls abhängig von Qualitätsmerkmalen oder der Bedeutung einzelner AN für das Unternehmen ausbezahlt. Sie wird sohin zumeist nicht jedem/r Mitarbeiter/in gewährt, sondern eben nur ausgewählten MitarbeiterInnen, deren Erhalt aus bestimmten Gründen geboten erscheint. Auf ebendies ist mE abzustellen.
Sowohl Erst- als auch Berufungsgericht teilten die Ansicht der Bekl, der Anspruch auf Bleibeprämie sei einer „freiwilligen“ Abfertigung gleichzuhalten und sohin ungesichert. Dem entgegnet der OGH ua, dass eine Abfertigung aufgrund der Beendigung des Dienstverhältnisses gewährt werde, wohingegen die Bleibeprämie ein diametrales Ziel verfolge, nämlich die Sicherung seines aufrechten Bestandes. Zwar wird eine „freiwillige“ Abfertigung zumeist ebenfalls auf den aufrechten Bestand des Dienstverhältnisses bis zu einem gewissen Zeitpunkt abstellen und nur gewährt, sofern nicht der/die AN (ohne Vorliegen eines Austrittsgrundes) kündigt. Dennoch ist dem OGH beizupflichten, wenn dieser ausspricht, dass für die Auszahlung einer („freiwilligen“) Abfertigung gerade die Beendigung des Dienstverhältnisses Voraussetzung ist und daher der Vergleich mit der Bleibeprämie jedenfalls hinkt.
Der OGH beurteilt eine Bleibeprämie, die von einer tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig ist, als Sonderzahlung und somit als Entgelt iSd § 1 Abs 2 Z 1 IESG. Im Ergebnis ist dem zuzustimmen. Weist er doch überzeugend darauf hin, dass die Bleibeprämie mehr als nur Belohnung für das Unterlassen der Ausübung des Kündigungsrechts sei. Vielmehr wolle sie die Arbeitsleistung des/der konkreten AN für das Unternehmen erhalten. Von einer „freiwilligen“ Abfertigung unterscheidet sich eine Bleibeprämie insb dadurch, dass sie nicht aufgrund der Beendigung des Dienstverhältnisses, sondern vielmehr gerade unter der Voraussetzung und zur Sicherung seines aufrechten Bestehens gewährt wird. Was die Rsp zur „freiwilligen“ Abfertigung anbelangt, so ist diese gerade im Lichte der aktuellen E mE pro futuro insgesamt zu überdenken. Einen ausdrücklichen Ausschluss der „freiwilligen“ Abfertigung aus dem IESG sieht das Gesetz nämlich nicht vor. Im Hinblick auf das Erfordernis einer Aliquotierungsregelung für Zeiten der Nichtarbeit drückt sich der OGH eher vage aus, musste er sich dazu aber in Anbetracht des vorliegenden Sachverhalts auch nicht zwingend äußern. 251