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Abschlagsfreiheit für vorzeitige Alterspensionen nur ab Stichtag 1.1.2020

MONIKAWEISSENSTEINER

Ausgehend vom Stichtagsprinzip in der PV, das die Leistung nicht nur an den Eintritt des Versicherungsfalls (hier: des Alters), sondern auch an eine entsprechende formelle Antragstellung bindet, ergibt sich bereits daraus, dass § 236 Abs 4b ASVG nur auf die Berechnung von (ua) Alterspensionen anwendbar ist, deren Stichtag nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, also am 1.1.2020 oder danach, liegt.

Sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der systematischen Stellung stellt § 236 Abs 4b ASVG keine Regelung über die Neubemessung einer schon zu einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung rechtskräftig zuerkannten Pension dar.

SACHVERHALT

Mit rechtskräftigem Bescheid vom 17.3.2016 anerkannte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Anspruch des Kl auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1.2.2016 in Höhe von € 2.476,44 monatlich. Der Berechnung wurden 558 Versicherungsmonate (davon 552 Beitragsmonate) zugrunde gelegt.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid vom 31.3.2020 wies die Bekl den Antrag des Kl vom 25.2.2020 auf Gewährung einer abschlagsfreien Pension ab 1.1.2020 zurück. Eine Neuberechnung der bereits rechtskräftig zuerkannten Alterspension sei gesetzlich nicht vorgesehen, es bestehe keine Bescheidpflicht.

Der Kl begehrte die Zuerkennung einer abschlagfreien Pensionsleistung gem § 236 Abs 4b ASVG. Die Bekl beantragte die Zurückweisung der Klage. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Pensionsleistung sei ausgehend von der Rechtslage am Stichtag daher zum 1.2.2016 vorzunehmen gewesen; § 236 Abs 4b ASVG beziehe sich nur auf die Erfüllung der Wartezeit und sei (nur) auf alle neuen Pensionen bzw Berechnungen ab 1.1.2020 anzuwenden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. § 236 Abs 4b ASVG komme nur für Stichtage ab dem 1.1.2020 in Betracht. Die Revision sei zulässig, weil noch keine Rsp des OGH zu dieser Frage vorliege.

Der OGH hält die Revision für zulässig, weil eine Nichtigkeit der Entscheidungen der Vorinstanzen aufzugreifen war.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

1. Zulässigkeit des Rechtswegs

1.1 Gemäß § 67 Abs 1 ASGG darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1, 4 und 6 bis 8 100ASGG […] eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden oder den Bescheid nicht innerhalb der in § 67 Abs 1 Z 2 ASGG genannten Fristen erlassen hat.

1.2 An einem die Zulässigkeit des Rechtswegs eröffnenden Sachbescheid, mit dem die Beklagte „darüber“ (RS0085867RS0085867), das heißt über den Anspruch des Klägers auf abschlagsfreie Berechnung seiner Alterspension seit 1.1.2020, entschieden hätte, fehlt es im vorliegenden Fall. Liegt wie hier keine meritorische Entscheidung des Versicherungsträgers vor, ist grundsätzlich […] eine Überprüfung durch das Gericht im Rahmen der sukzessiven Kompetenz ausgeschlossen […].

1.3 Fehlt es an einem anfechtbaren Sachbescheid, ist Voraussetzung für eine Klageerhebung nach § 67 ASGG das Vorliegen eines Säumnisfalls. Der Säumnisfall erfordert, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist. […] Es ist daher zu prüfen, ob die Beklagte zur Erlassung eines Bescheids über die vom Kläger beantragte Neuberechnung seiner vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1.1.2020 verpflichtet war.

2. Keine Bescheidpflicht der beklagten Pensionsversicherungsanstalt gemäß § 367 Abs 1 ASVG:

2.1 […] Die Feststellung des Bestands, des Umfangs oder des Ruhens eines Anspruchs auf eine Versicherungsleistung – wie der Alterspension – ist, soweit dabei nicht die Versicherungszugehörigkeit, die Versicherungszuständigkeit, die Leistungszugehörigkeit oder die Leistungszuständigkeit in Frage steht, gemäß § 354 Z 1 ASVG eine Leistungssache.

2.2 Der Versicherungsfall des Alters gilt mit der Erreichung des Anfallsalters für eine Alterspension als eingetreten (RS0111060RS0111060). […] Im Fall des Klägers trat der Versicherungsfall des Alters, der seinen Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer begründete, unstrittig mit Erreichung des 62. Lebensjahres, daher im Jänner 2016, ein (§ 253b iVm § 607 Abs 10 und 12, § 617 Abs 13 ASVG).

2.3 Gemäß § 223 Abs 2 ASVG hat die Feststellung, ob der Versicherungsfall (in der Pensionsversicherung) eingetreten ist, ausschließlich zu dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag zu erfolgen […]. Die Bedeutung des Stichtags liegt nicht nur darin, dass zu diesem Zeitpunkt die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sind; es sind vielmehr zu diesem Zeitpunkt auch die besonderen Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen und auch der Anfall der Leistungen tritt regelmäßig mit dem Stichtag ein (§ 86 Abs 3 Z 2 ASVG; RS0085980RS0085980; RS0084524RS0084524). Dazu gehört auch die Beurteilung, in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt (10 ObS 322/8910 ObS 322/89 SSV-NF 3/134), also auch die Entscheidung über die Pensionshöhe.

2.4 Der Versicherungsfall des Alters kann nach allen Systemen nur einmal eintreten. Er wird durch die Entscheidung eines Sozialversicherungsträgers über die Gewährung der (vorzeitigen) Alterspension nicht nur für den Bereich dieses Sozialversicherungsgesetzes, sondern auch für den Bereich der anderen Sozialversicherungsgesetze konsumiert (RS0107674RS0107674). Nach den unstrittigen Unterlagen im Verwaltungsakt der Beklagten […] wurde die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer mit Erreichen des gesetzlichen Regelpensionsalters des Klägers am 1.2.2019 in eine gesetzliche Alterspension umgewandelt (§ 253b Abs 4 ASVG aF). Durch diese Umwandlung wird kein neuer Stichtag ausgelöst (10 ObS 130/09d SSV-NF 23/83).

2.5 Pensionsleistungen werden für die Zukunft zuerkannt. Eine – wie hier in Bezug auf § 236 Abs 4b ASVG – erst nach rechtskräftiger Zuerkennung der (vorzeitigen) Alterspension erfolgte Rechtsänderung vermag die Rechtskraft der Entscheidung über die Zuerkennung einer Pension nicht zu berühren […].

2.6 Damit ist der Versicherungsfall des Alters im vorliegenden Fall aufgrund des Antrags des Klägers vom 9.10.2015 […] auf Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer am 1.2.2016 eingetreten. Zu diesem Stichtag wurde über den Anspruch des Klägers dem Grund und der Höhe nach entschieden: Infolge der vorzeitigen Inanspruchnahme wurde die Pension unstrittig unter Berücksichtigung des Abschlags von 8 % zuerkannt (§ 607 Abs 23 ASVG). Durch den neuerlichen Antrag vom 25.2.2020 auf Gewährung einer abschlagfreien Pensionsleistung ab 1.1.2020 wurde weder ein „neuer“ Versicherungsfall des Alters noch ein neuer Stichtag ausgelöst. Eine Bescheidpflicht der Beklagten über die Zuerkennung einer Leistung gemäß § 222 Abs 1 ASVG aus der Pensionsversicherung gemäß § 367 Abs 1 ASVG bestand daher nicht.

3. Infolge der Rechtskraft der Entscheidung auch über die Höhe der dem Kläger zuerkannten Pension ab 1.2.2016 kann eine nachträgliche Änderung der Höhe dieser Pension nur dann stattfinden, wenn das Gesetz selbst eine Grundlage für deren Anpassung (§ 367 Abs 3 lit a ASVG) oder Neufeststellung (§ 367 Abs 2 ASVG) bietet.

4. Keine Bescheidpflicht der Beklagten gemäß § 367 Abs 3 lit a ASVG

Die Anpassung von Pensionen aus der Pensionsversicherung regeln im Dauerrecht die §§ 108h, 108k ASVG. […] Die Pensionsanpassung für das Kalenderjahr 2020 hat ihre Rechtsgrundlage in dem mit dem Pensionsanpassungsgesetz 2020 (PAG 2020), BGBl I 2019/98BGBl I 2019/98, geschaffenen § 728 ASVG. Der Kläger stützt weder seinen Antrag noch sein Begehren auf eine dieser Bestimmungen, sondern allein auf § 236 Abs 4b ASVG. Gemäß § 367 Abs 3 lit a ASVG sind Bescheide über die Auswirkung von Renten- oder Pensionsanpassungen gemäß den Bestimmungen des Abschnitts VI a des Ersten Teils des ASVG (§§ 108 – 108l ASVG) nur zu erlassen, wenn der Berechtigte dies bis zum Ablauf des Kalenderjahres verlangt, für das die An101passung (Vervielfachung) vorgenommen wurde. Da § 236 Abs 4b ASVG nicht zu Abschnitt IV a des Ersten Teils des ASVG gehört, war die Beklagte schon aus diesem Grund nicht verpflichtet, einen Bescheid nach § 367 Abs 3 lit a ASVG auszustellen.

5. Keine Bescheidpflicht der Beklagten gemäß § 367 Abs 2 ASVG

5.1 § 367 Abs 1 ASVG ist gemäß § 367 Abs 2 ASVG entsprechend anzuwenden bei Entziehung, Versagung, Neufeststellung, Widerruf, Abfindung, Abfertigung oder Feststellung des Ruhens eines Leistungsanspruchs, ferner bei Geltendmachung des Anspruchs auf Rückersatz einer unrechtmäßig bezogenen Leistung, bei Aufrechnung auf eine Geldleistung oder Zurückhaltung der Ausgleichszulage. Einziger hier in Frage kommender Tatbestand wäre nach § 367 Abs 2 ASVG die „Neufeststellung“ der dem Kläger gewährten Alterspension.

5.2 Eine „Neufeststellung“ einer Leistung kennt das ASVG etwa in der Unfallversicherung bei der Neufeststellung einer Rente, wenn sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben (§ 183 ASVG). In der Pensionsversicherung ordnet § 254 Abs 8 ASVG die Neufeststellung des Prozentsatzes einer Teilpension bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen an. Aus Anlass jeder Anpassung von Pensionen gemäß § 108h ASVG ist die Erhöhung der Witwen-(Witwer-)pension gemäß § 264 Abs 6 ASVG neu festzustellen (§ 264 Abs 7 letzter Satz ASVG). Bei einer Änderung der für die Zuerkennung der Ausgleichszulage maßgebenden Sach- und Rechtslage ordnet § 296 Abs 3 ASVG die Neufeststellung einer Ausgleichszulage über Antrag des Berechtigten oder von Amts wegen an. […]

5.3 Die „Neufeststellung“ einer Alterspension kennt das ASVG hingegen nur in Regelungen, die das Übergangsrecht betreffen. So ist in den Fällen des § 607 Abs 10 ASVG, in denen eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (§ 253b Abs 2 ASVG) weggefallen ist, die Leistung […] mit dem Monatsersten nach dem Erreichen des Regelpensionsalters von Amts wegen neu festzustellen (§ 607 Abs 11 ASVG). […]

6.1 Damit stellt sich die Frage, ob § 236 Abs 4b ASVG eine Bestimmung ist, die die Rechtsgrundlage für die Neufeststellung (Neubemessung) einer Alterspension wie jener des Klägers mit einem Stichtag vor dem 1.1.2020 im Sinn des § 367 Abs 2 ASVG bietet.

6.2 Auch § 236 Abs 4b ASVG wurde mit dem PAG 2020 geschaffen. […] § 236 Abs 4b ASVG trat mit 1.1.2020 in Kraft (§ 727 Abs 1 Z 1 ASVG idF BGBl I 2019/98BGBl I 2019/98) und mit Ablauf des 31.12.2021 wieder außer Kraft (§ 745 Abs 2 ASVG). Auf Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen nach § 236 Abs 4b ASVG spätestens mit 31.12.2021 erfüllen, bleibt diese Bestimmung aber weiter anwendbar (§ 745 Abs 4 ASVG).

6.3 § 236 Abs 4b ASVG geht auf einen Abänderungsantrag zum Bericht und Antrag des Budgetausschusses über den Entwurf des PAG 2020 (688 BlgNR 26. GP) zurück. Zu diesem Antrag wird in den Gesetzesmaterialien ausgeführt (AA-130 26. GP 2): „Wer mindestens 45 Jahre lang erwerbstätig war, soll in Zukunft keine Pensionsabschläge mehr haben, auch wenn der Pensionsantritt vor dem 65. Lebensjahr erfolgt. Dabei werden auch bis zu 60 Versicherungsmonate der Kindererziehung als Beitragsmonate der Erwerbstätigkeit berücksichtigt.“

[…]

7.3 Weder der Wortlaut des § 236 Abs 4b ASVG noch jener des § 727 Abs 1 Z 1 ASVG enthalten einen Hinweis darauf, dass § 236 Abs 4b ASVG für bereits zuerkannte Alterspensionen mit einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung am 1.1.2020 gelten sollen. […] Ausgehend vom bereits dargestellten Stichtagsprinzip in der Pensionsversicherung, das die Leistung nicht nur an den Eintritt des Versicherungsfalls (hier: des Alters), sondern auch an eine entsprechende formelle Antragstellung bindet, ergibt sich bereits daraus, dass § 236 Abs 4b ASVG nur auf die Berechnung von (ua) Alterspensionen anwendbar ist, deren Stichtag nach dem Inkrafttreten dieser Bestimmung, also am 1.1.2020 oder danach, liegt (so auch Marek, Ab Stichtag 1.1.2020 kein Abschlag bei Hacklerpensionen für Männer [aber nicht immer], ARD 6672/5/2019;Marek in Poperl/Trauner/Weißenböck, ASVG [72. Lfg] § 236 ASVG Rz 31, 32, 37; Sonntag, ASVG12 § 236 ASVG Rz 7; implizit auch Weißensteiner, Aus für Abschlagsfreiheit – Neuer Frühstarterbonus kommt, DRdA-infas 2021, 61 [62]).

7.4 Demgegenüber vertritt Beck (Pensionsanpassung, Pensionsbonus, abschlagfreie „Frühpension“ sowie Beitragsentlastung versus Sachlichkeitsgebot und Generationengerechtigkeit [Teil III], SozSi 2020, 123 [126]), dass der Gesetzgeber mit der Einführung des § 236b Abs 4 ASVG keine neue vorzeitige Alterspension geschaffen, sondern ganz allgemein festgelegt habe, dass bei Vorliegen von 540 Beitragsmonaten aus der Erwerbstätigkeit bzw beim Sonderruhegeld eine Verminderung der Leistung nicht mehr zulässig sei. Eine Einschränkung auf einen bestimmten Stichtag bzw auf Neuzugänge sei der gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen. Dies zeige auch ein Vergleich mit dem – ebenfalls mit 1.1.2020 in Kraft getretenen – Ausgleichszulagen-/Pensionsbonus, der ebenfalls auf das Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Beitragsmonaten aus der Erwerbstätigkeit abstelle. […]

8.2 Wie ausgeführt regelt § 236 ASVG die Wartezeit, deren Erfüllung eine (sekundäre) Voraussetzung für einen Pensionsanspruch ist. Auch gemäß § 236 Abs 4b ASVG gebührt erst bei Erfüllung der dort normierten Voraussetzungen eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer in der in dieser Bestimmung vorgesehenen Höhe, wenn der Versicherungsfall eingetreten ist. Damit ergibt sich auch aus der systematischen Einordnung des § 236 Abs 4b ASVG, dass von dieser Be102stimmung nur versicherte Personen erfasst sind, nicht aber Bezieher einer Pension wie der Kläger […].

8.3 Sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der systematischen Stellung stellt § 236 Abs 4b ASVG daher keine Regelung über die Neubemessung einer schon zu einem Stichtag vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung rechtskräftig zuerkannten Pension dar. Dies steht im Einklang mit dem dargestellten System, das […] in der Regel nach der rechtskräftigen Zuerkennung einer Alterspension nur mehr deren Anpassung, nicht aber deren Neubemessung im Sinn einer Neufeststellung kennt. Die Anpassung bereits gewährter Pensionen will lediglich Kaufkraftverluste der Pensionisten verhindern. […] § 236 Abs 4b ASVG ist keine Anpassungsbestimmung. Die Anpassung der Pensionen für das Kalenderjahr 2020 wurde vielmehr zeitgleich mit dem PAG 2020 in § 728 ASVG geregelt. § 728 ASVG verweist – anders als § 236 Abs 4b ASVG – ausdrücklich auf § 108h Abs 1 erster Satz ASVG. Diese Bestimmung regelt die Anpassung von Pensionen, deren Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) vor dem 1. Jänner des Jahres liegt, für das die Anpassung wirksam werden soll. Dem Gesetzgeber, der § 236 Abs 4b ASVG und § 728 ASVG mit dem gleichen Gesetz geschaffen hat, kann nicht unterstellt werden, dass er vor diesem Hintergrund das Problem der Abschlagfreistellung von vorzeitigen Alterspensionen erst ab einem Stichtag ab dem 1.1.2020 übersehen hätte.

8.4 Aus diesen Gründen war die Beklagte auch nicht gemäß § 367 Abs 2 ASVG verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Gewährung einer abschlagfreien Pensionsleistung ab 1.1.2020 einen meritorischen Bescheid zu erlassen.

9. Zur behaupteten Verfassungs- und Unionsrechtswidrigkeit des § 236 Abs 4b ASVG

Der in Art 7 B-VG normierte Gleichheitsgrundsatz verbietet unsachliche Differenzierungen (RS0053981RS0053981). Dem Gesetzgeber steht aber ein Gestaltungsspielraum insofern zu, als er in seinen rechts- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist, sofern keine unsachliche Differenzierung vorliegt (RS0117654RS0117654 [T5]; RS0053889RS0053889). Der Ansicht des Revisionswerbers, die Anwendbarkeit des § 236 Abs 4b ASVG lediglich auf Pensionsanträge ab dem Stichtag 1.1.2020 sei gleichheitswidrig, hat bereits das Berufungsgericht zutreffend entgegengehalten, dass nach ständiger Rechtsprechung eine zeitliche Differenzierung bei den Anspruchsvoraussetzungen durch eine Stichtagsregelung grundsätzlich nicht gleichheitswidrig ist. […]

10. Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Wahl geeigneter Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele über einen weiten Entscheidungsspielraum. Dieser Entscheidungsspielraum ist nur dadurch begrenzt, dass tragende Grundsätze des Unionsrechts nicht ausgehöhlt werden dürfen. […] Welche Auswirkung ein Wohnsitzwechsel auf die Gewährung der hier zu beurteilenden Pension, die in unveränderter Höhe bei einem Wohnsitzwechsel in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden müsste (Art 7 VO [EG] 883/2004), auf tragende Grundsätze des Unionsrechts hätte, vermag der Revisionswerber nicht darzulegen.

11. Der Oberste Gerichtshof hat die Unzulässigkeit des Rechtswegs als Mangel einer absoluten Prozessvoraussetzung gemäß § 230 Abs 3 ZPO auch von Amts wegen wahrzunehmen, wenn die Vorinstanzen auf die Zulässigkeitsfrage weder im Spruch noch in den Gründen ihrer Entscheidungen eingegangen sind, haben sie doch dann keine den Obersten Gerichtshof gemäß § 42 Abs 3 JN bindende Entscheidung getroffen. […] Aus Anlass der Revision sind daher die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorangegangene Verfahren wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs als nichtig aufzuheben (RS0042080RS0042080). Die Klage ist nach § 73 ASGG zurückzuweisen.

[…]

ERLÄUTERUNG

Die Wiedereinführung der Abschlagsfreiheit einer vorzeitigen Alterspension bei Vorliegen von 45 Erwerbsjahren (540 Beitragsmonate der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit) im Jahr 2020 hat einige Fragen aufgeworfen. In der vorliegenden sehr ausführlich begründeten Entscheidung stellt der OGH den Beginn des zeitlichen Geltungsbereichs des § 236 Abs 4b ASVG klar. Dabei stellen sich materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Fragen, die zu beantworten waren. Der 1954 geborene Kl bezog bereits seit 2016 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer. Er konnte 558 Versicherungsmonate (davon 552 Beitragsmonate) nachweisen; die Pension wurde mit Abschlägen infolge des Pensionsantritts vor der Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter) berechnet. Der Kl beantragte nun 2020 die Gewährung einer abschlagsfreien Pension. Die neu eingeführte Bestimmung des § 236 Abs 4b ASVG sei auch auf seine Pension anzuwenden. Die PVA wies diesen Antrag mit Bescheid zurück und führte in der Begründung ua aus, dass kein Anspruch auf Neuberechnung und deshalb keine Bescheidpflicht bestehe (Anmerkung: Gemeint war wohl ein meritorischer Bescheid). Das Erstgericht wies das Klagebegehren – trotz Vorliegen eines Zurückweisungsbescheides – ab. Auch das Berufungsgericht traf eine inhaltlich ablehnende Entscheidung.

Der OGH prüft zuerst die Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges und verneint diese, weil ein in § 67 ASGG als Prozessvoraussetzung normierter Sachbescheid über den Anspruch des Kl gar nicht vorlag. Im nächsten Schritt prüft der OGH, ob eine Säumnisklage zulässig gewesen wäre. Dies setzt voraus, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet war.

Dann werden drei mögliche Rechtsgrundlagen für die Pflicht zur Erlassung eines Bescheides ge103prüft – und letztlich verneint. Die PVA war nicht zur Erlassung eines Bescheides gem § 367 Abs 1 ASVG verpflichtet: Der Versicherungsfall des Alters trat im Fall des Kl, der seinen Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer begründete, unstrittig mit Erreichung des 62. Lebensjahres ein. Der Versicherungsfall des Alters kann nur einmal eintreten. Durch eine Umwandlung in eine Alterspension mit Erreichen des Regelpensionsalters wird kein neuer Stichtag begründet. Zum Stichtag 1.2.2016 wurde über den Anspruch dem Grunde und der Höhe nach entschieden. Durch den Antrag vom 25.2.2020 wurde kein neuer Stichtag ausgelöst, eine Bescheidpflicht über die Zuerkennung einer Leistung bestand daher nicht.

Es bestand auch keine Bescheidpflicht gem § 367 Abs 3 lit a ASVG, weil es sich beim Antrag des Kl nicht um eine Frage der Pensionsanpassung handelt.

Zuletzt wurde vom OGH die Frage einer Bescheidpflicht gem § 367 Abs 2 ASVG geprüft. In Frage käme lediglich der Tatbestand der „Neufeststellung“ der dem Kl gewährten Alterspension. Die Neufeststellung von Alterspensionen kennt das ASVG nur in Übergangsregelungen (zB § 607 Abs 10 iVm Abs 11 ASVG). § 236 Abs 4b ASVG trat mit 1.1.2020 in Kraft. Die Bestimmung regelt die Erfüllung der Wartezeit, einer sekundären Voraussetzung für den Erwerb eines Pensionsanspruchs und stellt eine Vorschrift über die Pensionsberechnung dar. Nach einer Auseinandersetzung mit in der Literatur vertretenen Auffassungen kommt der OGH zum Ergebnis, dass sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der systematischen Stellung § 236 Abs 4b ASVG keine Regelung über die Neubemessung einer schon zu einem früheren Stichtag rechtskräftig zuerkannten Pension darstellt.

Abschließend verneint der OGH auch die geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken, weil eine Stichtagsbestimmung grundsätzlich nicht gleichheitswidrig sei sowie die behauptete Unionsrechtswidrigkeit mit dem Hinweis auf den weiten Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten.

Die Unzulässigkeit des Rechtsweges ist von Amts wegen wahrzunehmen, weshalb aus Anlass der Revision die Urteile der Vorinstanzen und das vorangegangene Verfahren als nichtig aufzuheben war.

Anmerkung der Bearbeiterin:

In einer zweiten E, ebenfalls vom 19.10.2021, 10 ObS 138/21y, wurde vom OGH einem Rekurs des Kl nicht Folge gegeben. Die Begründung entspricht inhaltlich der Begründung im vorliegenden Fall; der Unterschied besteht lediglich darin, dass das Erstgericht das Klagebegehren abgewiesen und bereits das OLG das Verfahren als nichtig aufgehoben hatte.