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Muss man erwerbstätig gewesen sein, um Anspruch auf eine Invaliditätspension zu haben?*

REDAKTION WIEN
  1. § 255 Abs 3 ASVG fordert zwar – anders als § 255 Abs 2, Abs 3a ASVG – weder den Erwerb einer bestimmten Mindestanzahl von Beitragsmonaten aufgrund einer Erwerbstätigkeit noch die Ausübung „einer Tätigkeit“ in einer bestimmten Anzahl von Kalendermonaten. § 255 ASVG regelt (iVm § 273 ASVG) jedoch in seiner Gesamtheit das System des Zugangs zu einer Pensionsleistung aus der Verminderung der Arbeitsfähigkeit in Form von ausbildungsund altersabhängigen Konstellationen. Dabei setzt der Gesetzgeber das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit auch dann als selbstverständlich voraus, wenn er keine bestimmte Art oder Dauer einer Beschäftigung verlangt.

  2. Eine Invaliditätspension ohne Eintritt in das Erwerbsleben zu gewähren, ist insofern systemfremd, als ein Vergleich der Arbeitsfähigkeit zwischen Aufnahme und krankheitsbedingter Aufgabe einer Beschäftigung, also die Beurteilung des Herabsinkens der Arbeitsfähigkeit auf reinen Hypothesen beruhen würde.

  3. § 255 Abs 3 ASVG (ebenso § 273 Abs 2 ASVG) ist nicht so auszulegen, dass damit versicherten Personen, die nie in das Erwerbsleben eingetreten sind und daher auch tatsächlich keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben, Zugang zu einer Invaliditätspension verschafft wird.

  4. Zeiten der Kindererziehung sowie Zeiten der Selbstversicherung für die Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG begründen keinen Anspruch auf eine Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension, wenn die versicherte Pension nie ins Erwerbsleben eingetreten ist.

Die Kl hat in Österreich 203 Versicherungsmonate erworben, zum einen 65 Monate an Kindererziehungszeiten und zum anderen 138 Monate an Zeiten der Selbstversicherung für die Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG. Die Kl leidet seit 1999 an einer schubhaft verlaufenden multiplen Sklerose. Aufgrund des deutlich fortgeschrittenen Krankheitsbildes ist sie nicht mehr allein gehfähig und benötigt in allen Bereichen des Alltags Hilfe.

Eine Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist nicht gegeben.

Die 2002 geborene Tochter der Kl ist seit ihrer Geburt behindert und bezieht Pflegegeld der Stufe 6.

Strittig ist die Rechtsfrage, ob allein Zeiten der Kindererziehung und der Selbstversicherung nach § 18a ASVG einen Anspruch der in Österreich nie erwerbstätigen Kl auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension begründen können.

Die bekl Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 11.7.2018 den Antrag der Kl vom 13.6.2018 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab.

In ihrer Klage begehrt die Kl die Gewährung einer „Invaliditätspension“ (Berufsunfähigkeitspension). Nach der Geburt ihrer schwer behinderten Tochter sei es ihr aufgrund des erhöhten Betreuungsaufwands (24-Stunden-Betreuung) nicht möglich gewesen, einer Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Die Betreuung der Tochter sei als qualifizierte Beschäftigung zu werten. Im Ergebnis könne es keinen Unterschied machen, ob diese Tätigkeit für die eigene Tochter oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erbracht werde.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Grundvoraussetzung für die Gewährung einer Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension, nämlich das Vorliegen von Versicherungszeiten aufgrund einer ausgeübten Erwerbstätigkeit, sei nicht erfüllt. Der VfGH wies mit Beschluss vom 26.11.2020, G 256/2019-16, den Antrag der Kl, die Wortfolge „auf dem Arbeitsmarkt“ in § 255 Abs 3 und § 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122 bzw BGBl I 2015/162 als verfassungswidrig aufzuheben, zurück.

Das Berufungsgericht setzte das aufgrund des Normenkontrollantrags unterbrochene Berufungsverfahren fort, gab der Berufung nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass mangels Eintritts in das Erwerbsleben (Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) kein Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit vorliegen könne. Sogar eine Invaliditätspension nach § 255 Abs 7 ASVG zugunsten jener Personen, die bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig gewesen seien, setze den Erwerb von mindestens 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung voraus. Damit seien die Aufnahme einer 349 Erwerbstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt und der damit verbundene Eintritt in die Pflichtversicherung für einen Anspruch auf eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit notwendig. Der Versicherungsfall der Invalidität oder Berufsunfähigkeit nach § 255 Abs 7 ASVG trete nur ein, wenn sich die Leistungsfähigkeit der versicherten Person seit dem Zeitpunkt ihres erstmaligen Eintritts in die Pflichtversicherung verschlechtert habe.

Die – nach Freistellung durch den OGH beantwortete – Revision der Kl ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Es stellt sich hier die Frage, ob eine Berufsunfähigkeitspension oder eine Invaliditätspension die tatsächliche Aufnahme einer Erwerbstätigkeit voraussetzt oder ob allein schon Ersatzzeiten (Kindererziehungszeiten) und Zeiten der Selbstversicherung nach § 18a ASVG einen Anspruch auf diese Pensionsleistungen begründen.

1. Definition von Invalidität und Berufsunfähigkeit im ASVG

1.1 § 255 ASVG („Begriff der Invalidität“) lautet auszugsweise:

„§ 255. (1) War der Versicherte überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig, gilt er als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist.

(2) (...) Eine überwiegende Tätigkeit im Sinne des Abs. 1 liegt vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (...) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs. 1 (...) wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs. 2a) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für 12 Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach Abs. 1 (...) vorliegen.

(3) War der Versicherte nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen im Sinne der Abs. 1 und 2 tätig, gilt er als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.(...)(7) Als invalid im Sinne der Abs. 1 bis 4 gilt der (die) Versicherte auch dann, wenn er (sie) bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, dennoch aber mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz erworben hat.[...]

2. Voraussetzungen für den Anspruch auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension

2.1 Erfüllung der Wartezeit

2.1.1 Nach § 254 Abs 1 Z 3 ASVG setzt (auch) der Anspruch auf Invaliditätspension die Erfüllung der Wartezeit (§ 236 ASVG) voraus. Die Wartezeit ist eine sekundäre (allgemeine) Leistungsvoraussetzung (RIS-Justiz RS0106536 [T2]). Ist sie nicht erfüllt, muss bei Beurteilung des Leistungsanspruchs nicht geprüft werden, ob im konkreten Fall Invalidität oder Berufsunfähigkeit vorliegt.

2.1.2 § 236 („Erfüllung der Wartezeit“) lautet auszugsweise:

„§ 236. (1) Die Wartezeit ist erfüllt, wenn am Stichtag (§ 223 Abs. 2) Versicherungsmonate im Sinne des § 235 Abs. 2 ASVG in folgender Mindestzahl vorliegen:
  1. 1. für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit sowie aus dem Versicherungsfall des Todes
    1. wenn der Stichtag vor Vollendung des 50. Lebensjahres liegt, 60 Monate;
    2. wenn der Stichtag nach Vollendung des 50. Lebensjahres liegt, erhöht sich die Wartezeit nach lit. a je nach dem Lebensalter des (der) Versicherten für jeden weiteren Lebensmonat um jeweils einen Monat bis zum Höchstausmaß von 180 Monaten; ...
(...)(...) (4) Die Wartezeit ist auch erfüllt
  • 1für die Alterspension (Knappschaftsalterspension) und für Leistungen aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit und des Todes, wenn bis zum Stichtag
    • mindestens 180 Beitragsmonate, ausgenommen Zeiten einer Selbstversicherung gemäß § 16a, soweit sie zwölf Versicherungsmonate überschreiten, oder ...
  • 3für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit sowie aus dem Versicherungsfall des Todes, wenn der Versicherungsfall vor der Vollendung des 27. Lebensjahres des (der) Versicherten eingetreten ist und bis zu diesem Zeitpunkt mindestens sechs Versicherungsmonate, die nicht auf einer Selbstversicherung gemäß § 16a beruhen, erworben sind.
(4a) Als Beitragsmonate für die Erfüllung der Wartezeit nach Abs. 4 sind auch Ersatzmonate nach § 227a dieses Bundesgesetzes ... im Ausmaß von höchstens 24 Kalendermonaten je Kind zu berücksichtigen, gezählt ab der Geburt des Kindes, wenn
  1. für diese Zeiten Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld besteht oder der Anspruch darauf ausschließlich nach § 6 Abs 1 Z 1 KBGG ruht und
  2. sich diese Ersatzmonate nicht mit Beitragsmonaten decken. ...“

2.2 Herabsinken der Arbeitsfähigkeit

2.2.1 Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass sich der körperliche oder geistige Zustand der versicherten Person in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat, also durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde (RIS-Justiz RS0085107; 350 RS0084829). Diese Forderung ergibt sich schon aus dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen (§ 255 und § 273 ASVG): „Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes ... herabgesunken ist (§ 255 Abs 1 und § 273 Abs 1 ASVG) sowie „... wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist ...“ (§ 255 Abs 3 ASVG).

2.2.2 Für die Beurteilung des maßgeblichen Vergleichszeitpunkts stellt die Rechtsprechung nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung, sondern auf beide Elemente – Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und den damit verbundenen Eintritt in die Pflichtversicherung – kombiniert ab (10 ObS 144/10i SSV-NF 24/82; RS0084829 [T25]).

2.2.3 Im Anwendungsbereich des mit dem 2. SVÄG 2003, BGBl I 2003/145, mit Wirksamkeit ab 1.1.2004 eingeführten § 255 Abs 7 ASVG – in das Erwerbsleben eingebrachte („originäre“) Invalidität (Berufsunfähigkeit) – muss keine (weitere) Verschlechterung des Gesundheitszustands seit Eintritt in das Erwerbsleben eintreten (RS0120385).

2.3. Tatsächlicher Eintritt in das Erwerbsleben – Ausübung einer Erwerbstätigkeit?

2.3.1 Die Definitionen der Invalidität in § 255 Abs 1 ASVG und der Berufsunfähigkeit in § 273 Abs 1 ASVG betreffen versicherte Personen mit Berufsschutz. Das System des Berufsschutzes bedingt einen leichteren Zugang zur Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit je besser die versicherte Person ausgebildet ist, weil das Verweisungsfeld kleiner ist (Sonntag in Sonntag, ASVG12 § 255 ASVG Rz 2).

[...]

2.3.3 § 255 Abs 3 ASVG (§ 273 Abs 1 ASVG) definiert den Begriff der Invalidität ungelernter Arbeiter. Dieser wird von jenem für versicherte Personen mit Berufsschutz (§ 255 Abs 1 ASVG) dadurch abgegrenzt, dass die versicherte Person nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war. [...]

2.3.4 Die tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit fordert auch § 255 Abs 4a ASVG (mindestens 120 Kalendermonate in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag) für versicherte Personen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben. Nach § 255 Abs 3a Z 3 ASVG müssen über 50-jährige versicherte Personen mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben haben. Sogar von versicherten Personen mit in das Erwerbsleben eingebrachter Invalidität oder Berufsunfähigkeit wird in § 255 Abs 7 ASVG der Erwerb von mindestens 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit verlangt.

2.3.5 § 255 Abs 3 und § 273 Abs 2 ASVG fordern zwar – anders als § 255 Abs 2, Abs 3a oder § 255 Abs 7 ASVG – weder den Erwerb einer bestimmten Mindestanzahl von Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit noch die Ausübung „einer Tätigkeit“ in einer bestimmten Anzahl von Kalendermonaten (§ 255 Abs 4 ASVG). § 255 ASVG regelt (iVm § 273 ASVG) jedoch in seiner Gesamtheit das System des Zugangs zu einer Pensionsleistung aus der Verminderung der Arbeitsfähigkeit in Form von ausbildungs- und altersabhängigen Konstellationen. Dabei setzt der Gesetzgeber – wie die oben zitierten Formulierungen zum Ausdruck bringen – das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit auch dann als selbstverständlich voraus, wenn er keine bestimmte Art oder Dauer einer Beschäftigung verlangt.

2.3.6 Eine Invaliditätspension ohne Eintritt in das Erwerbsleben zu gewähren, ist insofern systemfremd, als ein Vergleich der Arbeitsfähigkeit zwischen Aufnahme und krankheitsbedingter Aufgabe einer Beschäftigung, also die Beurteilung des Herab sinkens der Arbeitsfähigkeit auf reinen Hypothesen beruhen würde. In jedem Einzelfall müsste fiktiv geprüft werden, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen der Pensionswerber/ die Pensionswerberin in das Erwerbsleben eingetreten wäre. Darüber hinaus ergibt sich ein Wertungswiderspruch zu § 255 Abs 7 ASVG: Personen, die trotz ihrer eingebrachten Einschränkungen nur unter besonderem Einsatz und/oder bei besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, müssen mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit erwerben.

3. Zwischenergebnis:

§ 255 Abs 3 ASVG (ebenso § 273 Abs 2 ASVG) ist nicht so auszulegen, dass damit versicherten Personen, die nie in das Erwerbsleben eingetreten sind und daher auch tatsächlich keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt haben, Zugang zu einer Invaliditätspension verschafft wird.

4. Gleichstellung von Kindererziehungszeiten und Zeiten der Selbstversicherung mit tatsächlicher Ausübung einer Erwerbstätigkeit?

4.1 Kindererziehungszeiten

4.1.1 Das SRÄG 1993, BGBl I 1993/335, führte anstelle des früheren Kinderzuschlags und der früheren Ersatzzeitenregelung die Anrechnung von Kindererziehungszeiten als Ersatzzeiten im Ausmaß von höchstens vier Jahren pro Kind ein (Panhözl in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 236 ASVG Rz 45 ff). Nach den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 932 BlgNR 18. GP 33 ff) sollte damit zur Sicherung des Lebensstandards im Alter bestehende Versicherungslücken geschlossen werden. Ausgegangen wurde von dem Fall, dass eine Frau nach der Geburt eines oder mehrerer Kinder erst nach einigen Jahren wieder ins Berufsleben zurückkehrt. Der Gesetzgeber hatte offensichtlich nicht das Ziel vor Augen, einen Anspruch auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension für Personen zu begründen, die aufgrund der Betreuung von Kindern nie ins Erwerbsleben eingetreten sind.

[...]

4.1.3 Für die Erfüllung der Wartezeit gelten Zeiten der Kindererziehung nach § 236 Abs 4a ASVG – allerdings nur bis zu einem bestimmten Ausmaß – als Beitragsmonate.

4.2 Selbstversicherung nach § 18a ASVG:

4.2.1 § 18a ASVG lautet:

„§ 18a. (1) Personen, die ein behindertes Kind, für das erhöhte Familienbeihilfe im Sinne des 351 § 8 Abs. 4 des Famlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376, gewährt wird, unter überwiegender Beanspruchung ihrer Arbeitskraft in häuslicher Umgebung pflegen, können sich, solange sie während dieses Zeitraums ihren Wohnsitz im Inland haben, längstens jedoch bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres des Kindes, in der Pensionsversicherung selbstversichern. (...)

(3) Eine überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft im Sinne des Abs. 1 wird jedenfalls dann angenommen, wenn und solange das behinderte Kind
  1. das Alter für den Beginn der allgemeinen Schulpflicht ... noch nicht erreicht hat und ständiger persönlicher Hilfe besonderer Pflege bedarf,
  2. während der Dauer der allgemeinen Schulpflicht wegen Schulunfähigkeit ... von der allgemeinen Schulpflicht befreit ist oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf,
  3. nach Vollendung der allgemeinen Schulpflicht und vor Vollendung des 40. Lebensjahres dauernd bettlägrig ist oder ständiger persönlicher Hilfe und besonderer Pflege bedarf. ...
...]

4.2.2 Diese besondere Selbstversicherung wurde mit der 44. ASVG-Novelle, BGBl 1987/609, geschaffen (näher Panhölzl in SV-Komm § 18a ASVG Rz 1). Der Gesetzgeber ging davon aus, dass jener Elternteil, der sich ausschließlich und allein der Pflege eines behinderten Kindes widmete, aus diesem Grund nicht in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit auch nicht für eine eigenständige Alterssicherung vorsorgen könne. Deshalb wurde eine begünstigte Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege behinderter Kinder (bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres) geschaffen (ErläutRV 324 BlgNR 17. GP 24).

4.2.3 Seit dem SVAG, BGBl I 2015/2ist nicht mehr die gänzliche Beanspruchung der Arbeitskraft Voraus setzung für eine Selbstversicherung in der Pensionsversicherung. Es genügt die „überwiegende Beanspruchung der Arbeitskraft“. Das SVAG passte § 18a ASVG an die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege naher Angehöriger (§ 18b ASVG) an (Zehetner in Sonntag, ASVG12 § 18a ASVG Rz 4). Damit wurde eine Selbstversicherung zusätzlich zu einer aus einer Erwerbstätigkeit resultierenden Pflichtversicherung, im Ergebnis also eine Höherversicherung geschaffen (Panhölzl in SV-Komm § 18a ASVG Rz 1).

4.2.4 Die Selbstversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG sowie der Pflege naher Angehöriger nach § 18b ASVG bezweckt somit vorrangig, es den Pflegepersonen zu ermöglichen, die Zeit der Pflege als Zeit der Pensionsversicherung für die Altersversorgung zu erwerben (s auch R. Müller, Die Selbstversicherung für Zeiten der Pflege [§§ 18a und 18b ASVG], in Pfeil/Prantner, Sozialversicherungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit [2016] 35 [36]).

4.2.5 Diesem Zweck entsprechend gelten für die Erfüllung der für die Alterspension erforderlichen Mindestversicherungszeit auch Zeiten einer Selbstversicherung nach den §§ 18a und 18b ASVG als Versicherungsmonate, die aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben wurden (Panhölzl in SV-Komm [206. Lfg] § 236 ASVG Rz 55; Födermayr in Tomandl, SV-System 2.4.3 [375]).

4.2.6 § 232 Abs 1 ASVG unterscheidet bei den Arten von Versicherungsmonaten unter anderem zwischen Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit und Beitragsmonaten der freiwilligen Versicherung. Die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines behinderten Kindes (§ 18a ASVG) zählt zu den im dritten Unterabschnitt des ASVG (§§ 16 bis 20 ASVG) geregelten freiwilligen Versicherungen. Zeiten freiwilliger Versicherungen sind nach ständiger Rechtsprechung keine Beitragszeiten einer qualifizierten Beschäftigung im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG (RS0125347). Die begünstigte Selbstversicherung nach § 18a ASVG setzt voraus, dass die versicherte Person die Pflege selbst leistet. Diese Pflegeleistung eines Angehörigen ist aber nicht nach den berufsrechtlichen Vorgaben des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG), BGBl I 1997/108 zu beurteilen (Pfeil in SV-Komm § 18a ASVG Rz 3). Hilfeleistungen in der Familie werden vom GuKG nicht erfasst (vgl § 3 Abs 3 GukG).

4.2.7 Die Kosten für die Selbstversicherung werden vorerst vom Familienlastenausgleichsfonds und vom Bund aus allgemeinem Steuergeld getragen (§ 77 Abs 7 zweiter Satz ASVG), weshalb es sich um eine Sozialleistung handelt (R. Müller, Die Selbstversicherung für Zeiten der Pflege [§§ 18a und 18b ASVG], in Pfeil/Prantner, Sozialversicherungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit [2016] 35 [37]).

4.2.8 Im vorliegenden Fall macht die Klägerin geltend, dass sie aufgrund der Pflege ihrer ***2002 schwerst behindert geborenen Tochter (24-Stunden- Pflege – Pflegestufe 6) nie eine Beschäftigung aufnehmen konnte, aber trotzdem eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete (qualifizierte) Pflegetätigkeit ausgeübt hat.

4.2.9 Zeiten der Selbstversicherung gelten zwar – im Gegensatz zu Kindererziehungszeiten zeitlich unbeschränkt – als Beitragsmonate zur Erfüllung der „ewigen Anwartschaft“ von 180 Beitragsmonaten für Leistungen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach § 236 Abs 4 Z 1 lit a ASVG (Panhölzl in SV-Komm § 236 ASVG Rz 60). Das Gesetz ermöglicht in den Fällen schwerst behindert geborener Kinder einen sehr langen Zeitraum der Selbstversicherung bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres des Kindes, sofern die Voraussetzung der überwiegenden Beanspruchung der Arbeitskraft der Pflegeperson (§ 18a Abs 1 iVm Abs 3 ASVG) erfüllt ist.

4.2.10 Vorrangiges Ziel des Gesetzgebers war es, auch Langzeitpflegepersonen davor zu schützen, dass sie nie oder in jedenfalls unzureichendem Ausmaß Zeiten der Pensionsversicherung für die Altersversorgung erwerben können. Im Gegensatz zu den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit (ausgenommen im Anwendungsbereich des § 255 Abs 7 ASVG) hängt die reguläre Alterspension nicht von einem Herabsinken der Arbeitsfähigkeit ab. Hätte der Gesetzgeber mit 352 der Einführung der Selbstversicherung nach § 18a ASVG das System der Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitspension ändern wollen, indem auch nie erwerbstätig gewesene Personen ein Anspruch auf solche Pensionsleistungen zustehen solle, hätte er dies ausdrücklich (insbesondere) in den §§ 255, 273 ASVG festgelegt.

5. Ergebnis: Zeiten der Kindererziehung sowie Zeiten der Selbstversicherung für die Pflege eines behinderten Kindes nach § 18a ASVG begründen keinen Anspruch auf eine Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension, wenn die versicherte Pension nie ins Erwerbsleben eingetreten ist.

6. Der OGH sieht sich nicht zur (neuerlichen) Befassung des VfGH zu dieser Problematik veranlasst. Die Differenzierung zwischen Alterspension und Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension ist sachgerecht. 353