KellerSpuren der Arbeit. Von der Manufaktur zur Serverfarm – Reportage

Rotpunktverlag, Zürich 2016, 232 Seiten, gebunden, € 34,–

SABINELICHTENBERGER (WIEN)

Weltgeschichte zeigt sich im Konkreten

Den „Spuren der Arbeit“, erschienen anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau, folgt der Schweizer Journalist und Historiker Stefan Keller mit einer Sammlung, wie er es nennt „Reportagen“, über verschiedene Themenbereiche von Erwerbsarbeit am Beispiel des Schweizer Kantons Thurgau, der im Nordosten der Schweiz liegt und im Norden an den Bodensee, den Rhein und an Deutschland grenzt. Untersuchungszeitraum ist vorwiegend das 18. und 19. Jahrhundert. „Weltgeschichte zeigt sich im Konkreten“ heißt es im Covertext. Treffender könnte man den Inhalt mit wenigen Worten nicht zusammenfassen, geht es ihm doch darum aufzuzeigen, wie sich Weltgeschichte auf die Lebens- und Erwerbsbiografie von einzelnen Menschen und einer Region, in der sie leben, abzeichnet.

„Eine neue Klasse von Menschen“

Die erste Reportage widmet Keller dem kleinen Ort Hauptwil, in das der Lyriker Friedrich Hölderlin (1770-1843) 1801 reiste, um dort bei der Kaufmannsfamilie Gonzenbach als Hauslehrer tätig zu sein. Die Familie Gonzenbach hatte im 17. Jahrhundert ihre Leinwandproduktion in eben diesen Ort verlegt, wo in der Folge ein vorindustrielles Musterdorf, wie Keller es schilderte, entstand. Es hatte einen großen Weiher, ein Schloss und ein Kaufhaus. Eine Walke, Färbereien, Tuchdruckereien, Wohnhäuser für die ArbeiterInnen zeugten davon, dass „im Thurgau eine neue Klasse von Menschen“ (S 12) entstanden sei. Eine Klasse, so wird ein evangelischer Pfarrer zitiert, die „... keinen Boden mehr bebaut, sondern allein von industrieller Arbeit abhängt“ (S 12). Während im Schloss die Kinder von Hauslehrern unterrichtet wurden, lebten die ArbeiterInnen und deren Kinder in bitterer Armut, die mit der sogenannten „Färberkrankheit“, Rheuma, Gicht, Katarrhen, Asthma, Vergiftungen und Verätzungen Hand in Hand ging, schildert ein weiterer Zeitgenosse (S 14). Das „helle Himmelblau und die reine Sonne über den nahen Alpen“ (S 17), wie der Lyriker Höderlin das Landschaftsbild zeichnete, konnten die industriellen ArbeiterInnen, wie auch die unzähligen HeimarbeiterInnen, aufgrund der überlangen Arbeitszeiten wohl kaum genießen. Gezeichnet von schwerer Arbeit, Not und Krankheit war den meisten von ihnen nur ein kurzes, aber umso beschwerlicheres Leben beschieden.

Die Methode, unterschiedlichste zeitgenössische Berichte aus Zeitschriften und Zeitungen und anderen Quellen und schriftliche Berichte von ZeitzeugInnen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten, wenn auch oft nicht von den direkt betroffenen ArbeiterInnen zu Wort kommen zu lassen, wendet Keller auch in den folgenden Kapiteln an. Dem/der Leser/in obliegt es bald, Parallelen zu Ereignissen, Entwicklungen zur Gegenwart anzustellen, doch Interpretationen des Autors fehlen gänzlich. Er beschränkt sich auf die quellenbasierte Erzählung von Biografien und 372 sozialen Verhältnissen und Kontexten in diesem Kanton und nimmt die LeserInnen nicht zuletzt auch auf eine Zeitreise in die Anfänge, sowohl des Arbeitsrechtes als auch in die Anfänge des AN-Schutzes mit.

„Ein Jahr ohne Sommer“

Im zweiten Kapitel schildert Keller die Folgen eines „Jahres ohne Sommer“, das seine Ursache im Ausbruch des Vulkans Tambora 1815 im weitentfernten Indonesien hatte. Die Folge war eine weltweite Klimakatastrophe mit Frösten, Schneefällen, Gewittern und Dauerregen, wodurch letztlich Ernten ausfielen. Von den daraus resultierenden Hungersnöten waren ab 1816 auch die Menschen in der Ostschweiz betroffen. Mit der Not kamen religiöse Eiferer, Weltverschwörer ebenso auf den Plan, wie solche, die Rezepte aus Kräutern, Gräsern, Wurzeln, Tier- und Menschenknochen in Umlauf brachten und so den ohnehin schon kranken und geschwächten Menschen noch zusätzlichen Schaden zufügten. „Auszuwandern oder vor Hunger zu sterben“ (S 29), waren damals, wie auch bei vielen Fluchtbewegungen, die künftig folgen sollten, auch hier die Parallelen zur Gegenwart, die letzte Hoffnung. Auch hätte, so zitiert Keller Historiker, der Staat mehr Energie in die Bekämpfung von BettlerInnen denn in die Organisation von „Suppenküchen“ gesteckt: Mehr noch, Staat und Behörden machten Gewinne.

„Niemand kennt den Namen jenes Knaben“

Im dritten Kapitel setzt sich Keller mit dem Thema der „Kinderarbeit“ im Thurgau auseinander. Um zur Existenz der Familie einen Beitrag zu leisten, arbeiteten auch die Kinder in der Ostschweiz für niedrigste Löhne in den Fabriken und Spinnereien sechs Tage pro Woche. Für den Besuch einer Sonntagsschule fehlte wohl vielen die Kraft, die mangelnde Unterstützung von Unternehmern, aufgrund der Notlage nicht zuletzt auch der Eltern, tat dazu ihr Übriges. Die 1815 eingeführte Schulpflicht, in der Praxis nur wenige Stunden pro Woche, konnte kaum Abhilfe schaffen. „Die Schulwuth“ (S 44) etwa, hieß es in zeitgenössischen Berichten, würde nur einen Arbeitskräftemangel hervorrufen. Das Eidgenössische Fabriksgesetz von 1877 bezog sich nur auf den Bereich der Kinderarbeit in der Landwirtschaft. Die Fabrikkinder selbst, so Keller, kämen in vielen Quellen des Kantons Thurgau (und nicht nur in diesen, Anm der Autorin) gar nicht vor. Zu Recht weist Keller in diesem Kapitel auf den Mangel von „Stimmen von ehemaligen Fabrikkindern“ hin. „Arbeiterinnen und Arbeiter hinterlassen selten Memoiren, es sei denn, sie hätten eine Aufstiegsgeschichte zu erzählen“ (S 51), so Keller.

Die Schilderung des Schicksals, jenes Knaben, auch dessen Namen niemand kannte, und dem in Arbon in den 1860er-Jahren in einer Zündholzfabrik der Oberkiefer aus der Mundhöhle fiel, verursacht Betroffenheit. Für die Produktion von Zündhölzchen wurde in großen Mengen hochgiftiger weißer Phosphor verwendet, der bei den ArbeiterInnen in den Fabriken zunächst zu Entzündungen und Eiterungen des Zahnfleisches, im späteren zu Geschwüren, Zersetzung und Entstellungen des Gesichtes führte und schließlich mit dem Tod der Betroffenen endete. Derartige Phosphor-Nekrosefälle traten auch in Italien, Frankreich, Belgien, Schweden und Österreich auf. 1879 wurde die Herstellung von Streichhölzern aus weißem oder gelbem Phosphor in der Schweiz verboten, das Verbot allerdings bald wieder aufgehoben. Erst 1906 konnte eine internationale Konvention das Verbot der Verwendung von gelbem Phosphor in der Schweiz und anderen europäischen Ländern für die Zündholzproduktion durchsetzen. Zu Kriegszwecken wurde weißer und gelber Phosphor weiterhin eingesetzt.

Auf in den Fernen Osten! Auf nach Amerika!

Das vierte Kapitel mit dem Titel „Singapur“ beschäftigt sich mit Auswanderungsgeschichten aus der Schweiz und deren unterschiedlichsten Facetten. Am 10.6.1883 etwa reiste ein Arzt aus dem Thurgau nach Singapur. Seine Reiseberichte aus der Perspektive eines Arztes in der ersten Klasse, beispielsweise erschienen in der Thurgauer Zeitung, erfreuten sich größter Beliebtheit. Unterwegs in Südostasien, etwa in Singapur, Java und später auch in Japan, traf er indes auf viele Geschäftsleute aus der Ostschweiz, die sich schon vor ihm auf den Weg machten, um nach dem Zusammenbruch alter Märkte nach neuen Produkten und Absatzmärkten zu suchen, die sie auch fanden. Nachdem sie die neueste Mode in Singapur beobachtet hatten, schickten sie Stoffmuster per Briefpost in die Schweiz, um in den Schweizer Buntwebereien das Tuch für asiatische Bekleidungen produzieren und nach Asien bringen zu lassen. Ihre Hoffnungen sollten in Erfüllung gehen, einige kehrten mit beträchtlichem Vermögen, Ruhm und Ansehen zurück.

Weniger Glück sollten andere Auswanderer aus dem Thurgau haben, wie etwa die jungen Söldner, die sich beispielsweise ab der Mitte des 19. Jahrhunderts für Söldnerdienste in Südostasien anwerben ließen. Hoffnung auf Vermögen, Ansehen, auf Abenteuer spielte bei den einen, religiöser Fanatismus bei anderen eine Rolle, wie etwa bei den Mormonen, die „auf ein neues Leben in einem Gottesstaat“ hofften (S 69). Ob Amerika für die vielen Einwanderer tatsächlich „ein Hort der Freiheit, eine glückliche, von den Fesseln der Noth und Armuth befreite Heimath“ (S 73) geworden ist, bleibt in dieser Reportage offen. Jener Schweizer Arzt, der am 10.6.1883 in einem Dampfer erster Klasse nach Singapur reiste und später Verwandte, die nach Michigan ausgewandert sind, besuchte und dort einen Schweizer Konsul traf, schrieb: den armen Einwanderer „... dachte ich im Stillen, die vielleicht hilflos auf dem Pflaster sind und sich einbilden, daß sie bei ihrem Konsulate freundlichen Rat holen können“ schlug vielmehr Unfreundlichkeit und herablassende Behandlung entgegen (S 74).

Von Einfädlerinnen, Dienstboten und Mägden

In den nächsten beiden Kapiteln folgt Keller den „Spuren der Arbeit“ von EinfädlerInnen, Dienstboten und Mägden. Stickereiindustrie, sehr oft in Heimarbeit ausgeführt, boomte nach der Erfindung der Stickmaschine 1828 in der Ostschweiz bis zum Ersten Weltkrieg. Der Boom wurde „gelegentlich mit den Goldräuschen um 1848 in Kalifornien und um 1896 in Alaska“ (S 84) verglichen. Ein guter Sticker, so zitiert Stefan Keller, sei der vornehmste unter den männlichen Industriearbeitern. Kinder und Frauen, standen ihnen als gering bezahlte Hilfskräfte, sogenannte „Fädler“ und „Fädlerinnen“, zur Seite. Die langen Arbeitszeiten, die schlechte Bezahlung und die Bedingungen in den Produktionswerkstätten trugen zu zahlreichen Krankheiten, wie etwa der „Stickerkrankheit“, aber auch viele Geschlechtskrankheiten bei. Auch für das Kapitel über DienstbotInnen hat Keller die unterschiedlichen 373 Quellen Geschichten studiert, um so die prekäre Stellung von Dienstboten, Mägden und Knechten zu schildern. Wenn da von einer „Dienstbotennot“ die Rede ist, so Keller, „sei nicht die Not der Dienstboten gemeint“, sondern „die Schwierigkeit von bürgerlichen Herrschaften und bäuerlichen Meistersleuten, in Zeiten der fortschreitenden Industrialisierung noch genügend Arbeitskraft zu finden“ (S 101).

Von Wanderarbeitern, Italienern und Italienerinnen

Im Kapitel „Wanderarbeiter“ zeigt Keller anhand unterschiedlicher Quellen Formen und die Beweggründe für Arbeitsmigration auf. Er beschäftigt sich etwa mit den wandernden Handwerksgesellen, die nach Zunftbestimmungen über mehrere Jahre bei verschiedenen Meistern arbeiten und so ihr berufliches Wissen erweitern sollten. Sie trugen stets das Wanderbuch bei sich, in dem ihre Arbeitsstellen und die Dauer des Arbeitsverhältnisses eingetragen wurden. Ähnlich dem Dienstboten- und dem Arbeitsbuch wurden darin aber auch allfällige Vorstrafen, durch bestimmte Zeichen aber auch Informationen über die politische Orientierung, eingetragen oder ob der/die Besitzer/in des Arbeitsbuches gewerkschaftlich organisiert oder tätig ist und so oft eine Arbeitssuche erschwert. Die Bevölkerung, so eine sozialhistorische Studie über die Entstehung der Thurgauer Polizei, auf die sich Keller beruft, hielt sich „reisenden Arbeitern, Gewerbetreibenden wie Bettlern gegenüber nicht selten aufgeschlossener als die Gesetze erlaubten“ (S 119). Weniger freundlich wurden die „Italiener“, als sie in die Schweiz kamen, behandelt. Die Männer arbeiteten als Bauarbeiter, die Frauen in der Stickindustrie, oft galten sie als „LohndrückerInnen“. Die Ablehnung gipfelte im sogenannten „Italienerkrawall“ in Arbon 1902, bei dem es sich nur um einen von mehreren fremdenfeindlichen Ausschreitungen in der Schweiz handelte. Im letzten Kapitel springt Keller in die Gegenwart und beendet darin seine Zeitreise durch den Schweizer Kanton Thurgau, indem er sich mit elektronischen und digitalen Veränderungen und deren Folgen beschäftigt.

Kellers Reportagen werden im Anhang durch einen Bildteil ergänzt, es werden Fotos von Menschen in unterschiedlichen Lebens- und Arbeitssituationen gezeigt. Dazu im Kontrast steht die Sammlung von meist sehr repräsentativen Abbildungen von Fabriken, wie sie wohl zuhauf in Zeitungen, Zeitschriften und Geschäftsbriefen usw zu sehen waren. Eine Zuordnung der Abbildungen in die einzelnen Kapitel hätte den Umgang mit dem Buch ebenso erleichtert, wie der Entschluss Kellers, in den Texten keine Fußnoten anzubringen, sondern am Ende des Buches den jeweiligen Kapiteln/Reportagen einen kommentierten Quellennachweis beizufügen. Eine Methode, die bei der Fülle der verwendeten Quellen, direkten und indirekten Zitate und der Dichte von Daten und Fakten oftmaliges Nachblättern, auch wiederholtes Lesen von einzelnen Passagen erforderlich macht.

Den „Spuren der Arbeit“ zu folgen, erfordert daher konzentrierte Aufmerksamkeit der LeserInnen. Die Geschichten von all jenen Menschen, die Keller erzählt und in der herkömmlichen Geschichtsschreibung zu oft fehlen, haben diese Aufmerksamkeit aber mehr als verdient.