LemmesArbeiten in Hitlers Europa – Die Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940-1945

Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2021, 770 Seiten, gebunden, € 98,–

KLAUS DIETERMULLEY (WIEN)

Entlang der französischen Atlantikküste ist heute wohl kein Spaziergang möglich, ohne nicht auf die grauenhaften Betonklötze zu stoßen, die immer wieder in kurzen Abständen den Strand verunstalten. Dass diese die scheußlichen Relikte des von Adolf Hitler 1942-1944 befohlenen „Atlantikwalls“ sind, wird spätestens beim Besuch eines der zahlreichen „D-Day-Museen“ in den Küstenorten der Normandie oder der Bretagne bewusst. Unwillkürlich muss man an die tausenden Arbeitskräfte denken, die unter mannigfaltigen Entbehrungen diese riesige von Norwegen bis an die französisch- spanische Grenze reichende Verteidigungsanlage bauen mussten. Neben der deutschen Wehrmacht war es die „Organisation Todt“ (OT), die mit der Bauausführung betraut war. Die vorliegende umfangreiche Arbeit von Fabian Lemmes versucht, Politik und Praxis des „Arbeitseinsatzes“ auf französischen und italienischen Baustellen der OT organisations-, unternehmens- und sozialgeschichtlich zu beschreiben.

Die OT entstand im Rahmen des von Adolf Hitler 1933 favorisierten Baus von Autobahnen. Der Straßenbauexperte Ing. Fritz Todt, ein altgedientes NSDAP-Mitglied, wurde zum „Generalinspekteur für das Straßenwesen“ ernannt. Aufgabe dieser dem Reichskanzler Hitler persönlich unterstellten Dienststelle war ursprünglich die Aufsicht über die Autobahnbaugesellschaft und die Sicherung der für einen raschen Baufortschritt notwendigen Ressourcen. Todt initiierte die ersprießliche Zusammenarbeit zwischen privatwirtschaftlichen (Bau-)Unternehmungen und staatlichen Dienststellen, wie seiner OT. 1938 wurde Todt als „Sonderbeauftragter des Führers“ mit dem Bau des sogenannten „Westwalls“ entlang der deutsch-französischen Grenze betraut. Die OT wurde im Auftrag der Wehrmacht Bauherr, dh sie schloss Verträge mit den die Bauten ausführenden Baufirmen, kümmerte sich um die rasche Zurverfügungstellung der notwendigen Materialien, später auch der Arbeitskräfte, und beaufsichtigte den Bau. Die Bediensteten der OT waren militärisch organisiert, trugen Uniformen und waren mit einer Hakenkreuzbinde am Arm gekennzeichnet. Fritz Todt konnte durch diverse Beauftragungen seinen Einfluss und seinen Tätigkeitsbereich innerhalb des polykratischen Systems des „Führerstaates“ immer mehr ausdehnen und wurde schließlich zum Rüstungsminister ernannt. Nach dem Tod von Fritz Todt1942 wurde Albert Speer Reichsminister für Bewaffnung und Munition (ab Juni 1943 Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion) und gliederte die OT in sein Ministerium ein. Allerdings gelang es der OT unter dem noch von Todt bestimmten Leiter Franz Xaver Dorsch weitgehend unabhängig zu bleiben und autonom zu agieren. Die OT bearbeitete alle Bauvorhaben in den besetzten Ländern mit Ausnahme in den von der Wehrmacht beherrschten Operationsgebieten. Doch auch die Wehrmacht, also Heer, Luftwaffe und Marine, beauftragte die OT laufend mit diversen Bauvorhaben. Die Kosten für die Bauvorhaben wurden in Frankreich 374 aus den dem Deutschen Reich von der Vichy-Regierung überwiesenen Besatzungskosten und in Italien aus dem Kriegskostenbeitrag des Landes bestritten. Die beiden Volkswirtschaften mussten somit selbst die Verschandelung – zB ihrer Küsten – durch deutsche Kriegsbauten bezahlen.

Kommandos der OT folgten den im Mai 1940 in Frankreich überfallenden deutschen Truppen und unterstützten die Wehrmachtspioniere bei der (Wieder-) Herstellung von Brücken und Straßen. In weiterer Folge bekam die OT den Auftrag, große U-Boot-Bunker in einigen französischen Häfen zu errichten. 1942 erfolgte dann die Beauftragung mit dem Bau der Befestigungen für den sogenannten „Atlantikwall“. Nach der Landung der Alliierten im August 1944 („D-day“) zogen sich die OT-Kommandos mit den deutschen Truppen zurück und halfen bei der Errichtung von Verteidigungsstellungen in Ostfrankreich. Auch in Italien wurden kleinere Einheiten der OT schon vor der deutschen Besetzung des Landes für Bauvorhaben der Wehrmacht herangezogen, waren dann jedoch ab September 1943 breitflächig tätig. Zum einen ging es um Befestigungsanlagen entlang der französisch-italienischen Küste und entlang der Adria (insb in Istrien), wie auch um militärische Projekte, infrastrukturelle Verbesserungen und kriegswichtige Vorhaben im Landesinneren bis Norditalien (Operationszonen „Alpenland“ und „Adriatisches Küstenland“).

Nach diesem weitgehend organisationsgeschichtlichen Teil beschäftigt sich der Autor im Mittelteil des Bandes (249-602) intensiv mit den wechselnden Formen der Rekrutierung von Arbeitskräften in den besetzten Gebieten, mit den Arbeitsverhältnissen und dem Arbeitsalltag. Rund 1 Mio Menschen arbeiteten zum einen oder anderen Zeitpunkt zwischen 1940 und 1945 für die OT in Frankreich (ca 600.000) und Italien (ca 400.000). Abgesehen von den deutschen Staatsangehörigen, die überwiegend Leitungsfunktionen innehatten, Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion („Ostarbeiter“) und KZ-Häftlingen (um die es in der vorliegenden Publikation nicht geht) waren es überwiegend vor Ort angeworbene und bald auch zwangsverpflichtete AN, die das Gros in den OT-Baustellen darstellten. Zwangsarbeit wird vom Autor nach Mark Spoerer (Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz [2001]) mit der Unauflöslichkeit des Arbeitsverhältnisses (AN hat kaum oder keine „exit“-Möglichkeit) und der Rechtlosigkeit (AN hat nahezu keine „voice“) definiert. Wie Lemmes nun empirisch nachweisen kann, gab es in beiden Ländern vielfältige Abstufungen der Arbeitsverrichtung, die von einer anfänglich zumindest „formalen“ Freiwilligkeit über diverse Einschränkungen und Verbote bis hin zu totaler Zwangsarbeit reichten. Grundsätzlich war die Anwerbung der Arbeitskräfte von den entsprechenden Anweisungen der Regierungen und des Besatzungsregimes abhängig. In Frankreich und Italien begann die OT mit Freiwilligenwerbung durch materielle und immaterielle Anreize. Bald jedoch ging es darum, einheimische Arbeitskräfte durch verschiedene Formen der Verpflichtung zum Dienst für die Besatzungsmacht zu zwingen. Es kam zur Zwangsverpflichtung ganzer Geburtsjahrgänge bis hin zur Aushebung von Arbeitskräften mit Waffengewalt. Es kam in beiden Ländern im Zeitablauf zu einer sukzessiven Radikalisierung der deutschen Rekrutierungspolitik. Jedoch wurden Anreize nicht vollständig durch Zwangsmittel ersetzt, letztere meist flankierend eingesetzt. In der OT waren die Arbeitskräfte – wie der Autor schreibt – „Zuckerbrot und Peitsche ausgesetzt“. Das „Zuckerbrot“ waren anfangs die relativ hohen Löhne verbunden mit Sozial- und Naturalleistungen. Allerdings waren die höheren Löhne meist mit einer längeren Arbeitszeit verbunden. Dem gegenüber stand das durch die deutschen OT-Männer repräsentierte Obrigkeitsregime, das ein engmaschiges System von Disziplinarmaßnahmen einsetzte. Während man sich seitens der OT in Frankreich mit der Einrichtung von Strafbaracken und Straflagern als Sanktionsinstrumente behalf, kam es in Italien zu standrechtlichen Erschießungen geflohener OT-AN. In beiden Ländern gab es einen großen Unterschied zwischen in Lagern und privat untergebrachten Arbeitskräften. Generell ist festzustellen, dass es den in OT-Baustellen vor Ort eingesetzten französischen und italienischen AN meist besser ging als jenen, die im Rahmen des „Reichseinsatzes“ im Deutschen Reich zur Arbeit verpflichtet wurden. Jedoch waren auch in den OT-Lagern in Frankreich und Italien die Lebensbedingungen oft katastrophal.

Das letzte Kapitel des Buches ist der Zusammenarbeit zwischen OT und der Privatwirtschaft gewidmet. Die OT konnte auf die breite Unterstützung deutscher, französischer und italienischer Baufirmen zurückgreifen. Sie bot den Bauunternehmungen ein breites Betätigungsfeld verbunden mit der Kenntnis neuer Techniken und mitunter exzellenter Profitmöglichkeiten. Der Schlüssel für die Kollaboration mit dem NS-Regime liegt in einem von den Deutschen geschaffenen Mix aus finanziellen Anreizen und Zwangsmaßnahmen, die eine Kooperation für Unternehmen interessant werden ließ. Darüber hinaus drohte jenen französischen und italienischen Unternehmungen, die eine Kooperation mit der OT ablehnten, eine Requirierung ihres Maschinenparks und die Dienstverpflichtung ihrer AN. So gesehen lag es im wirtschaftlichen Interesse der Bau- und Baunebenbetriebe, mit dem NS-Staat zu kooperieren. Während französische Unternehmen nach dem Krieg zumindest für eine gewisse Zeit von Entnazifizierungsmaßnahmen betroffen waren, konnten sich italienische Baufirmen überwiegend sogleich dem Wiederaufbau widmen. Franz Xaver Dorsch, der Chef der OT, gründete 1951 ein Bauplanungs- und Consulting-Unternehmen, welches im Laufe der Zeit expandierte und heute mit über 2.000 AN in dutzenden Ländern tätig ist.

Wie der Autor mit Recht feststellt, lassen sich am Beispiel der OT in Frankreich und Italien die nationalsozialistische Arbeitseinsatzpolitik und -praxis für alle vom NS-Regime besetzten Länder nachvollziehen. Das vorliegende Buch gehört somit zu den Standardwerken nationalsozialistischer (Zwangs-)Arbeitspolitik.