Anzengruber/Grabuschnig/Weingand (Hrsg), BauerDer Aufstand der österreichischen Arbeiter

Verlag des ÖGB, Wien 2021, 136 Seiten, Klappenbroschur, € 9,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Es war eine ausgezeichnete Idee, in der gegenwärtigen Phase einer tiefgreifenden, möglicherweise gar nicht 375 enden wollenden Krise der Sozialdemokratie (sozialistischen Bewegung, Arbeiterbewegung) eines der Hauptwerke von Otto Bauer neu aufzulegen und mit einem Nachwort eines der besten Kenner der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Werner Anzengruber, anzureichern. Verdienstvoll ist auch der Abdruck des Vorworts von Bruno Kreisky zur Neuauflage des Textes 1974 und die Hinzufügung einer Gedächtnisaufzeichnung von Theodor Körner aus dem Jahr 1956.

Otto Bauer kann immerhin als der wohl brillanteste, wenn auch nicht unumstrittene Theoretiker der österreichischen sozialistisch/sozialdemokratischen Bewegung bezeichnet werden. Er war aus heutiger Sicht aber auch der große Verlierer in den Auseinandersetzungen zwischen Reformismus und einem durchaus gemäßigten Revolutionsprojekt. Seine Ideen heute neu zu bewerten und mit dem nunmehr wieder komplett entfesselten und sozial desaströsen Kapitalismus der Gegenwart zu konfrontieren, kann einen Beitrag dazu liefern, die derzeitige Ratlosigkeit, Perspektivlosigkeit und Erfolglosigkeit sozialdemokratischer Politik grundlegend und tabulos zum Thema zu machen.

Der vorliegende Band kommentiert den nicht sehr umfangreichen Text von Otto Bauer in Form eines reichhaltigen, informativen und den heutigen Stand der Forschung repräsentierenden Apparats an Anmerkungen, Hinweisen und Erklärungen. Dadurch und durch die begleitende Abhandlung von Anzengruber werden auch jene Leser bereichert, die den Text von Bauer gut kennen. Dieser ist schon sprachlich für heutige Verhältnisse recht ungewohnt, sehr emotional und voller Pathos von weit ausgreifenden Visionen befeuert. Wie im Vorwort festgehalten wird, ist der Text auch als Beitrag zum Verständnis des jahrhundertelangen Ringens zwischen Aufklärung und Moderne, Demokratie und Rechtsstaat einerseits und einer rechtsextremen, rückwärtsgewandten, antipartizipativen und anti-emanzipatorischen Gedankenwelt zu verstehen. Mehr Aktualität geht eigentlich nicht.

Die Würdigung von Anzengruber halte ich insgesamt für sehr gelungen und differenziert. Er rückt auch das Bild zurecht, dass die „Gemäßigten“ in der Sozialdemokratie, wie Körner, Renner und insb die Protagonisten des doch sehr akzentuierten Rechtsrucks der SPÖ in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts (Oskar Helmer, Franz Olah) historisch Recht behalten haben. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Anzengruber verweist auf viele Punkte, die für die Aktualität der Schrift sprechen. So hebt er hervor, dass Bauer anders als die kommunistischen Parteien oder die Rätebewegung den Boden der rechtsstaatlichen demokratischen Verfassung nie in Frage gestellt hat. Nach dem „Linzer Programm“, dessen maßgeblicher Urheber Otto Bauer war, sollte die Eroberung der Macht mit dem Stimmzettel erfolgen. Im „Roten Wien“, progressive Insel im schwarz-braunen Restösterreich, schien dies auch zu gelingen. Nur für den Fall, dass die demokratisch-parlamentarische Republik durch eine Diktatur ersetzt würde, was mit dem Austro-Faschisten Engelbert Dollfuß und in der Folge mit den Nationalsozialisten eingetreten ist, sei Widerstand angezeigt. Genau daraus entsprang das Motiv für den gescheiterten Aufstand im Jahr 1934.

Anzengrubers Stellungnahme stellt die Illusionen von Otto Bauer in den Mittelpunkt, am Ende kommt er aber doch zu dem Schluss, Bauer sei kein Illusionist gewesen, sondern ein Visionär. Richtig ist wohl beides. Am Ende seines Textes meint ja Bauer, dass letztlich die Arbeiterklasse siegen würde. „Der Tag der Vergeltung, der Tag der Revanche, der Tag des Sieges wird kommen.“ Er argumentiert, die Entwicklung würde entweder zu einer Restaurierung der Habsburger-Diktatur oder zum Sieg des nationalsozialistischen Monstrums führen. Dass am Ende des Zusammenbruchs der rechten Diktaturen in Europa ein Klassenkompromiss, eine Versöhnung der feindlichen Lager, eine soziale Marktwirtschaft, die Machtübernahme der Sozialpartnerschaft stehen würde, konnte er nicht vorhersehen.

Der Text sollte heute auch deswegen aufmerksam gelesen werden, weil er letztlich für eine dezidiert linke sozialistisch/sozialdemokratische Position steht, die eine gesellschaftliche Transformation nach den Regeln des demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaats anstrebt. Der Konflikt zwischen den reformistischen Sozialdemokraten und den systemüberwindenden Positionen ist nicht endgültig entschieden, da der Kapitalismus heute mit neuen Methoden und hegemonialer denn je Mensch und Natur zerstört. Das Scheitern der Politik von Bauer ist aber auch Warnung an all jene, die glauben, mit unzureichenden Mitteln und aus einer strategisch schwachen Position heraus systemverändernd tätig zu werden.

Ein wenig in Vergessenheit geraten ist, dass Ende der 60er-Jahre Otto Bauer eine deutlich wachsende Anziehungskraft auf Teile der jungen Generation ausübte, wie auch Heinz Fischer festgehalten hat. kyBruno Kreis hat von Otto Bauer in großer Verehrung als seinem Mentor gesprochen.

Bauer hat die theoretische Schule des Austromarxismus führend mitentwickelt und dabei zentrale Impulse gesetzt. Die heutige Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung muss sich fragen lassen, ob gewisse Misserfolge mit ihrer anhaltenden Visionslosigkeit und dem Fehlen von radikal humanistischen Zielvorstellungen zu tun haben. Als Symptom sei festgehalten, dass Otto Bauer mehr als 4000 Zeitungsartikel verfasst hat, er schrieb zahlreiche Bücher und Broschüren („Der Weg zum Sozialismus“), war der Autor des sozialdemokratischen Agrarprogramms „Der Kampf um Wald und Weide“ und des Linzer Parteiprogramms 1926. Auch in der Sozialistischen Internationale spielte er eine wesentliche Rolle. Es ist bezeichnend, dass die gute alte sozialistische bzw linke Kultur zu den drängenden Fragen der Zeit und über den Weg in eine andere Gesellschaft Texte zu verfassen, weitgehend verschwunden ist. Mag sein, dass der theoretische und in der Folge der politische Verfall der europäischen Linken auch damit zusammenhängt.

Wegen der Radikalität und Emotionalität des hier neu abgedruckten Textes wird Otto Bauer nicht ganz zu Unrecht als gespaltene Persönlichkeit angesehen. Bauer gilt vielen als weltfremder Gelehrter, „der mit radikaler Sprache (Linzer Programm) die Menschen aufgepeitscht habe, um sie dann in entscheidenden politischen Situationen unentschlossen im Stich zu lassen“. Das schmälert aber seine intellektuelle Strahlkraft in keiner Weise.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass bis 1980 im Europa Verlag eine Gesamtausgabe (9 Bände) der Schriften von Otto Bauer erschienen ist. Leider ist 376 diese Edition vergriffen. Vielleicht kann man aus Anlass des Erscheinens des hier besprochenen Buches darauf hoffen, dass alle Texte von Otto Bauer den interessierten LeserInnen und dem politischen Diskurs wieder zugänglich gemacht werden.