18Altes und Neues zum Kopftuch am Arbeitsplatz
Altes und Neues zum Kopftuch am Arbeitsplatz
Art 1 und Art 2 Abs 2 Buchst a der RL 2000/78/EG sind dahin auszulegen, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die den AN das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber AN, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung iS dieser Richtlinie darstellt, sofern diese Regel allgemein und unterschiedslos angewandt wird.
Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer Unternehmensregel ergibt, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit der Umsetzung einer Neutralitätspolitik gegenüber Kunden oder Nutzern gerechtfertigt werden kann, sofern erstens diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des AG entspricht, das der AG unter Berücksichtigung insb der berechtigten Erwartungen dieser Kunden oder Nutzer und der nachteiligen Konsequenzen konkret nachzuweisen hat, zweitens die Ungleichbehandlung geeignet ist, die ordnungsgemäße Anwendung des Neutralitätsgebots zu gewährleisten, und drittens das Verbot auf das beschränkt ist, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen unbedingt erforderlich ist.
Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die es verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen zu tragen, um eine Neutralitätspolitik in diesem Unternehmen sicherzustellen, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn dieses Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasst. Ein auf das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen beschränktes Verbot kann eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellen, die jedenfalls auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht gerechtfertigt sein kann.
Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 ist dahin auszulegen, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften iS von Art 8 Abs 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen.
22 WABE betreibt eine große Anzahl von Kindertagesstätten in Deutschland, die mehr als 600 AN beschäftigen und etwa 3.500 Kinder aufnehmen. Der Verein erklärt, überparteilich und überkonfessionell zu sein.
[...]
24 IX ist Heilerziehungspflegerin und seit dem Jahr 2014 bei WABE beschäftigt. Sie entschied sich Anfang 2016, das islamische Kopftuch zu tragen. Vom 15.10.2016 bis 30.5.2018 war sie in Elternzeit.
25 Im März 2018 erließ WABE die „Dienstanweisung zur Einhaltung des Neutralitätsgebots“, die in seinen Einrichtungen zur Anwendung kommen sollte. Von dieser Dienstanweisung nahm IX am 31.5.2018 Kenntnis. Laut dieser Dienstanweisung „ist [WABE] überkonfessionell und begrüßt ausdrücklich die Religions- und Kulturvielfalt. Um eine individuelle und freie Entwicklung der Kinder im Hinblick auf Religion, Weltanschauung und Politik zu gewährleisten, sind die Mitarbeiter ... dazu angehalten, das geltende Neutralitätsgebot gegenüber Eltern, Kindern und anderen Dritten strikt einzuhalten. [WABE] verfolgt diesen gegenüber eine Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität“
. Für die Beschäftigten von WABE in der Unternehmenszentrale gelten die Vorgaben des Neutralitätsgebots – mit Ausnahme der pädagogischen Fachberatung – nicht, da diese keinen Kundenkontakt haben. [...]
27 Am 1.6.2018 erschien IX an ihrem Arbeitsplatz mit einem islamischen Kopftuch. Da sie es ablehnte, dieses Kopftuch abzunehmen, wurde sie von der Leiterin der Einrichtung vorerst von der Arbeit freigestellt.
28 Am 4.6.2018 erschien IX erneut mit einem islamischen Kopftuch bekleidet an ihrem Arbeitsplatz. Ihr wurde eine auf dasselbe Datum datierte Abmahnung übergeben, mit der sie für das Tragen des Kopftuchs am 1.6.2018 abgemahnt und mit Hinweis auf das Neutralitätsgebot aufgefordert wurde, ihre Arbeit zukünftig ohne Kopftuch zu verrichten. Da sich IX erneut weigerte, dieses Kopftuch abzulegen, wurde sie nach Hause geschickt und vorerst freigestellt. Sie erhielt eine weitere Abmahnung vom selben Tage.
29 Im gleichen Zeitraum erwirkte WABE im Fall einer Mitarbeiterin, die ein Kreuz als Halskette trug, dass diese ihre Kette ablegte.
30 IX erhob beim vorlegenden Gericht Klage mit dem Antrag, WABE zu verurteilen, die Abmahnungen wegen des Tragens des islamischen Kopftuchs aus ihrer Personalakte zu entfernen. [...]
34 Vor diesem Hintergrund hat das Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Benachteiligt eine einseitige Weisung des AG, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen 314 verbietet, Beschäftigte, die aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, iS von Art 2 Abs 1 und 2 Buchst a der RL 2000/78 unmittelbar wegen ihrer Religion?
2. Benachteiligt eine einseitige Weisung des AG, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verbietet, eine AN, die wegen ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch trägt, iS von Art 2 Abs 1 und 2 Buchst b der RL 2000/78 mittelbar wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts?
Insb:
Kann nach der RL 2000/78 eine mittelbare Benachteiligung wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts auch dann mit dem subjektiven Wunsch des AG, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu verfolgen, gerechtfertigt werden, wenn der AG damit den subjektiven Wünschen seiner Kund*innen entsprechen möchte?
Stehen die RL 2000/78 und/oder das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit nach Art 16 der Charta angesichts Art 8 Abs 1 der RL 2000/78 einer nationalen Regelung entgegen, nach der zum Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit ein Verbot religiöser Bekleidung nicht schon aufgrund einer abstrakten Eignung zur Gefährdung der Neutralität des AG, sondern nur aufgrund einer hinreichend konkreten Gefahr, insb eines konkret drohenden wirtschaftlichen Nachteils für den AG oder einen betroffenen Dritten gerechtfertigt werden kann?
35 MJ ist seit 2002 als Verkaufsberaterin und Kassiererin bei einer der Filialen von MHbeschäftigt. Seit 2014 trägt sie ein islamisches Kopftuch. Da sie der Aufforderung von MH, das Kopftuch an ihrem Arbeitsplatz abzulegen, nicht nachkam, wurde ihr eine andere Stelle zugewiesen, die es ihr erlaubte, das Kopftuch zu tragen. Im Juni 2016 forderte MH sie erneut auf, das Kopftuch abzulegen. Nachdem MJ sich weigerte, dieser Aufforderung nachzukommen, wurde sie nach Hause geschickt. Im Juli 2016 erhielt sie von MH die Weisung, ohne auffällige großflächige Zeichen religiöser, politischer oder weltanschaulicher Überzeugungen an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen.
36 MJ erhob vor den nationalen Gerichten Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der fraglichen Weisung sowie auf Ersatz des erlittenen Schadens.
[...]
37 Nachdem die vorinstanzlichen Gerichte der Klage von MJ stattgegeben hatten, legte MH Revision zum Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ein; dabei brachte sie ebenfalls vor, dass sich aus dem Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions (C-157/15, EU:C:2017:203), ergebe, dass es für die wirksame Anwendung eines Bekundungsverbots nicht erforderlich sei, den Eintritt eines konkreten wirtschaftlichen Nachteils oder das Ausbleiben von Kunden darzutun. So habe der Gerichtshof der durch Art 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit größeres Gewicht beigemessen als der Religionsfreiheit. Ein abweichendes Ergebnis könne durch nationale Grundrechte nicht gerechtfertigt werden. [...]
42 Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Kann eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion iS von Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens nur dann angemessen sein, wenn nach dieser Regel das Tragen jeglicher sichtbarer und nicht nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verboten ist?
2. Sofern die erste Frage verneint wird:
Ist Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 dahin auszulegen, dass die Rechte aus Art 10 der Charta und Art 9 EMRK in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?
Ist Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 dahin auszulegen, dass nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, als günstigere Vorschriften iS von Art 8 Abs 1 der RL 2000/78 in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet?
3. Sofern die zweite Frage Buchst a und die zweite Frage Buchst b verneint werden:
Müssen nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, in der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, wegen primären Unionsrechts unangewendet bleiben, auch wenn primäres Unionsrecht, wie zB Art 16 der Charta, einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkennt?
Zur ersten Frage in der Rs C-804/18
46 Das Tragen von Zeichen oder Kleidung zur Bekundung der eigenen Religion oder Überzeugung fällt unter die „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, die durch Art 10 der Charta geschützt ist. Es ist nicht die Sache des Gerichtshofs, eine Beurteilung des Inhalts der religiösen Gebote selbst vorzunehmen. [...]
48 Hinzuzufügen ist auch, dass das in Art 10 Abs 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, das integraler Bestandteil des für die Auslegung der RL 2000/78 maßgeblichen Kontexts ist, dem in Art 9 EMRK garantierten 315 Recht entspricht und nach Art 52 Abs 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat wie dieses (Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn 27). Nach der Rsp des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) stellt das in Art 9 EMRK verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit „einen der Grundpfeiler einer ‚demokratischen Gesellschaft‘ im Sinne [dieser Konvention] dar und bildet in seiner religiösen Dimension eines der lebenswichtigen Elemente, die die Identität der Gläubigen und ihre Lebensauffassung mitformen“
, sowie „ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige“ und trägt bei zum „Pluralismus, der – im Lauf der Jahrhunderte teuer erkämpft – für die demokratische Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist“
(EGMR 15.2.2001, Dahlab/Schweiz, CE:ECHR:2001:0215DEC004239398).
49 Im Übrigen ergibt sich aus der Rsp des Gerichtshofs, dass mit der Bezugnahme auf – zum einen – die Diskriminierung „wegen“ eines der in Art 1 der RL 2000/78 genannten Gründe und – zum anderen – eine weniger günstige Behandlung „wegen“ eines dieser Gründe sowie mit den Begrifflichkeiten „andere Person“ und „andere Personen“ der Wortlaut und der Kontext von Art 2 Abs 1 und 2 dieser Richtlinie nicht den Schluss zulassen, dass mit Blick auf den in ihrem Art 1 genannten geschützten Grund der Religion oder der Weltanschauung das von der Richtlinie vorgesehene Diskriminierungsverbot allein auf Ungleichbehandlungen beschränkt wäre, die zwischen Personen, die einer Religion oder Weltanschauung anhängen, und Personen, die nicht einer Religion oder Weltanschauung anhängen, bestehen. Aus dem Ausdruck „wegen“ ergibt sich demgegenüber, dass eine Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung iSd RL 2000/78 nur dann festgestellt werden kann, wenn die fragliche weniger günstige Behandlung oder besondere Benachteiligung in Abhängigkeit von der Religion oder der Weltanschauung erfahren wird (vgl in diesem Sinne Urteil vom 26.1.2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Ba binskiego Samodzielny Publiczny Zaklad Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn 29). [...]
52 Was insb die Frage betrifft, ob eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung iS von Art 2 Abs 2 Buchst a der RL 2000/78 begründet, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine solche Regel keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, da sie unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt und alle AN des Unternehmens gleich behandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert ua vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt (Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn 30 und 32). Da nämlich jede Person eine Religion oder eine Weltanschauung haben kann, begründet eine solche Regel, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird, keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist (vgl entsprechend zur Diskriminierung wegen einer Behinderung Urteil vom 26.1.2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babinskiego Samodzielny Publiczny Zaklad Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn 44 und die dort angeführte Rsp). [...]
54 Da sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass WABE auch im Fall einer AN, die ein religiöses Kreuz trug, verlangt und erwirkt hat, dass sie dieses Zeichen ablegt, scheint die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel prima facie ohne jede Differenzierung gegenüber allen anderen AN von WABE auf IX angewandt worden zu sein, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass IX eine unmittelbar auf ihren religiösen Überzeugungen beruhende Ungleichbehandlung iS von Art 2 Abs 2 Buchst a der RL 2000/78 erfahren hat. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, die erforderlichen Tatsachenwürdigungen vorzunehmen und festzustellen, ob die von WABE erlassene interne Regelung allgemein und unterschiedslos auf alle AN dieses Unternehmens angewandt wurde. [...]
Zur zweiten Frage Buchst a in der Rs C-804/18 [...]
58 Vorab ist zu dem in dieser Frage angesprochenen Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts festzustellen, dass dieser Diskriminierungsgrund, wie der Generalanwalt in Nr 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht in den Anwendungsbereich der RL 2000/78, des einzigen in dieser Frage herangezogenen Unionsrechtsakts, fällt. Das Vorliegen einer solchen Diskriminierung braucht daher nicht geprüft zu werden.
59 Was die Frage der mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung iS von Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Ungleichbehandlung vorliegt, wenn die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die eine Regel enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden (Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn 34). Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen, doch ist darauf hinzuweisen, dass die in der Rs C-804/18 in Rede stehende Regel nach dessen Feststellungen statistisch fast ausschließlich weibliche AN betrifft, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch tragen, so dass der Gerichtshof von der Prämisse ausgeht, dass diese Regelung eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung darstellt.
60 Zu der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung mit dem Willen des AG gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu verfolgen, um den Erwartungen seiner 316 Kunden oder Nutzer Rechnung zu tragen, ist festzustellen, dass nach Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 eine solche Ungleichbehandlung verboten ist, es sei denn, die Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, aus denen sie sich ergibt, sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich. Eine Ungleichbehandlung wie die in Frage 2 Buchst a in der Rs C-804/18 angesprochene führt daher nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung iS von Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind (vgl in diesem Sinne Urteil vom 14.3.2017, Bougnaoui und ADDH, C-188/15, EU:C:2017:204, Rn 33).
61 Was die Begriffe des rechtmäßigen Ziels und der Angemessenheit und Erforderlichkeit der zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel anbelangt, so ist klarzustellen, dass diese eng auszulegen sind (vgl in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 16.7.2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C-83/14, EU:C:2015:480, Rn 112).
62 Die RL 2000/78 konkretisiert nämlich in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot (Urteil vom 26.1.2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babinskiego Samodzielny Publiczny Zaklad Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn 33). Im vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird darauf hingewiesen, dass die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ein in mehreren internationalen Übereinkünften anerkanntes allgemeines Menschenrecht ist, und aus den Erwägungsgründen 11 und 12 der Richtlinie geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgehen wollte, dass zum einen Diskriminierungen wegen ua der Religion oder der Weltanschauung die Verwirklichung der im AEU-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren können, insb die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie das Ziel der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und zum anderen jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen in der Union untersagt werden sollte.
63 Was insoweit die Voraussetzung des Vorliegens eines rechtmäßigen Ziels angeht, so kann der Wille eines AG, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, als rechtmäßig angesehen werden. Der Wunsch eines AG, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art 16 der Charta anerkannt ist, und ist grundsätzlich rechtmäßig, insb dann, wenn der AG bei der Verfolgung dieses Ziels nur die AN einbezieht, die mit seinen Kunden in Kontakt treten sollen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn 37 und 38).
64 Allerdings reicht der bloße Wille eines AG, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, für sich genommen nicht aus, um eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung sachlich zu rechtfertigen, da eine sachliche Rechtfertigung nur bei Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses dieses AG festgestellt werden kann, das er nachzuweisen hat.
65 Unter diesen Umständen können für den Nachweis einer sachlichen Rechtfertigung und mithin eines wirklichen Bedürfnisses des AG als Erstes insb die Rechte und berechtigten Erwartungen der Kunden oder der Nutzer berücksichtigt werden. Dies gilt beispielsweise für das in Art 14 der Charta anerkannte Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, und für ihren Wunsch, dass ihre Kinder von Personen beaufsichtigt werden, die im Kontakt mit den Kindern nicht ihre Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck bringen, um insb eine „individuelle und freie Entwicklung der Kinder im Hinblick auf Religion, Weltanschauung und Politik zu gewährleisten“, wie es in der Dienstanweisung von WABE vorgesehen ist.
66 Solche Situationen sind hingegen ua zu unterscheiden von zum einen der Rechtssache, in der das Urteil vom 14.3.2017, Bougnaoui und ADDH (C-188/15, EU:C:2017:204), ergangen ist, in der die Kündigung einer AN infolge einer Beschwerde eines Kunden erfolgt war und in der es keine interne Regel des Unternehmens gab, die das Tragen jeglichen sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verboten hätte, sowie zum anderen der Rechtssache, in der das Urteil vom 10.7.2008, Feryn (C-54/07, EU:C:2008:397), ergangen ist, die eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft betraf, die ihren Ursprung angeblich in diskriminierenden Forderungen der Kunden hatte.
67 Als Zweites ist es für die Beurteilung, ob ein wirkliches Bedürfnis des AG iS von Rn 64 des vorliegenden Urteils besteht, von besonderer Bedeutung, dass der AG nachgewiesen hat, dass ohne eine solche Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität seine in Art 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit beeinträchtigt würde, da er angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem diese ausgeübt wird, nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte.
68 Wie in Rn 60 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, muss eine interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, um nicht als mittelbare Diskriminierung eingestuft zu werden, ferner zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung der Neutralitätspolitik des AG geeignet sein, was voraussetzt, dass diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird, und muss das Verbot, jedes sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher 317 und religiöser Überzeugungen zu tragen, das diese Regel mit sich bringt, auf das unbedingt Erforderliche beschränkt sein (vgl in diesem Sinne Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn 40 und 42).
69 Das letztgenannte Erfordernis setzt insb die Prüfung voraus, ob eine Beschränkung der in Art 10 Abs 1 der Charta garantierten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie die, die mit dem für einen AN geltenden Verbot einhergeht, an seinem Arbeitsplatz ein Gebot zu befolgen, das es ihm vorschreibt, ein sichtbares Zeichen seiner religiösen Überzeugungen zu tragen, im Hinblick auf die nachteiligen Konsequenzen, denen der AG durch dieses Verbot zu entgehen sucht, als unbedingt erforderlich erscheint. [...]
Zur ersten Frage in der Rs C-341/19 [...]
72 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass diese Frage zwar auf der Prämisse des Vorliegens einer mittelbaren Diskriminierung beruht, dass aber, wie insb die Europäische Kommission in ihren in der Rs C-341/19 eingereichten Erklärungen geltend gemacht hat, eine interne Regel eines Unternehmens, die, wie die in dieser Rechtssache in Rede stehende, nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen verbietet, geeignet ist, Personen, die religiösen oder weltanschaulichen Strömungen anhängen, die das Tragen eines großen Kleidungsstücks oder Zeichens, wie beispielsweise einer Kopfbedeckung, vorsehen, stärker zu beeinträchtigen.
73 Wie in Rn 52 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist eine Ungleichbehandlung, die sich aus einer Vorschrift oder einer Praxis ergibt, die auf einem Kriterium beruht, das mit dem geschützten Grund – hier der Religion oder der Weltanschauung – untrennbar verbunden ist, als unmittelbar auf diesen Grund gestützt anzusehen. So wird in den Fällen, in denen das Kriterium des Tragens auffälliger großflächiger Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen mit einer oder mehreren bestimmten Religion(en) oder Weltanschauung(en) untrennbar verbunden ist, das von einem AG seinen AN auf der Grundlage eines solchen Kriteriums auferlegte Verbot, diese Zeichen zu tragen, zur Folge haben, dass einige AN wegen ihrer Religion oder Weltanschauung weniger günstig behandelt werden als andere, so dass eine unmittelbare Diskriminierung iS von Art 2 Abs 2 Buchst a der RL 2000/78 wird festgestellt werden können.
74 Für den Fall, dass eine solche unmittelbare Diskriminierung gleichwohl nicht festgestellt werden sollte, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i dieser Richtlinie eine Ungleichbehandlung wie die vom vorlegenden Gericht angeführte, dann, wenn erwiesen wäre, dass sie tatsächlich zu einer besonderen Benachteiligung der Personen führt, die einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen, wie bereits in Rn 60 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine mittelbare Diskriminierung iS von Art 2 Abs 2 Buchst b dieser Richtlinie darstellen würde, es sei denn, sie wäre durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels wären angemessen und erforderlich. [...]
76 Wie in Rn 63 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, kann eine Neutralitätspolitik ein rechtmäßiges Ziel iS von Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 darstellen. Um festzustellen, ob diese Politik eine Ungleichbehandlung, die mittelbar auf der Religion oder Weltanschauung beruht, sachlich rechtfertigen kann, ist, wie sich aus Rn 64 des vorliegenden Urteils ergibt, zu prüfen, ob sie einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens entspricht. Hierzu ist festzustellen, dass sowohl die Verhinderung sozialer Konflikte als auch ein neutrales Auftreten des AG gegenüber den Kunden einem wirklichen Bedürfnis des AG entsprechen können, das er nachzuweisen hat. Im Einklang mit den Ausführungen in den Rn 68 und 69 des vorliegenden Urteils ist allerdings weiter zu prüfen, ob die interne Regel, nach der das Tragen jedes auffälligen großflächigen Zeichens politischer, weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen verboten ist, geeignet ist, das verfolgte Ziel zu erreichen, und ob sich dieses Verbot auf das unbedingt Erforderliche beschränkt.
77 Insoweit ist klarzustellen, dass eine Politik der Neutralität im Unternehmen wie die in der ersten Frage in der Rs C-341/19 angesprochene nur dann wirksam verfolgt werden kann, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt sind, wenn die AN mit Kunden oder untereinander in Kontakt stehen, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Maßnahme zur Erreichung des angeblich verfolgten Ziels beeinträchtigt und damit die Kohärenz dieser Politik der Neutralität selbst in Frage stellt. [...]
Zur zweiten Frage Buchst b in der Rs C-804/18 und zur zweiten Frage Buchst b in der Rs C-341/19 [...]
81 Was als Erstes die Frage betrifft, ob im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit iS von Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 der zur Sicherstellung der Anwendung einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität getroffenen Maßnahme die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen sind, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass, wie der Gerichtshof bei der Auslegung des Begriffs „Religion“ iS von Art 1 der RL 2000/78 festgestellt hat, der Unionsgesetzgeber im ersten Erwägungsgrund dieser Richtlinie auf die Grundrechte Bezug genommen hat, wie sie in der EMRK gewährleistet sind. Die EMRK sieht in ihrem Art 9 vor, dass jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, wobei dieses Recht ua die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Der Unionsgesetzgeber hat im ersten Erwägungsgrund der RL 2000/78 außerdem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Bezug genommen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta 318 bekräftigt wurden, gehört das in Art 10 Abs 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. [...]
82 Mithin sind bei der Prüfung, ob die Beschränkung, die sich aus einer Maßnahme zur Gewährleistung einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität ergibt, iS von Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 angemessen ist, die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen.
83 Sodann hat der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit eines Verbots, das dem in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden ähnlich war, bereits entschieden, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, in Anbetracht aller sich aus den betreffenden Akten ergebenden Umstände den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen „der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche“ zu begrenzen (Urteil vom 14.3.2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn 43). Da es in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, nur um die in Art 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit ging, ist festzustellen, dass die andere Freiheit, auf die der Gerichtshof in dem Urteil Bezug genommen hat, die in dessen Rn 39 angesprochene Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit war.
84 Schließlich ist festzustellen, dass diese Auslegung der RL 2000/78 mit der Rsp des Gerichtshofs in Einklang steht, da sie es erlaubt, zu gewährleisten, dass dann, wenn mehrere in den Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze in Rede stehen, wie beispielsweise im vorliegenden Fall zum einen der in Art 21 der Charta verankerte Grundsatz der Nichtdiskriminierung und das in Art 10 der Charta verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie zum anderen das in Art 14 Abs 3 der Charta anerkannte Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, und die in Art 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit, bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl in diesem Sinne Urteil vom 17.12.2020, Centraal Israëlitisch Consis torie van België ua, C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn 65 und die dort angeführte Rsp). [...]
86 Was als Zweites die Frage betrifft, ob eine nationale Vorschrift über die Religions- und Gewissensfreiheit als eine für den Schutz des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstigere nationale Vorschrift iS von Art 8 Abs 1 der RL 2000/78 angesehen werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass die RL 2000/78, wie sich aus ihrem Titel ergibt, einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festlegt, der den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vielfalt der von diesen verfolgten Ansätze in Bezug auf den Platz, den sie in ihrem Inneren der Religion oder den Überzeugungen einräumen, einen Wertungsspielraum lässt. Der den Mitgliedstaaten damit zuerkannte Wertungsspielraum bei fehlendem Konsens auf Unionsebene muss jedoch mit einer Kontrolle einhergehen, die Sache des Unionsrichters ist und die insb darin besteht, zu prüfen, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sind und ob sie verhältnismäßig sind (vgl in diesem Sinne Urteil vom 17.12.2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België ua, C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn 67). [...]
Auch in dieser Entscheidung des EuGH wird deutlich, dass die Qualifikation als mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung an ihre dogmatischen Grenzen stoßen kann und diese Unterscheidung 319 für bestimmte Fälle schlichtweg nicht geeignet ist – was natürlich insofern problematisch ist, als daran ein unterschiedlicher Rechtfertigungsmaßstab knüpft. Auf den ersten Blick ist das Ergebnis des EuGH jedenfalls eindeutig: Verbietet ein Unternehmen „einheitlich und unterschiedslos“ allen Arbeitnehmer:innen das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz, liegt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung vor. Insofern setzt der EuGH die Rsp-Linie der Rs G4S Secure Solutions NV fort. Wird jedoch nur das Tragen großflächiger Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verboten, kann dies nach Ansicht des EuGH dagegen sogar eine unmittelbare Diskriminierung darstellen (Urteil Rz 73). Daraus kann abgeleitet werden, dass eine „Neutralitätspolitik“ in einem Unternehmen generell zu formulieren ist und in Hinblick auf die Qualität der Zeichen, Symbole oder Kleidungsstücke nicht weiter ausdifferenziert werden darf, weil damit das hohe Risiko einer (grundsätzlich nicht rechtfertigbaren) unmittelbaren Diskriminierung einhergeht. Das führt zu dem eher unbefriedigenden Ergebnis, dass es aus antidiskriminierungsrechtlichen Gründen für Arbeitgeber:innen daher zweckmäßiger wäre, iS einer Neutralitätspolitik gleich „alles“ zu verbieten anstelle der Einführung einer differenzierten Regelung. Wenn man dies aus dem Blickwinkel der bei einer mittelbaren Benachteiligung durchzuführenden Rechtfertigungsprüfung betrachtet, würde eine generelle undifferenzierte Regelung üblicherweise an der Verhältnismäßigkeit scheitern. Mit der Qualifikation als unmittelbare Diskriminierung stellt sich dieses Problem aber nicht.
Der EuGH hat in der Rs Achbita (EuGH 14.3.2017, C-157/15) sein Augenmerk noch verstärkt darauf gelegt, dass das unternehmensinterne Verbot des Tragens sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt und daher nach dieser Regel alle Arbeitnehmer:innen des Unternehmens gleich behandelt werden. Nunmehr bringt der EuGH eine neue Ebene in die Beurteilung ein, mit der er das Vorliegen einer Ungleichbehandlung zusätzlich verneint: Eine Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung könne nur dann festgestellt werden, wenn die fragliche weniger günstige Behandlung oder besondere Benachteiligung in Abhängigkeit von der Religion oder der Weltanschauung erfahren wird. Die Unterscheidung müsse daher auf einem Kriterium beruhen, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist.
Da aber nach Ansicht des EuGH „jede Person eine Religion oder eine Weltanschauung haben kann“(!), begründet ein allgemein und unterschiedslos angewandtes Verbot keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist (Urteil Rz 52). In diesem Sinn hat der EuGH bereits in der Rs Szpital Kliniczny (C-16/19 vom 26.1.2021) entschieden, wonach es ausreicht, wenn eine fragliche weniger günstige Behandlung oder besondere Benachteiligung in Abhängigkeit von dem Diskriminierungsmerkmal (in diesem Fall Behinderung) erfahren wird. Die Vergleichsgruppenbildung ist daher nicht darauf beschränkt, dass man die Gruppe jener, die das Diskriminierungsmerkmal aufweisen, jener Gruppe gegenüberstellt, die das Diskriminierungsmerkmal nicht aufweisen. Eine unmittelbare Diskriminierung kann daher auch zwischen zwei Gruppen von Merkmalsträger:innen vorliegen, die nur unterschiedlich von einer Maßnahme betroffen sind – sofern dies auf das Diskriminierungsmerkmal zurückzuführen ist (vgl dazu auch Schlachter, Kopftücher und Neutralitätsanordnung – die Religionsfreiheit im Diskriminierungsrecht, ZESAR 11/12 2021, 477; Klus, Intersektionelle Diskriminierung im Kontext des Antidiskriminierungsrechts, EuZA 2022, 78 ff).
Überzeugend ist diese Begründung für den vorliegenden Fall aber nicht, insb wenn man auch die Ausführungen zum Fall Müller betrachtet (ebenfalls krit Walter/Tremml, Die neue Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Religionsfreiheit in privaten Arbeitsverhältnissen, NZA 2021, 1454): Der EuGH scheint über die Vergleichsgruppenbildung, die notwendig ist, um eine Benachteiligung festzustellen, auch den Konnex einer Maßnahme zum Diskriminierungsmerkmal herzustellen (bzw hier konkret eigentlich: auszuschließen). Der schon erwähnte, verblüffend lapidare Hinweis des EuGH, dass jede Person eine Religion oder eine Weltanschauung haben kann, zeigt wiederum das Problem der Vergleichsgruppenbildung auf: Da die Regelung für alle gilt, gibt es keine Vergleichsgruppe, die besser behandelt wird, daher kann es auch keine Benachteiligung sein. Eine Differenzierung wie in der Rs Szpital Kliniczny nimmt der EuGH nicht vor. Der EuGH betont zwar, dass der Begriff „Religion“ auch die öffentliche Äußerung des religiösen Glaubens mitumfasst, weshalb aber dann ein generelles Verbot, das direkt an das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Zeichen anknüpft (die unzweifelhaft in den Schutzbereich des Diskriminierungsverbots fallen), keinen unmittelbaren Bezug zum geschützten Kriterium Religion und Weltanschauung hat, erschließt sich nicht. Überspitzt formuliert, weist das ausdrückliche Verbot von religiösen oder weltanschaulichen Zeichen (und Praktiken) somit für den EuGH zu wenig Anknüpfungspunkte mit den Diskriminierungsmerkmalen Religion oder Weltanschauung auf. Daher geht der EuGH im Ergebnis im Fall WABEvon einer bloß mittelbaren Diskriminierung aus. Es ist aber fraglich, ob hier iSd Richtliniendefinition der mittelbaren Diskriminierung tatsächlich von einer dem Anschein nach neutralen Vorschrift, einem Kriterium oder Verfahren gesprochen werden kann. Die Ansicht des EuGH blendet aus, dass das Verbot selbst direkt an Religion und Weltanschauung anknüpft und somit auch an sich bereits eine Benachteiligung darstellen könnte. Auch die Entscheidung des Unternehmens, eine Neutralitätspolitik zu verfolgen, muss dem Antidiskriminierungsrecht standhalten (Potz, Die Gretchenfrage 320 an Unternehmen: Wie hast du‘s mit religiösen und weltanschaulichen Zeichen und Kleidungsstücken am Arbeitsplatz? JAS 2017, 261).
Im Fall Müller geht der EuGH (im Gegensatz zum vorlegenden BAG) mit demselben Begründungsansatz primär von einer unmittelbaren Diskriminierung aus, obwohl seine Ausführungen (nämlich die Eignung stärker zu beeinträchtigen) auf eine mittelbare Diskriminierung hindeutet. Es erscheint wenig sinnvoll, für die Abgrenzung zwischen einer unmittelbaren und einer mittelbaren Diskriminierung an der Größe eines Zeichens oder Kleidungsstückes anzuknüpfen bzw daraus das Vorliegen eines unmittelbaren Zusammenhangs mit dem Diskriminierungsmerkmal abzuleiten. Wenn das Tragen eines Zeichens oder Kleidungsstücks als religiös verpflichtend empfunden wird, dann sind sie untrennbar mit der Religion verbunden, unabhängig von der Größe (vgl auch Classen, Anmerkung, JZ 2021, 906). Schlachter weist in diesem Kontext aber darauf hin, dass die Formulierung, wonach das Tragen „auffälliger großflächiger Zeichen“ verboten ist, bereits speziell auf islamische Kopftücher zugeschnitten sein kann und diese daher der eigentlich gemeinte Verbotsinhalt sein könnten (Kopftücher und Neutralitätsanordnung – die Religionsfreiheit im Diskriminierungsrecht, ZESAR 11/12 2021, 479). Ob der EuGH in diese Richtung argumentieren wollte, ist aber nicht eindeutig.
Der EuGH bestätigt zwar seine bisherige Rsp, wonach ein generelles und unterschiedslos angewandtes Verbot des Tragens von religiösen, politischen oder weltanschaulichen Zeichen am Arbeitsplatz keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, schärft aber dafür bei der Rechtfertigung der mittelbaren Diskriminierung nach (siehe auch Walter/ Tremml, Die neue Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Religionsfreiheit in privaten Arbeitsverhältnissen, NZA 2021, 1453). In der Rs G4S Secure Solutions NV hat der EuGH noch den Eindruck vermittelt, dass der Wunsch eines Unternehmens, Kunden und Kundinnen ein Bild der Neutralität zu vermitteln, als Ausdruck der in Art 16 GRC geschützten unternehmerischen Freiheit grundsätzlich rechtmäßig sei (Urteil Rz 38). Nunmehr stellt der EuGH klar, dass der bloße Wille des Unternehmens, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, nicht mehr als Rechtfertigung für eine mittelbare Diskriminierung ausreicht. Unternehmen müssen vielmehr nachweisen, dass ein „wirkliches Bedürfnis“ an der Einführung einer Neutralitätspolitik besteht. Der Neutralitätspolitik als Selbstzweck hat der EuGH damit eine klare Absage erteilt (vgl Potz, Die Gretchenfrage an Unternehmen: Wie hast du‘s mit religiösen und weltanschaulichen Zeichen und Kleidungsstücken am Arbeitsplatz? JAS 2017, 264).
Sowohl Kundenwünsche als auch die Vermeidung von sozialen Konflikten kommen grundsätzlich für den vom Unternehmen zu erbringenden Nachweis eines wirklichen Bedürfnisses in Frage. Nach dem EuGH reichen beliebige Kundenwünsche (wie etwa in der Rs Bougnanoui) aber nicht aus, sondern es kommen nur Rechte und berechtigte (!) Erwartungen von der Kundschaft oder Nutzer:innen in Frage, die vom Unternehmen konkret nachzuweisen sind. Allgemeine diskriminierende Kundenwünsche scheiden daher als Rechtfertigung aus. Im Fall WABE verweist der EuGH auf das ebenfalls grundrechtlich abgesicherte Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihre eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen zu respektieren. Zusätzlich verlangt der EuGH aber auch, dass das Unternehmen nachweisen muss, dass es ohne eine solche Neutralitätspolitik nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte. Dieser Zwischenschritt ist ebenfalls neu und schiebt prophylaktischen Verboten von religiösen Kleidungsstücken am Arbeitsplatz wohl einen Riegel vor. Daran schließt der EuGH als dritten Prüfschritt die Verhältnismäßigkeitsprüfung an: Hier fällt auf, dass der EuGH nunmehr ausdrücklich betont, dass bei der Frage, ob das Verbot „auf das unbedingt Erforderliche beschränkt“ ist, jedenfalls zu prüfen ist, ob eine Beschränkung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit miteinhergeht. Damit wird der Religionsfreiheit explizit mehr Raum in der Verhältnismäßigkeitsprüfung gegeben als es etwa noch in der Rs G4S Secure Solutions NV der Fall war.
Es ist fraglich, ob in beiden Fällen die Unternehmen diese Hürde der Rechtfertigung nehmen können: Beim Fall WABE hilft es natürlich, dass das Recht auf Erziehung auf Kund:innenseite angeführt werden kann. Inwiefern es aber insb der Kohärenzprüfung standhält, ist zweifelhaft. Es darf nicht übersehen werden, dass der Verein WABE einer öffentlichen Bildungsempfehlung folgt, wonach „alle Kindertageseinrichtungen ... die Aufgabe [haben], grundsätzliche ethische Fragen sowie religiöse und andere Weltanschauungen als Teil der Lebenswelt aufzugreifen und verständlich zu machen. Kitas geben daher Raum dafür, dass Kinder sich mit den Sinnfragen nach Freude und Leid, Gesundheit und Krankheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Schuld und Versagen, Frieden und Streit und mit der Frage nach Gott auseinandersetzen. [...] Auf diese Weise entwickeln sich Wertschätzung und Respekt gegenüber anderen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen. Diese Auseinandersetzung stärkt das Kind in seinem Selbstverständnis und im Erleben einer funktionierenden Gesellschaft. Hierzu gehört auch, die Kinder religiös verwurzelte Feste im Jahresablauf erleben und aktiv gestalten zu lassen. In der Begegnung mit anderen Religionen erfahren Kinder unterschiedliche Formen der Besinnlichkeit, des Glaubens und der Spiritualität“
. Ein generelles Verbot des Tragens religiöser, politischer oder weltanschaulicher Zeichen trägt zur angestrebten Vermittlung von religiöser Vielfalt und Toleranz in der Erziehung bzw Betreuung von Kindern wohl nicht bei (vgl dazu die Diskussionen um Inhalt und Umfang der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 321 bei denen eine Religion exkludierende Neutralität einer die pluralistische Gesellschaft abbildende Religion inkludierende Neutralität gegenübergestellt wird). Auch ist fraglich, ob ein solches Verbot geeignet ist, soziale Spannungen und Konflikte im Unternehmen zu vermeiden. Es ist völlig unstrittig, dass religiöse oder politische Brandreden oder sonstige konfliktschürende Aktivitäten in einem Unternehmen jederzeit untersagt werden können. Ob aber ein Verbot, bestimmte Zeichen oder Kleidungsstücke zu verbieten, solche Konflikte, die oftmals auch Überschneidungen mit der ethnischen Herkunft haben, verhindern kann, scheint eher unwahrscheinlich zu sein.
Schließlich ebnet der EuGH noch den Weg dafür, dass nationale Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit bei der Prüfung der Angemessenheit einer mittelbaren Diskriminierung Berücksichtigung zu finden haben: Der EuGH qualifiziert solche Vorschriften als eine für den Schutz des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstigere nationale Vorschrift iS von Art 8 Abs 1 der RL 2000/78. Es reicht für den EuGH demnach aus, dass die Religionsfreiheit zumindest mittelbar zum Diskriminierungsschutz beiträgt (vgl Walter/Tremml, Die neue Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Religionsfreiheit in privaten Arbeitsverhältnissen, NZA 2021, 1455 f, die hier auch von der „freiheitsrechtlichen Verstärkung des Antidiskriminierungsrechts“ sprechen).
Der EuGH hat die beiden Fälle allein unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung aufgrund der Religion und Weltanschauung geprüft. Dies ist insofern interessant, weil zumindest im Fall WABE auch der Vorwurf der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Herkunft im nationalen Verfahren erhoben wurde und das vorlegende Arbeitsgericht Hamburg den EuGH auch zur mittelbaren Diskriminierung „wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts“ fragt. Dass dieses Thema (leider) nicht weiter aufgegriffen wurde, ist wohl auf einen formalen Aspekt zurückzuführen: Das Vorlagegericht hat nur die RL 2000/78 herangezogen, welche die Diskriminierungsverbote wegen der Religion und der Weltanschauung, Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung in Beschäftigung und Beruf regelt, nicht jedoch wegen des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft. Nach stRsp ist es nämlich allein Sache des vorlegenden Gerichts, die Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts, zu denen es für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits einer Vorabentscheidung bedarf, zu bestimmen und zu formulieren (EuGH 13.12.2018, C-412/17 und C-474/17, Touring Tours und Travel und Sociedad de transportes, Rz 39). Hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass es die Vorlage einer Frage nicht für erforderlich hält, ist es dem EuGH auch verwehrt, diese zu beantworten oder im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zu berücksichtigen oder den Gegenstand der Vorlagefragen zu erweitern. Der EuGH ist daher insofern an die Vorgaben des vorlegenden Gerichts gebunden. Daher ist es im Ergebnis nicht verwunderlich, dass sowohl der GA Rantos (Schlussanträge Rz 59) als auch der EuGH diesen Themenbereich formal für die Beurteilung ausblenden (krit zur Zurückhaltung des EuGH Klus, Intersektionelle Diskriminierung im Kontext des Antidiskriminierungsrechts, EuZA 2022, 83). Das Dilemma des fehlenden Verweises auf die Gleichbehandlungs- RL 2006/54/EG macht der EuGH aber dadurch bis zu einem gewissen Grad wieder wett, indem er ungeachtet seines Hinweises, das Vorliegen einer mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung nicht zu prüfen, durchaus deutliche Ausführungen zur Betroffenheit von Frauen macht: Der EuGH stellt klar, dass das Verbot des Tragens sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen „effektiv einige Religionen mehr als andere treffe und sich eher an Frauen als an Männer richte“
(Urteil Rz 59). Außerdem verweist er auf die Feststellungen im Verfahren WABE, wonach statistisch fast ausschließlich AN betroffen sind, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch tragen.
Aus praktischer Sicht wird bei diesen Fällen in aller Regel ebenfalls eine mittelbare Benachteiligung von Frauen angenommen werden können – was vom EuGH wohl zumindest indirekt auch so gesehen wird. Der Trigger zur Einführung einer allgemeinen Neutralitätspolitik in Unternehmen war und ist oftmals das Tragen des Kopftuchs von Musliminnen. Religiöse Kleidungsvorschriften für Männer (Kippa oder Sikh-Turban) spielen in der Berufswelt dagegen eine deutliche untergeordnete Rolle. Gerade auch bei den beiden betroffenen Berufsgruppen im Ausgangsverfahren (Heilerziehungspflegerin in einer Kindertagesstätte sowie Verkaufsberaterin und Kassiererin in einem Drogeriemarkt) ist davon auszugehen, dass hier überwiegend Frauen beschäftigt sind. Daher besteht für Unternehmen stets auch das Risiko einer Mehrfachdiskriminierung in der Form der sogenannten intersektionellen Diskriminierung. Da runter versteht man eine Diskriminierung, die sich gerade aus dem Zusammenwirken zweier oder mehrerer Diskriminierungsmerkmale ergibt, bei einer kopftuchtragenden Muslimin also das Diskriminierungsmerkmal Geschlecht und Religion (siehe dazu Holzleithner, Bekleidungsvorschriften und Genderperformance, Gutachten für die Gleichbehandlungskommission vom 21.10.2015, 35 ff und 48 ff, www.gleichbehandlungsanwaltschaft.at/DocView.axd?CobId=61160www.gleichbehandlungsanwaltschaft.at/DocView.axd?CobId=61160; Klus, Intersektionelle Diskriminierung im Kontext des Antidiskriminierungsrechts, EuZA 2022, 82 ff). Dies ist bei der Beurteilung, ob durch die Entscheidung des Unternehmens, eine Neutralitätspolitik zu verfolgen, eine (unmittelbare oder mittelbare) Diskriminierung vorliegt, mitzudenken (vgl Potz, Die Gretchenfrage an Unternehmen: Wie hast du‘s mit religiösen und weltanschaulichen Zeichen und Kleidungsstücken am Arbeitsplatz? JAS 2017, 261). 322
Mit der E in der Rs WABE und Müller rückt der EuGH die Religionsfreiheit im Arbeitsverhältnis in den Fokus und räumt den diesbezüglichen grundrechtlichen Wertungen – auch mit Hinweis auf die EGMR-Rsp – im Antidiskriminierungsrecht wieder mehr Platz ein. Vergleicht man die aktuellen Entscheidungen zu seiner bisherigen Rsp, fällt auf, dass der EuGH von seiner unternehmensfreundlichen Rsp etwas abgerückt ist und die Hürden für Unternehmen, eine allgemeine Neutralitätspolitik einzuführen, verschärft hat, was durchaus begrüßenswert ist. Für die Praxis lässt sich aus dieser E ein strengerer Prüfmaßstab für Unternehmen ableiten, die ein Verbot des Tragens von religiösen Kleidungsstücken am Arbeitsplatz einführen wollen. Auch wenn im Ergebnis dem EuGH zuzustimmen ist, ist sein Weg dorthin allerdings zu hinterfragen – gerade bei der Unterscheidung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung bestehen dogmatische Unschärfen, zu deren Beseitigung diese E nicht beiträgt, sondern sie noch verstärkt.