Candeias (Hrsg)Klassentheorie – Vom Making und Remaking

Argument Verlag, Hamburg 2021 560 Seiten, broschiert, € 20,56

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Der Herausgeber dieses verdienstvollen, sich durch eine hervorragende Auswahl von Beiträgen zum Thema Klassentheorie auszeichnenden und dazu noch recht preiswerten Sammelbandes, Mario Candeias, seit 2013 Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa- Luxemburg-Stiftung in Berlin, wagt eingangs die vorerst kühn erscheinende These, „Klassen“ und „Klassenpolitik“ seien als Begriffe mit Wucht in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt. Das wird nicht wenige erstaunen, die empirisch doch recht eindrucksvoll belegte Entwicklungen beobachten: Ausufernde Differenzierungen der sozialen Lage, Zerfall der Gesellschaft in Sinus-Milieus aller Art, Dominanz von Konsumbiotopen anstelle von arbeitsbezogenen Positionsbestimmungen, Polarisierungen zwischen einem fortschrittlichen, sozialökologisch orientierten und zT durchaus antikapitalistischen links-bürgerlichen Block und einer nach rechts abdriftenden Kernarbeiterschaft und nationalistisch und fremdenfeindlich gepolten deklassierten Schichten, Individualisierungen aller Art mit massiven Einbrüchen in solidarische, geschweige denn klassenkämpferische Haltungen.

So gesehen scheinen „Klassenanalysen“ und „Klassentheorien“ adäquat und nützlich in der Phase der antikapitalistischen Kämpfe der arbeitenden Klassen und wohl auch noch des regulierten Klassengegensatzes im Fordismus, im Arbeitsrecht immerhin nicht nur symbolisiert, sondern auch realiter rechtlich verfestigt durch Institutionen wie Arbeitskampf, Gegenmacht und Gegnerunabhängigkeit sowie auch der Autonomie vom bürgerlichen Staatsapparat, nicht aber im fluiden, konsumistischen, durch das „Prekariat“ anstelle das Proletariats gekennzeichneten postfordistischen und postmodernen Kapitalismus.

Dieser Befund wird von den Autor*innen des Bandes, insb von Candeias selbst, keineswegs übersehen. Sie konstatieren eine seit 1945 nie dagewesene Schwäche der organisierten Arbeit und das Einsickern rechter und radikalpopulistischer Strömungen, denen es in vielen Ländern gelungen ist, Teile der Lohnabhängigen für sich zu interessieren und Solidarität an völkische Zugehörigkeit zu koppeln. Dennoch vermögen sie keinen radikalen Bruch zu den bisherigen Mustern der Klassentheorie, ja eigentlich dem Begriff der Klasse als Code für eine erfolgreiche Überwindung des kapitalistischen Systems zu erkennen.

Der Sammelband weist erwartungsgemäß eine markante marxistische Grundierung auf. Immer wieder scheinen enge Bezüge zu Texten von Marx und Engels auf, insb auf Formulierungen aus dem „18. Brumaire des Louis Bonaparte“. Diese theoretische Linie ist hervorhebenswert, weil sie zu den heute auch im linken Spektrum weit verbreiteten Fixierungen auf Diskriminierungs- und Identitätsfragen einen markanten Gegenpol bildet.

Der Reader geht in vielen Beiträgen auf neue Entwicklungen, aktuelle theoretische Ansätze und brisante offene Fragen der Klassentheorie ein. Höchst erfreulich ist, dass der Aufsatz von Étienne Balibar aus dem nach wie vor aktuellen Band „Rasse – Klasse – Nation“ abgedruckt wurde. Auch klassische Texte dürfen nicht fehlen, wie Auszüge aus Gramschis Gefängnisheftenoder aus Rosa Luxemburgs Arbeit „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“. Unverzichtbar für eine gehaltvolle Diskussion sind nach wie vor auch Texte von Pierre Bourdieu (Die feinen Unterschiede ua) oder Stuart Halls Beitrag „Rasse, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante“.

Im letzten Teil des Bandes werden neue Entwicklungen thematisiert. Es steht der Versuch im Vordergrund, diese als Ausgangspunkt für eine neue Klassenpolitik fruchtbar zu machen. Es geht um Transnationalisierung, Prekarisierung, das Verhältnis von Gender-Frage zu Klassenfragen oder auch den vieldiskutierten „Rechtsruck“ in der Arbeiterschaft und bei den prekarisierten Schichten.

Besonders ergiebig ist die Lektüre von Candeias Beitrag „Das unmögliche Prekariat“. Es handelt sich um eine spannende Auseinandersetzung mit den gar nicht so wenigen Kritikern der „traditionellen“ Positionen zur Klassenfrage. Dort wird argumentiert, es gäbe kein eindeutig-eindimensionales Muster gesellschaftlicher Ungleichheiten mehr, Konzepte wie „Klassen“ würden heute hohl wirken (Schultheis). Lessenich/Nullmeier sprechen von einer beliebigen und unübersichtlichen Pluralität von Differenzen. Bei Wacquant geht es um die Auflösung von Klassen als Gegenbewegung zur proletarischen Vereinheitlichung. Candeias hält diesen Positionen entgegen, das Prekariat als Teil der Klasse der Lohnabhängigen bilde eine Klassenfraktion mit gemeinsamer, empirisch fassbarer Kollektivlage, die aus spezifischen, verschärften und zugleich flexibilisierten Ausbeutungsverhältnissen sowie entsicherten Lebensverhältnissen durch Einschränkung sozialer Leistungen resultiert. Insofern sei das Prekariat Teil der Klasse der Lohnabhängigen, unterscheide sich aber wiederum durch die mangelnden Bedingungen der Reproduktion ihrer Arbeitskraft. Das Prekariat bleibe bislang aber eine Klassenfraktion im Werden, jedoch mehr als eine Ansammlung zielloser Existenzen. Mit dem Prekariat treten Unsicherheit, Deklassierung und Überausbeutung ins gesellschaftliche Zentrum.

Allerdings, und diese Aussage tritt uns in ähnlicher Form in vielen Beiträgen dieses Bandes entgegen, der Übergang zu einem gemeinsamen Bewusstsein der Klassenlage sei nicht als naturwüchsiger Prozess zu begreifen, sondern muss politisch hergestellt werden. Dies sei unermesslich mühsam, behindert bzw blockiert durch vielerlei Spaltungen und Kooptation.

Letztlich wird die Suppe also sehr dünn. Das alte Rätsel, der Weg von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“, überschattet als Gespenst im Diskursraum der Klassentheorie viele der Beiträge. Was übrig bleibt ist die Feststellung, die (Selbst-)Organisierung eines vielfältigen, in sich gespaltenen Prekariats als Klassenfraktion im Werden werde zur vordringlichen gesellschaftlichen Aufgabe unserer Zeit. 451

Die Frage bleibt, ob der Klassenbegriff, der ganz zu Recht an die Produktionsverhältnisse und damit an die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln ankoppelt, nach wie vor eine ausreichende analytische Stärke aufweist, ja theoretische Dominanz beanspruchen darf, um auch strategische Überlegungen maßgeblich zu begründen. Ich vermute eher, dass der klassentheoretische Diskurs insofern einen Bruch mit dem marxistischen Denken darstellt, als das ökonomischgesellschaftlich- staatliche System eine anonymisierte und weitestgehend verselbständigte Struktur ist, die sich einer Personalisierung in Form von Klassenzuordnungen weitgehend entzieht. Die arbeitenden Klassen in den hochentwickelten Staaten sind gleichzeitig Ausbeuter und die Geschlechterfrage ist auch dann virulent, wenn das Proletariat über die Produktionsmittel verfügen würde. Insb scheinen bedrohliche Krisen wie die der Umwelt, der Biodiversität oder der Zerstörung soziokultureller Autonomie-Felder mit klassentheoretischen Ansätzen nicht mehr ausreichend erfassbar. Darauf gibt dieser bemerkenswerte Reader leider keine Antwort.