28Zumutbare Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation für 60-jährigen Mechaniker?
Zumutbare Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation für 60-jährigen Mechaniker?
Bei einem Anbot einer beruflichen Rehabilitation nach § 253e ASVG erst im sozialgerichtlichen Verfahren sind die Voraussetzungen des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG vom Sozialgericht von Amts wegen zu prüfen.
Auch Arbeitsmarktprognosen sind bei der Zumutbarkeitsfrage mit zu berücksichtigen.
Die durch eine erfolgreiche Rehabilitation zu erwartende Einsatzfähigkeit des Versicherten darf nicht rein abstrakt anhand des Vorhandenseins von mindestens hundert (freier oder besetzter) Arbeitsstellen im umgeschulten Beruf geprüft werden.
[1] Der am ***1961 geborene Kl war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1.4.2020) in mehr als 90 Pflichtversicherungsmonaten in seinem Beruf als gelernter Landmaschinenmechaniker und gelernter Kfz-Mechaniker – schwerpunktmäßig als Baumaschinenmechaniker – tätig. Nach den bisher getroffenen Feststellungen ist der Kl aufgrund seiner medizinischen Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage, den Beruf des Baumaschinenmechanikers auszuüben. Er kann aber noch vollzeitig den Verweisungstätigkeiten eines Kundendienstbetreuers, eines Baumaschinenverkäufers oder eines Verkäufers von Baumaschinen-Teilen nachgehen, weiters Tätigkeiten in der Reparaturannahme in Werkstätten sowie Tätigkeiten eines qualifizierten Fertigungsprüfers oder CNC-Maschinenoperators in ausgewählten Arbeitsbereichen. Die für die Ausübung (sämtlicher) Verweisungstätigkeiten erforderlichen – dem Kl bisher fehlenden – EDV-Grundkenntnisse können durch entsprechende Computerkurse betriebsextern erworben werden, wie etwa durch Absolvierung eines beim WIFI angebotenen Kurses „PC-Einsteiger“ in der Dauer von vier Kurstagen (im Umfang von 20 Unterrichtseinheiten).
[2] Mit Bescheidvom 15.6.2020 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag des Kl vom 11.3.2020 auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab. Da Invalidität in absehbarer Zeit nicht eintreten werde, bestehe auch kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.
[3] Der Kl begehrt den Zuspruch der Invaliditätspension, eventualiter die Gewährung beruflicher Maßnahmen der Rehabilitation nach § 253e ASVG und von Übergangsgeld. Soweit für das Revisionsverfahren wesentlich, bringt er vor, der Besuch eines Computerkurses sei nicht zweckmäßig und ihm nicht zumutbar. Er habe nicht nur wegen seines Alters und seines eingeschränkten Gesundheitszustands geringe Chancen auf die Erlangung eines adäquaten Arbeitsplatzes, sondern auch deshalb, weil er bereits Ende 2021 die Voraussetzungen für die Schwerarbeitspension gem § 4 Abs 3 APG und auch jene für die Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG erfüllen werde. In dieser (gegenüber der bis zur Erreichung des Regelpensionsalters im Jahr 2026 erheblich verkürzten) Zeitspanne sei nicht zu erwarten, dass er einen adäquaten Arbeitsplatz finden werde.
[4] Die Bekl bestritt und beantragte die Klageabweisung. [...]
[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Es stellte über die eingangs wiedergegebenen Feststellungen hinaus noch fest, dass die Bekl dem Kl im Zuge des sozialgerichtlichen Verfahrens in der Tagsatzung vom 22.12.2020 [...] die (kostenlose) Absolvierung eines viertägigen Computer-Grundkurses beim WIFI angeboten hat, der Kl dieses Angebot jedoch abgelehnt hat. Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass der Kl infolge Verweigerung der zweckmäßigen und ihm zumutbaren beruflichen Rehabilitationsmaßnahme der Absolvierung eines viertägigen Computerkurses den Anspruch auf Invaliditätspension verloren habe.
[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Eine Mindestbeschäftigungszeit oder starre Altersgrenzen für Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien im ASVG nicht vorgesehen. Zum Stichtag 1.4.2020 und auch noch zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz am 22.12.2020 verbleibe für den vom Kl behaupteten privilegierten Pensionsantritt ein Zeitraum von zumindest 21 bzw 12 Monaten. Die Gegenüberstellung einer vier Tage dauernden Computerschulung mit dem zumindest noch für mehr als einem Jahr erforderli- 392 chen Verbleib im Arbeitsleben führe zur Bejahung der Zumutbarkeit der in Frage stehenden Rehabilitationsmaßnahme. Der Versicherte habe es nicht in der Hand, durch Vereitelung zweckmäßiger und zumutbarer Rehabilitationsmaßnahmen seine Wiedereingliederung in das Berufsleben auszuschließen und damit den Anfall der Pension zu erreichen. Die Absolvierung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sei einem Versicherten zumutbar, wenn er im Verweisungsberuf eine realistische Chance habe, einen Arbeitsplatz zu finden. Wie sich aus dem berufskundlichen Gutachten ableiten lasse, sei der Kl vollzeitig einsetzbar, hinsichtlich der in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten sei ein ausreichender Arbeitsmarkt vorhanden. [...]
[7] Gegen diese E richtet sich die außerordentliche Revision des Kl [...].
[9] Die Revision ist zulässig und wegen des Fehlens von erforderlichen Feststellungen iSd Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[10] 1. Stichtag ist im vorliegenden Fall der 1.4.2020. Der am ***1961 geborene Kl hatte am 1.1.2014 das 50. Lebensjahr bereits vollendet, weshalb für ihn die Bestimmungen des § 253e und des § 254 Abs 1 Z 1 und 2 ASVG in der am 31.12.2013 geltenden Fassung BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111 weiterhin anwendbar bleiben (§ 669 Abs 5 ASVG [...]).
[11] 2. Nach § 254 Abs 1 ASVG idF BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111 besteht für Versicherte – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – dann ein Anspruch auf Invaliditätspension, wenn kein Anspruch auf berufliche Rehabilitation nach § 253e Abs 1 und 2 ASVG besteht oder die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nach § 253e Abs 3 ASVG nicht zweckmäßig oder nach § 253e Abs 4 nicht zumutbar sind (Z 1) und die Invalidität (§ 255 ASVG) voraussichtlich sechs Monate andauert oder andauern würde (Z 2).
[12] 3.1 Im Hinblick darauf, dass der Computerkurs nicht betriebsintern angeboten wird, sondern vom Pensionsversicherungsträger zu gewähren ist, müssen jedenfalls diese – von § 253e Abs 2 bis 4 ASVG idF BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111(bzw nunmehr idF des SVÄG 2017 BGBl I 2017/38BGBl I 2017/38) für den Anspruch auf berufliche Rehabilitation aufgestellten – Voraussetzungen erfüllt sein (10 ObS 5/16g SSV-NF 30/61; Födermayr in SV-Komm § 255 ASVG [252. Lfg] Rz 132).
[13] 3.2 Demnach sind Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nur solche, durch die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Dauer Invalidität iSd § 255 ASVG beseitigt oder vermieden werden kann und die geeignet sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auf Dauer sicherzustellen (§ 253e Abs 2 ASVG). Darüber hinaus müssen die Maßnahmen ausreichend und zweckmäßig sein, sie dürfen jedoch das Maß des notwendigen nicht überschreiten (§ 253e Abs 3 ASVG). Die Maßnahmen nach Abs 1 sind der versicherten Person nur dann zumutbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihrer physischen und psychischen Eignung, ihrer bisherigen Tätigkeit sowie der Dauer und des Umfangs ihrer bisherigen Ausbildung (Qualifikationsniveau) sowie ihres Alters, ihres Gesundheitszustands und der Dauer eines Pensionsbezugs festgesetzt und durchgeführt werden (§ 253e Abs 4 ASVG).
[14] 4. Bei einem Anbot einer beruflichen Rehabilitation nach § 253e ASVG [...] erst im sozialgerichtlichen Verfahren sind die Voraussetzungen des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG vom Sozialgericht von Amts wegen zu prüfen, wenn die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für die begehrte Invaliditätspension erfüllt sind. Sollten sich die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation als zweckmäßig und zumutbar erweisen, vernichtet dies nicht den Anspruch auf Pension, sondern verhindert das Entstehen des Pensionsanspruchs (10 ObS 107/12a SSV-NF 27/9).
[15] 5. Zu prüfen ist daher, ob der von der Bekl im sozialgerichtlichen Verfahren vor dem Erstgericht konkret angebotene Computer-Grundkurs den Kriterien des § 253e Abs 2 bis 4 ASVG idF BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111 entspricht. Ist dies nicht der Fall, ist dem Kl die Absolvierung der Schulungsmaßnahme nicht zumutbar, sodass sie dem Anfall der Invaliditätspension nicht entgegenstünde. Ist die angebotene Maßnahme der beruflichen Rehabilitation jedoch möglich, zweckmäßig und zumutbar, hindert deren Verweigerung das Entstehen des Anspruchs auf Invaliditätspension (Sonntag in Sonntag, ASVG12 § 254 Rz 1; 10 ObS 107/12a SSVNF 27/9; 10 ObS 5/16g SSV-NF 30/61).
[16] 6.1 Während es bei der Frage der Zweckmäßigkeit um die „objektive Seite“ geht, geht es bei der Frage der Zumutbarkeit von Maßnahmen beruflicher Rehabilitation um die „subjektive Seite“ (10 ObS 52/16v SSV-NF 30/66 mwN). [...] Auch Arbeitsmarktprognosen sind bei der Zumutbarkeitsfrage mit zu berücksichtigen (RS0113667). Eine starre Altersgrenze, ab der die Zumutbarkeit oder Zweckmäßigkeit einer Maßnahme der beruflichen Rehabilitation jedenfalls zu verneinen wäre, ist nicht vorgegeben (10 ObS 29/17p SSV-NF 31/20). Auch eine Mindestbeschäftigungszeit im neuen Beruf findet im Gesetz keine Grundlage. Andererseits sind Rehabilitationsmaßnahmen nur ökonomisch zielführend und für die Betroffenen und die Versichertengemeinschaft sinnvoll, wenn die Betroffenen im Rehabilitationsberuf tatsächlich beschäftigt werden, anstatt Leistungen aus der AlV zu beziehen (Burger/Ivansits, Medizinisch und berufliche Rehabilitation in der Sozialversicherung DRdA 2013, 106 [115]). Entsteht etwa kurze Zeit nach einer beruflichen Rehabilitation ein Anspruch auf Alterspension, wird eine berufliche Rehabilitation unter diesem Aspekt schon aus Gründen der Zweckmäßigkeit ausscheiden (Ivansits, Probleme im neuen beruflichen Rehabilitationsrecht, ZAS 2014/26, 162 [166]; Födermayr in SV-Komm § 253 ASVG [252. Lfg] Rz 13).
[17] 6.2 Nach erfolgreicher beruflicher Rehabilitation muss für den Versicherten jedenfalls eine realistische Chance bestehen, in dem gem § 255 Abs 5 ASVG erweiterten Verweisungsfeld einen Arbeitsplatz zu finden. Rehabilitationsmaßnahmen, bei denen diese Aussicht nicht besteht, sind nicht zumutbar. Daher darf die durch eine erfolgreiche Rehabilitation zu erwartende Einsatzfähigkeit des Versicherten nicht rein abstrakt anhand des Vorhandenseins von mindestens hundert (freier oder 393besetzter) Arbeitsstellen im umgeschulten Beruf geprüft werden. Andererseits darf aber das Arbeitsplatzrisiko des nicht mehr voll Arbeitsfähigen nicht zur Gänze auf die PV verlagert werden. Es muss eine realistische Chance – also nicht nur eine abstrakte Beschäftigungsmöglichkeit – bestehen, dass der Umgeschulte nach Ende der Umschulung im neuen Beruf voraussichtlich einen Arbeitsplatz finden wird (RIS-Justiz RS0113667 [T1]; 10 ObS 5/16v SSVNF 30/61). [...]
[19] 7.1 Ob er nach Durchführung des Computerkurses bei den gegebenen Umständen am Arbeitsmarkt eine realistische Chance hat, voraussichtlich einen Arbeitsplatz zu finden, lässt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht entnehmen. Das berufskundliche Sachverständigengutachten trifft lediglich eine Aussage zur (abstrakten) Verweisbarkeit am Arbeitsmarkt. Die Annahme des Berufungsgerichts, die zeitnahe Erlangung einer Beschäftigung in einem dem Kl noch möglichen und nachgefragten Verweisungsberuf sei als durchaus realistisch anzusehen, wurde damit begründet, dass der Kl vollzeitig einsetzbar sei und nach der Aktenlage auch ohne Absolvierung des von der Bekl angebotenen EDV-Kurses über ausreichende EDV-Grundkenntnisse verfüge. Dieser Annahme steht aber die vom Erstgericht ausdrücklich getroffene – gegenteilige – Feststellung entgegen.
[20] 7.2 Im fortzusetzenden Verfahren wird das Erstgericht die bisher fehlenden Feststellungen dazu zu treffen haben, ob der Kl nach Absolvierung des EDV-Kurses eine realistische Chance hat, einen Arbeitsplatz (und gegebenenfalls in welchem Zeitraum) zu finden.
[21] 7.3 Vor Ergänzung des Beweisverfahrens in diese Richtung wird aber das Gericht mit den Parteien das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 254 Abs 1 Z 1 ASVG noch grundsätzlich zu erörtern haben. Bietet der Pensionsversicherungsträger erst im sozialgerichtlichen Verfahren eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation an und hängt die Entscheidung von der Beantwortung der Frage deren Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit ab, so hat das Gericht dies mit den Parteien zu erörtern (RS0128758). Insb wird das von der Bekl [...] erstattete Vorbringen zu erörtern sein, nach dem der vom Kl behauptete Leistungsanspruch zum 1.1.2022 keinesfalls als gesichert anzusehen sei, sondern bestritten werde, dass zu diesem Stichtag die Voraussetzungen für eine Invaliditätspension unter Berücksichtigung des Tätigkeitsschutzes nach § 255 Abs 4 ASVG bzw die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Schwerarbeitspension gem § 4 Abs 3 APG erfüllt sein werden.
§ 4 Abs 3 APG erfüllt sein werden. [22] 8. Nach den Ergebnissen der Erörterung und auf Grundlage der ergänzenden Tatsachenfeststellungen [...] wird dann zu beurteilen sein, ob die Absolvierung des EDV-Grundkurses iSd § 253e Abs 4 ASVG zweckmäßig und zumutbar ist. [...]
Die Fragen der Gewährung von Pensionen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit und die Prüfung von Möglichkeiten medizinischer und/oder beruflicher Maßnahmen der Rehabilitation zur Erhaltung oder Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit stellen seit Jahren zentrale Punkte sozialpolitischer und rechtswissenschaftlicher Diskussionen dar. Seit Mitte der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden zahlreiche Reformen beschlossen, Gesetze mehrfach novelliert, Judikatur und Literatur zu diesen Themenkreisen ist zahlreich vorhanden. Allerdings: Ob und wie die Situation älterer und gesundheitlich beeinträchtigter Versicherter verbessert werden konnte, bleibt fraglich. Die vorliegende E kann die Herausforderungen exemplarisch verdeutlichen.
Ein 1961 geborener und am Stichtag 1.4.2020 somit 59-jähriger Versicherter mit Berufsschutz, der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, seinen Beruf als Baumaschinenmechaniker auszuüben, steht im Mittelpunkt dieser OGH-E. Zentral ist die Beantwortung der Frage, ob er Anspruch auf Invaliditätspension hat oder ob er nach Absolvierung eines EDV-Kurses eine realistische Chance auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und daher keinen Pensionsanspruch hat. Infolge der Zurückverweisung an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung wird der Kl zum Zeitpunkt der Beendigung des Verfahrens das 62. Lebensjahr vollendet haben.
Da der Kl am 1.1.2014 bereits das 50. Lebensjahr vollendet hat, sind die Bestimmungen des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3BGBl I 2013/3) auf ihn nicht anwendbar, sondern gem § 669 Abs 5 ASVG (ua) § 253e ASVG in der am 31.12.2013 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die oben angesprochenen gesetzlichen Änderungen soll zur besseren Nachvollziehbarkeit ein kurzer Überblick über die gesetzlichen Änderungen voran gestellt werden.
Mit dem Strukturanpassungsgesetz 1996 (BGBl 1996/201) wurde ab 1.7.1996 die Befristung von Pensionen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit eingeführt – begründet vor allem mit der nicht vorhersehbaren Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden (72 BlgNR 20. GP 248). Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ wurde schon damals so verankert, dass jeder Antrag auf Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitspension (IP/ BUP) als Antrag auf Rehabilitation zu werten war. Wenn zumutbare Rehabilitationsmaßnahmen die Wiedereingliederung in das Berufsleben bewirken konnten, fiel die Pension nicht an (§ 86 Abs 1 Z 2 ASVG idF BGBl 1996/201). Bei Vereitelung einer zumutbaren Rehabilitationsmaßnahme gebührte weder Übergangsgeld noch die Pension. 394
Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BudgBeglG 2011, BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111) sollte der Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ verstärkt werden. Zahlreiche Änderungen einzelner Bestimmungen wurden vorgenommen, als zentral in diesem Zusammenhang sind die §§ 253e und 254 ASVG anzusehen. In § 254 Abs 1 ASVG wird eine neue Z 1 eingefügt, wonach Anspruch auf IP (nur) besteht, wenn kein Anspruch auf berufliche Rehabilitation nach § 253e ASVG besteht oder die Maßnahmen nicht zweckmäßig oder nicht zumutbar sind. In § 253e ASVG wurde mit 1.1.2011 der Rechtsanspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation verankert. Invalidität sollte vermieden oder beseitigt werden und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auf Dauer sichergestellt werden (981 BlgNR 24. GP 205). Verankert wurden eine Zweckmäßigkeitsund eine Zumutbarkeitsprüfung. Die Maßnahmen müssen ausreichend und zweckmäßig sein, um das Rehabilitationsziel zu erreichen, dürfen aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Zumutbarkeit richtet sich nach Dauer, Umfang und Kosten der ins Auge gefassten Ausbildung; das Alter, die Ausbildung, die Qualifikation und der soziale und wirtschaftliche Status sowie etwa auch die FacharbeiterInnen-Eigenschaft sind zu berücksichtigen (981 BlgNR 24. GP 205).
Kurze Zeit später wurde mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3BGBl I 2013/3) neuerlich eine grundlegende Reform beschlossen, wobei die wesentlichen Bestimmungen am 1.1.2014 in Kraft getreten sind. Für Personen, die zu diesem Zeitpunkt das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (einfacher gesagt: Personen ab dem Geburtsjahr 1964) sollten künftig Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation als Pflichtleistung vom Arbeitsmarktservice (AMS) gewährt werden, § 253e ASVG wurde aufgehoben (2000 BlgNR 24. GP 22). In diesem Zusammenhang wurde auch § 254 ASVG wieder angepasst: Als Anspruchsvo raussetzung für die Invaliditäts-(Berufsunfähigkeits-)pension wurde das Vorliegen von dauernder Invalidität (Berufsunfähigkeit) festgeschrieben. Zugleich wurden die bisherigen Z 1 und 2 des § 254 Abs 1 ASVG (sowie des § 271 Abs 1 ASVG) umgereiht, um so die logische Abfolge bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für die IP/BUP – zuerst Prüfung des Vorliegens dauernder Invalidität, dann erst Prüfung, ob eine berufliche Maßnahme der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar ist – besser zum Ausdruck zu bringen (2000 BlgNR 24. GP 24). Für ältere Versicherte sind die §§ 253eund 254 ASVG in der am 31.12.2013 geltenden Fassung gemäß der Übergangsbestimmung des § 669 Abs 5 ASVG weiter anzuwenden.
Mit dem Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2016 (SVÄG 2016, BGBl I 2017/29BGBl I 2017/29) wurde § 253e ASVG neuerlich eingeführt, ebenso erfolgte eine neuerliche Novellierung in § 254 ASVG. Zwei Jahre nach Inkrafttreten der Reformmaßnahmen des SRÄG 2012 zeigte sich, dass Handlungsbedarf besteht, um die Wiedereingliederung von vorübergehend arbeitsunfähigen Menschen in den Arbeitsmarkt bestmöglich zu gewährleisten. Der Grundsatz der Rehabilitation vor Pension sollte daher effektiver gestaltet werden (1330 BlgNR 25. GP 3). Der Rechtsanspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation wurde damit ab 1.1.2017 wieder im ASVG verankert.
Im vorliegenden Fall ist der Kl nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Baumaschinenmechaniker auszuführen, er kann aber noch Verweisungstätigkeiten (als Kundendienstbetreuer oder Verkäufer) ausüben. Es liegt somit keine Invalidität vor. Für die Ausübung der Verweisungstätigkeiten benötigt er allerdings nach den bisherigen Feststellungen des Erstgerichts einen Computerkurs, der außerhalb des Betriebes angeboten wird. Im Sozialgerichtsverfahren sei ihm die Absolvierung eines kostenlosen Kurses beim WIFI von der PVA angeboten worden. Auf den ersten Blick könnte man die Frage stellen, weshalb hier überhaupt die Frage der beruflichen Rehabilitierbarkeit des Kl im Fokus steht, obwohl es im engeren Sinn um die Frage der Verweisbarkeit geht. Die Judikatur differenziert bei der Prüfung der Verweisbarkeit von qualifizierten Arbeitern und der Erforderlichkeit von Schulungsmaßnahmen – vor allem in zeitlicher Hinsicht – zwischen Nachschulung und Umschulung. Eine innerbetrieblich angebotene Nachschulung in einem zeitlichen Ausmaß von bis zu sechs Monaten hindert die Verweisbarkeit nicht (RS0050891). Im Fall einer Umschulung wird allerdings das Verweisungsfeld verlassen und diese wäre als Maßnahme der beruflichen Rehabilitation zu qualifizieren (Födermayr in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm zu § 255 ASVG). Bereits in der E OGH 11.10.2016, 10 ObS 5/16g, hat der OGH festgehalten, dass auch Nachschulungsmaßnahmen, die nicht innerbetrieblich, sondern extern durchgeführt werden, vom Pensionsversicherungsträger nach Maßgabe der Grundsätze des § 253e ASVG zu gewähren sind. Im Ergebnis setzt der OGH daher hier seine stRsp fort.
Wesentlicher Grund für die Aufhebung und Zurückverweisung durch den OGH sind fehlende Feststellungen als Grundlage für die Beurteilung der Wiedereingliederungswahrscheinlichkeit in den Arbeitsmarkt. Nach § 253e Abs 2 ASVG müssen die Maßnahmen geeignet sein, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auf Dauer sicherzustellen. Födermayr (in Mosler/Müller/ Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm zu § 253e mwN) führt zur Frage der Möglichkeit der Erlangung eines Arbeitsplatzes nach Abschluss der Rehabilitations- 395 maßnahmen aus, dass damit die bisherige Rsp und hL umgesetzt wurde. Es reiche aus, dass eine Wiedereingliederung „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ möglich ist, ohne, dass ein bestimmter Prozentsatz der Wahrscheinlichkeit vorliegen müsse, die Tätigkeit müsse auf dem Arbeitsmarkt regelmäßig nachgefragt werden. Nach Ivansits (Probleme des neuen beruflichen Rehabilitationsrechts, ZAS 2014, 166) hängt der Erfolg der Reform entscheidend davon ab, ob die Pensionsversicherungsträger in ihrer Verwaltungspraxis dem Gestaltungsprinzip „berufliche Rehabilitation vor Pension“ eine proaktive Haltung einnehmen und die Anforderungen an die „hohe Wahrscheinlichkeit“ nicht zu hoch ansetzen. Beatrix Karl hat bereits zur Rechtslage nach dem Strukturanpassungsgesetz 1996 ausgeführt (ZAS 2002, 19 ff; OGH 18.4.2000, 10 ObS 49/00d [mwN]), dass im Fall der Beurteilung der zu erwartenden Wiedereingliederung erfolgreich Rehabilitierter Arbeitsmarktprognosen mit zu berücksichtigen sind, weshalb eine abstrakte Prüfung der Verweisbarkeit nicht genüge, sondern eine konkrete Betrachtungsweise erforderlich sei. Die Leistung von (beruflicher) Rehabilitation könne nicht losgelöst von der konkreten Arbeitsmarktsituation gesehen werden, wodurch dem Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ gleichzeitig auch Schranken gesetzt werde (Karl, aaO). Diese liege grundsätzlich außerhalb des Risikobereichs der PV, sondern falle in die Zuständigkeit der AlV, weshalb die Entscheidung unter Beiziehung des AMS erfolgen solle. Genau dafür hat der Gesetzgeber später auch die rechtlichen Grundlagen geschaffen.
Mit dem SRÄG 2012 wurde bei der PVA für die Erstellung von medizinischen, berufskundlichen und arbeitsmarktbezogenen Gutachten das Kompetenzzentrum Begutachtung geschaffen (§ 307g ASVG). Nach § 307g Abs 1 zweiter Satz ist zur Klärung arbeitsmarktbezogener Fragen bei Bedarf ein(e) sachkundige(r) VertreterIn beizuziehen. Gem Abs 3 leg cit sind die Gutachten in Angelegenheiten der beruflichen Rehabilitation unter Beachtung der Grundsätze nach den Richtlinien des Dachverbandes (§ 30a Abs 1 Z 35 ASVG) zu erstellen. Abgesehen von der etwas holprigen Formulierung des Gesetzestextes sind nach den Erläuterungen die wichtigen Neuerungen in diesem Zusammenhang die Standardisierung der jeweiligen Begutachtung und die Einbeziehung der berufskundlichen und Arbeitsmarkt- Expertise hinsichtlich der Vermittelbarkeit der zu Rehabilitierenden (2000 BlgNR 24. GP 19). Die Richtlinien für die Grundsätze der Erstellung von Gutachten in Angelegenheiten der beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation – RBG 2013 (AVSV 161/2013 idF AVSV 5/2020) beinhalten lediglich zwei einschlägige Bestimmungen: § 5 („Berufskundliche Feststellungen“) regelt in seinem Abs 2 in geradezu umgekehrter Prüfreihenfolge, dass das berufskundliche Gutachten eine Aussage darüber zu treffen hat, ob Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Vorhinein
ausgeschlossen werden können. (Nur) Wenn dies nicht der Fall ist, ist zur Abklärung von zweckmäßigen und zumutbaren Rehabilitationsmaßnahmen eine Berufspotentialanalyse durchzuführen. Zur Klärung arbeitsmarktbezogener Fragen ist bei Bedarf ein sachkundiger Vertreter des AMS beizuziehen. Als Zwischenergebnis muss sohin festgehalten werden, dass in den Richtlinien nicht geregelt ist, ob und (annäherungsweise) in welchen Fällen ein Arbeitsmarktexperte beigezogen werden soll. Die Erstellung eines berufskundlichen Gutachtens wird zwar geregelt, wer Verwaltungsakten der Pensionsversicherungsträger kennt, hat aber wohl nur in seltenen Fällen ein derartiges gefunden. Die mehrfachen Versuche des Gesetzgebers, den Grundsatz „Rehabilitation vor Pension“ zu verstärken, werden so kaum mit Leben erfüllt. Oder es wird – wie im vorliegenden Fall – erst im sozialgerichtlichen Verfahren das „Anbot“ einer beruflichen Rehabilitation gemacht. Wenn eine Rehabilitationsmaßnahme zumutbar und zweckmäßig ist und der Versicherte diese ablehnt, verletzt er seine Mitwirkungspflichten und es besteht kein Anspruch auf Invaliditätspension. Die Frage des Anspruchs auf berufliche Rehabilitation ist als negative Anspruchsvoraussetzung nach § 254 Abs 1 von Amts wegen zu prüfen. Die Unterinstanzen gingen im vorliegenden Fall von einer Verletzung der Mitwirkungspflicht aus, wobei das Berufungsgericht in seiner Begründung ua die viertägige Dauer des Computerkurses dem weiteren Verbleib im Arbeitsleben von zumindest einem Jahr gegenüberstellte. Dem OGH ist zuzustimmen, dass die notwendigen Feststellungen zur Beurteilung einer realistischen Chance für den Kl, einen Arbeitsplatz zu finden, mangelhaft sind. Wobei diese Chancen für einen gesundheitlich doch massiv eingeschränkten, bald 61-jährigen Versicherten bei einem mehr als zweijährigen Verfahren seit dem Stichtag meiner Ansicht nach eher nicht gestiegen sind. Indirekt kann man aus der Aufhebung und Zurückverweisung ableiten, dass der OGH auch bei über 60-Jährigen noch von der Möglichkeit einer zumutbaren und zweckmäßigen beruflichen Rehabilitationsmöglichkeit ausgeht. Aber auch das vom Kl vorgebrachte Argument, dass er am 1.1.2022 bereits die Voraussetzungen einer Invaliditätspension gem § 255 Abs 4 ASVG (Tätigkeitsschutz) oder für die Schwerarbeitspension erfülle, hält der OGH nicht für völlig unbeachtlich, weil er – nach Bestreitung durch die Bekl – eine Erörterung für erforderlich ansieht.
Der vorliegende Fall zeigt einmal mehr, dass im Bereich „Rehabilitation vor Pension“ noch immer Handlungsbedarf besteht. Die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten einer beruflichen Rehabilitation bereits bei drohender Invalidität werden nicht rechtzeitig genutzt und die (Verwaltungs)Verfahren werden vielfach ohne Einholung der erforderlichen Arbeitsmarktexpertise durchgeführt. Aber auch im sozialgerichtlichen Verfahren besteht bei Prüfung und Entscheidung der Fragen der Rehabilitation durchaus Verbesserungspotential. 396