Zur Abgrenzung von Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft im Lichte der jüngsten EuGHJudikatur*

JOHANNESWARTER (SALZBURG)
Der EuGH hat in der jüngsten Vergangenheit zahlreiche Entscheidungen zu Bereitschaftsdiensten getroffen. Ausgehend von der Entscheidung Matzak im Jahr 2018 hat der EuGH seine Rsp dahingehend erweitert, dass Bereitschaftsdienste auch dann als Arbeitszeit qualifiziert werden können, wenn diese nicht am Arbeitsplatz geleistet werden. Der nachfolgende Beitrag möchte diese Judikatur aufarbeiten und Auswirkungen auf die nationale Abgrenzung zwischen Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft aufzeigen.
  1. Einleitung

  2. Der Arbeitszeitbegriff der AZ-RL

  3. Abgrenzung von Bereitschaftsdiensten durch den EuGH

    1. StRsp zur Abgrenzung von Bereitschaftsdiensten

    2. Weiterentwicklung der Rsp des EuGH ausgehend von der Rs Matzak

    3. Analyse der Abgrenzungskriterien

  4. Auswirkungen auf das nationale Recht

    1. Absolute Zahlen – Gesamtabwägung

    2. Arbeitsbereitschaft im Home Office

    3. Beschränkung der Rufbereitschaft als Pflicht der Mitgliedstaaten

    4. Rufbereitschaft als (unzulässige) Arbeit auf Abruf?

    5. Vollarbeit, Arbeitsbereitschaft, Rufbereitschaft oder Freizeit?

    6. Unionswidrigkeit der Bestimmung des § 5 Abs 1 AZG

  5. Ausblick

1.
Einleitung

Die Qualifikation bestimmter Zeiträume als „Arbeitszeit“ wird sowohl in der Literatur als auch in der Judikatur seit jeher intensiv diskutiert. Dies liegt nicht zuletzt an der großen rechtlichen und praktischen Bedeutung dieser Zuordnung. So drohen dem AG Verwaltungsstrafen*bei Überschreitung der gesetzlichen Höchstgrenzen der Arbeitszeit* oder Nichteinhaltung der vorgeschriebenen Ruhepausen und Ruhezeiten.* Die jeweilige Einstufung hat zudem Auswirkungen auf die Frage, ob und in welcher Höhe AN einen Entgeltanspruch erwerben. Zwar enthalten weder die Arbeitszeit-(AZ-)RL* noch das AZG* (mit Ausnahme der zu gewährenden Zuschläge) Vorgaben hinsichtlich des Entgelts, Kollektivverträge und einzelvertragliche Vereinbarungen referenzieren in den dort auffindbaren Entgeltbestimmungen allerdings in aller Regel auf die geleistete „Arbeitszeit“. Mittelbar ist die Auslegung des Arbeitszeitbegriffs somit auch für den Entgeltanspruch von Relevanz.* Im Lichte des Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes (LSD-BG) hat diese entgeltrechtliche Ebene neben einer zivilrechtlichen zudem eine verwaltungsstrafrechtliche Dimension.*473

Während sich die Qualifikation von Zeiträumen als Arbeitszeit im Kernaufgabenbereich der Arbeitstätigkeiten zumeist als unproblematisch darstellt, gibt es in deren Randbereichen zahlreiche Abgrenzungsprobleme.* Von besonderer praktischer Relevanz ist diese Frage für Bereitschaftsdienste. Aus Sicht der AG stehen hinsichtlich dieser Einordnungsfragen einerseits wirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund, da in der Praxis sachliche Differenzierungen der Entgelthöhe, insb solche nach dem Ausmaß der Inanspruchnahme des AN (etwa „Vollarbeit“, Arbeitsbereitschaft oder Rufbereitschaft), keineswegs ausgeschlossen sind.* Andererseits hängt mitunter gar die Zulässigkeit bestimmter Bereitschaftsmodelle von der jeweiligen Einstufung als Arbeitszeit bzw Ruhezeit ab, weil Höchstarbeitszeitgrenzen bzw vorgeschriebene Ruhezeiten auch für Bereitschaftsdienste zu gelten haben: Bereitschaftszeiten, die als Arbeitszeit iSd AZ-RL zu qualifizieren sind, unterliegen der Beschränkung des Art 6 AZ-RL, wonach die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden nicht überschritten werden darf. Andererseits dürfen nur (Bereitschafts-)Zeiten, die nicht als Arbeitszeit einzuordnen sind, zur Ruhezeit gezählt werden, die gem Art 3 der AZ-RL pro 24-Stunden-Zeitraum mindestens elf zusammenhängende Stunden betragen muss.

2.
Der Arbeitszeitbegriff der AZ-RL

Was nun als Arbeitszeit zu verstehen ist, definiert die AZ-RL in Art 2 Z 1 als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer

  • gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet,
  • dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und
  • seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.“*

Dem gegenüber steht die Ruhezeit, die als „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“ (Art 2 Z 2 AZ-RL) bestimmt wird. Aus diesen Definitionen der Arbeits- und Ruhezeit geht hervor, dass es sich bei Bereitschaftszeiten entweder um Arbeitszeit oder um Ruhezeit handeln muss. Eine Zwischenkategorie ist nicht vorgesehen.* Die Legaldefinition der Arbeitszeit und Ruhezeit stellen zudem gemeinschaftsrechtliche Begriffe dar, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zweckes der RL autonom zu bestimmen sind.*

Wie von Klein* zutreffend herausgearbeitet, kann die unionsrechtliche Definition in drei Kriterien (siehe oben) gegliedert werden, wobei sich der Arbeitszeitbegriff der AZ-RL vor allem durch eine Kombination der Elemente zwei und drei definiert. Das erste Kriterium stellt eine Tautologie, also eine inhaltsleere Wiederholung, dar. Auch der EuGH behandelt das erste Element der Arbeitszeitdefinition der AZ-RL als Leerformel.* Es stellt sich somit die Frage, ob AN während der Bereitschaftsdienste dem AG zur Verfügung stehen und Tätigkeiten ausüben oder Aufgaben wahrnehmen.

3.
Abgrenzung von Bereitschaftsdiensten durch den EuGH
3.1.
StRsp zur Abgrenzung von Bereitschaftsdiensten

In der Vergangenheit beschäftigte sich der EuGH vor allem mit der Frage, ob Bereitschaftsdienste am Arbeitsplatz überhaupt als Arbeitszeit qualifiziert werden können oder ob man nicht generell alle Bereitschaftsdienste der Ruhezeit zuordnen müsse.*

Der EuGH stellte in diesen Fällen fest, dass die Verpflichtung der AN, sich zur Erbringung ihrer beruflichen Leistungen am Arbeitsplatz aufzuhalten und verfügbar zu sein, als Bestandteil der Wahrnehmung ihrer Aufgaben iSd Art 2 Z 1 der AZ-RL anzusehen und damit in vollem Umfang als Arbeitszeit zu qualifizieren ist.* Bei anderer Auslegung wäre das Ziel der AZ-RL, nämlich die Gewährleistung der Sicherheit und Gesundheit der AN, ernsthaft gefährdet, wenn Bereitschaftsdienste in Form persönlicher Anwesenheit nicht unter den Begriff der Arbeitszeit fielen.* Dass der Bereitschaftsdienst Zeiten der Inaktivität umfasst, ist in diesem Kontext unerheblich.* Ob „Arbeitszeit“ iSd AZ-RL vorliegt oder nicht, dafür ist weder die Intensität der vom DN geleisteten Arbeit noch dessen Leistung entscheidend.* Auch der Umstand, dass der AG dem AN einen Ruheraum zur Ver- 474 fügung stellt, in dem sich dieser aufhalten kann, solange keine beruflichen Leistungen von ihm verlangt werden, ändert nichts an diesem Ergebnis.* Als entscheidende Merkmale für die Qualifizierung von Bereitschaftszeit als Arbeitszeit führt der EuGH in stRsp die Verpflichtung des AN an:

  • sich an einem vom AG bestimmten Ort aufzuhalten und

  • sich zur Verfügung des AG zu halten, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können.*

Anderes soll nach Ansicht des EuGH allerdings dann gelten, wenn AN Bereitschaftsdienst in der Weise leisten, dass sie ständig erreichbar sind, ohne jedoch zur Anwesenheit verpflichtet zu sein (Rufbereitschaft). Denn selbst wenn AN ihrem AG in dem Sinne zur Verfügung stehen, dass sie erreichbar sein müssen, können sie in dieser Situation freier über ihre Zeit verfügen und eigenen Interessen nachgehen, sodass nur die Zeit, in der sie tatsächlich Arbeitsleistungen erbringen, als „Arbeitszeit“ iSd AZ-RL anzusehen ist.*

3.2.
Weiterentwicklung der Rsp des EuGH ausgehend von der Rs Matzak

Ausgehend von der Rs Matzak (C-518/15) entwickelte der EuGH seine Rsp dahingehend weiter, dass auch Bereitschaftsdienste außerhalb der Arbeitsstätte (sogar zu Hause) als Arbeitszeit iSd der RL qualifiziert werden können. Kann wegen des Fehlens einer Verpflichtung, am Arbeitsplatz zu bleiben, eine Bereitschaftszeit nicht automatisch als „Arbeitszeit“ eingestuft werden, haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob sich eine solche Einstufung nicht aus den Konsequenzen der dem AN auferlegten Beschränkungen ergibt.* Zur Abgrenzung entwickelte der EuGH einen Beurteilungsmaßstab und verschiedene Abgrenzungskriterien, die im Laufe der Folgeentscheidungen sukzessive erweitert wurden.

3.2.1.
Maßstab

Zur Einstufung der Bereitschaftszeiten hat der EuGH entschieden, dass unter den Begriff „Arbeitszeit“ iSd AZ-RL sämtliche Bereitschaftszeiten einschließlich Rufbereitschaften fallen, während deren dem AN Einschränkungen von solcher Art auferlegt werden, dass sie seine Möglichkeit, während der Bereitschaftszeiten die Zeit frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.*

3.2.2.
Einzelfallbetrachtung – Gesamtabwägung

Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft kann (nur) in vollem Umfang „Arbeitszeit“ darstellen, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Gestaltungsmöglichkeiten besteht.*

3.2.3.
Grundrechtliche Komponente

Der EuGH betont darüber hinaus, dass die verschiedenen Bestimmungen der AZ-RL besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union sind. Die Einhaltung darf rein wirtschaftlichen Überlegungen nicht untergeordnet werden.* Zudem konkretisiert die AZ-RL das ausdrücklich in Art 31 Abs 2 GRC verankerte Grundrecht, wonach alle AN das Recht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten haben. Der Arbeitszeitbegriff ist daher im Lichte von Art 31 Abs 2 GRC auszulegen. Daraus folgt insb, dass die Bestimmungen der AZ-RL nicht zuungunsten der Rechte, die sie dem AN gewährt, restriktiv ausgelegt werden dürfen.*

3.2.4.
Örtliche und zeitliche Beschränkungen

Als wesentliche Abgrenzungskriterien machte der EuGH Beschränkungen der AN in örtlicher und zeitlicher Hinsicht aus. Bezüglich der zeitlichen Komponente ist zunächst die Reaktionszeit gemeint. Relevant ist die Zeitspanne ab Aufforderung durch den AG bis zum Antritt des Wegs, um zum Arbeitsort zu gelangen.* Den AN muss eine sachgerechte Frist für die Wiederaufnahme ihrer beruflichen Tätigkeiten eingeräumt werden, damit diese persönliche und soziale Aktivitäten planen können. Beträgt die Frist hingegen nur wenige Minuten, handelt es sich um Arbeitszeit, da die AN weitgehend davon abgehalten werden, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen.* Die Reaktionszeit ist gegebenenfalls iVm der durchschnittlichen Häufigkeit der Einsätze zu beurteilen.*Gewährte Erleichterungen sind zu berücksichtigen,* etwa wenn einem AN ein Dienstfahrzeug mit Sonderrechten im Straßenverkehr zu Verfügung gestellt wird und dieser deshalb schneller an den jeweiligen Arbeitsplatz gelangt.*

IZm der Reaktionsfrist ist zudem von Bedeutung, dass der AN in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist (örtliche Komponente), weil er wegen der möglichen Inanspruchnahme durch seinen AG zu Hause bleiben oder eine spezielle Ausrüstung mitführen muss, wenn er sich nach einem Anruf an seinem Arbeitsplatz einzufinden hat.*

Aber auch hier sind gewährte Erleichterungen 475 zu berücksichtigen, wie insb die Möglichkeit, der Inanspruchnahme durch seinen AG ohne Ortsveränderung nachzukommen.* Muss sich der AN zu keinem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhalten, spricht das tendenziell gegen eine Qualifikation der Bereitschaftszeiten als „Arbeitszeit“, da dies den Schluss zulässt, dass der AN in der Lage ist, diese Bereitschaftszeiten nach seinen eigenen Interessen zu entfalten.*

3.2.5.
Häufigkeit und Dauer der Arbeitseinsätze

Wenn der AN während seiner Bereitschaftszeiten im Durchschnitt häufig zur Erbringung von Leistungen herangezogen wird und diese Leistungen in der Regel nicht von kurzer Dauer sind, spricht das für eine Qualifikation als „Arbeitszeit“.* Dieses Kriterium ist freilich nur heranzuziehen, sofern eine objektive Schätzung möglich ist.* Wird ein AN im Durchschnitt nur selten in Anspruch genommen, kann dies jedoch nicht dazu führen, dass diese Bereitschaftszeiten zwingend als „Ruhezeiten“ anzusehen sind.*

3.2.6.
Rechtliche und organisatorische Komponenten

Im Rahmen der Gesamtbeurteilung können nur Einschränkungen berücksichtigt werden, die dem AN, sei es durch Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen AG, insb aufgrund des Arbeitsvertrags, der Arbeitsordnung oder des Bereitschaftsdienstplans, auferlegt werden.* Keine Arbeitszeit liegt vor, wenn sich die Beschränkungen, wie die Unmöglichkeit, den Arbeitsort zu verlassen, nicht aus einer Verpflichtung, sondern allein aus der besonderen Art dieses Ortes ergibt.*Organisatorische Schwierigkeiten, die die Folge natürlicher Gegebenheiten sind oder sich aus den Entscheidungen des betreffenden AN ergeben, wie die Wahl des Wohnorts oder die Abgelegenheit des Arbeitsplatzes, dürfen bei der Beurteilung nicht berücksichtigt werden.*

3.2.7.
Einschränkungen der Freizeitmöglichkeiten und Abgelegenheit des Arbeitsplatzes

Für die Einstufung nicht relevant ist die Frage, dass es in dem Gebiet, das der AN während der Bereitschaftszeit in der Praxis nicht verlassen kann, wenig Freizeitmöglichkeiten gibt oder dass sein Arbeitsplatz schwer zugänglich ist.*

3.2.8.
Andere berufliche Tätigkeiten während der Bereitschaftszeiten

Die eingeräumte Möglichkeit, während seiner Bereitschaftszeiten eine andere berufliche Tätigkeit auszuüben, ist nach dem EuGH ein wichtiger Hinweis darauf, dass AN keinen größeren Einschränkungen unterliegen, die sich ganz erheblich auf die Gestaltung ihrer Zeit auswirken.*

3.2.9.
Vorgaben hinsichtlich einer Mindestanzahl an Einsätzen

Gegen eine Qualifikation als „Arbeitszeit“ iSd AZ-RL spricht, wenn AN nicht verpflichtet sind, an allen Arbeitseinsätzen teilzunehmen, sondern nur an eine bestimmte Mindestanzahl an Einsätzen (zB drei Viertel) zu leisten haben, weil sie den Schluss zulassen, dass der AN die Bereitschaftszeiten nach seinen eigenen Interessen gestalten kann.*

3.2.10.
Der Arbeitsplatz als Wohnort

Sind Arbeitsplatz und Wohnort ident, genügt der bloße Umstand, dass der AN während einer vorgegebenen Bereitschaftszeit an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, um dem AG zur Verfügung zu stehen, nicht aus, um diesen Zeitraum als „Arbeitszeit“ einzustufen. In diesem Fall bedeutet das Verbot für den AN, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, nämlich nicht zwangsläufig, dass er sich außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten muss oder über seine Zeit nicht frei verfügen kann.* Vielmehr müssen hier weitere Kriterien hinzutreten.

3.2.11.
Beschränkung von Ruhezeiten

Zuletzt betont der EuGH häufig, dass die Einstufung von Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ andere Schutzbestimmungen unberührt lässt. Das betrifft insb die besonderen Pflichten, die den AG nach Art 5 und 6 der Arbeitsschutz-RahmenRL (89/391/EWG) in Bezug auf die Sicherheit und den Gesundheitsschutz ihrer AN obliegen. AG dürfen keine Bereitschaftszeiten einführen, die so lang oder so häufig sind, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit (dazu gehören psychosoziale Risiken wie Stress oder Burnout) des AN darstellen, unabhängig davon, ob sie als „Ruhezeiten“ iSd AZ-RL einzustufen sind.* Es ist Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem innerstaatlichen Recht die Modalitäten für die Umsetzung dieser Verpflichtung festzulegen.48)

3.3.
Analyse der Abgrenzungskriterien

Die Erweiterung der Rsp des EuGH dahingehend, dass auch solche Bereitschaftsdienste als „Arbeitszeit“ 476 iSd AZ-RL zu qualifizieren sind, die nicht vor Ort oder an einem vom AG bestimmten Ort zu erbringen sind, ist folgerichtig. Auch solche Dienste sind vom Schutz durch die AZ-RL erfasst, wenn die Gestaltungsmöglichkeiten der Bereitschaftszeiten objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigt werden. Die vorstehende Prüfformel des EuGH ist Ausfluss des Grundprinzips der Fremdbestimmtheit bei der Qualifizierung von Zeiten als Arbeitszeit. *Die oben genannten Kriterien fügen sich insofern gut in den bestehenden Rechtsrahmen und die Judikatur zum Arbeitszeitbegriff der AZ-RL ein.

Dass es dabei auf eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls ankommt, ist ebenfalls nachvollziehbar. Diese rechtswissenschaftliche Abgrenzungsmethode ist in diesem Zusammenhang deshalb sinnvoll, weil sie verhindert, dass durch Benennung oder Ausschluss einzelner Kriterien die Schutzbestimmungen der AZ-RL umgangen werden können. Die Gesamtabwägung ermöglicht passgenaue Einzelfallbeurteilungen am Maßstab der Fremdbestimmung, die freilich mit dem (gravierenden) Nachteil der Rechtsunsicherheit einhergeht.

Diese Unsicherheit wird zudem verstärkt, weil sich der EuGH in den der Rs Matzakfolgenden Entscheidungen darauf zurückzieht, dass es Aufgabe der vorlegenden Gerichte sei, zu prüfen, ob die in Rede stehenden Zeiten des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit iSd AZ-RL einzustufen sind. Der EuGH beschränkt sich in diesem Zusammenhang (lediglich) darauf, dem vorlegenden Gericht Hinweise zu den bei dieser Prüfung zu berücksichtigenden Kriterien zu geben.* Durch diese „Nicht-Entscheidungen“ fehlen Rechtsanwendern einerseits wichtige Anhaltspunkte, die die Rechtsunsicherheit vermindern würden, andererseits steht zu befürchten, dass diese Vorgehensweise einer einheitlichen Auslegung des Arbeitszeitbegriffs der AZ-RL nicht zuträglich sein wird.

Bei näherer Analyse der oben dargestellten Abgrenzungskriterien sind mE zwei Kriterien herauszuheben, die einer genaueren Beleuchtung bedürfen.

3.3.1.
Rechtliche und tatsächliche Beschränkungen – Primacy of facts

Auf heftigen Widerspruch muss die Aussage des EuGH treffen, wonach bei der Beurteilung nur solche Einschränkungen berücksichtigt werden können, die Rechtsvorschriften (wie Tarif- oder Arbeitsverträgen oder Arbeitsanordnung) entspringen.* Analog zum AN-Begriff* muss es auch bei der Qualifikation von Zeiträumen als Arbeitszeit darauf ankommen, ob Freiheiten und fehlende Beschränkungen tatsächlich so gehandhabt werden. Das Primat der Realität („Primacy of facts“) gegenüber vertraglichen Vereinbarungen ist ein essentielles Grundprinzip des Arbeitsrechts. Wäre es anders, wären die Rechtsfolgen des Arbeitsrechts beliebig und der AG könnte mit der bloßen Aufnahme entsprechender Vertragsklauseln die (meist ungewünschten) arbeitsrechtlichen Rechtsfolgen umgehen.*

Dies betrifft etwa die in der Rs Dublin City vom EuGH angesprochenen – für Rufbereitschaft ins Treffen geführten – Konstellationen, bei denen AN zwar eine Mindestanzahl an Diensten leisten müssen, es ihnen aber freisteht, welche Dienste sie nicht durchführen möchten. Dies erhöht die Selbstbestimmtheit der AN nämlich nur dann, wenn derartige Freiheiten tatsächlich genutzt werden oder genutzt werden können. Die Rsp des OGH zur vergleichbaren Problematik bei Vertretungs- und Ablehnungsrechten hat dies dahingehend gelöst, dass Vertretungs- und Ablehnungsrechte nur dann berücksichtigt werden dürfen, wenn sie auch tatsächlich genutzt werden oder bei objektiver Betrachtung zu erwarten ist, dass eine solche Nutzung erfolgt.* Ähnliche Überlegungen wären vom EuGH auch in diesem Zusammenhang zu erwarten gewesen, zumal gerade in bestimmten Bereichen die vertraglichen Vereinbarungen oft (deutlich) von der tatsächlichen Lebensrealität abweichen.

Ganz so zwingend dürfte der EuGH diese Vorgabe aber ohnehin nicht sehen, räumt er doch ein, dass die Möglichkeit einer weiteren Beschäftigung nur dann ein wichtiger Hinweis auf fehlende Fremdbestimmtheit sei, wenn sich herausstellt, dass der AN auch tatsächlich solche Tätigkeiten ausüben kann.*

Unbeachtlich müssen derartige Freiheiten ohnehin sein, wenn sie mit anderen vertraglichen Vereinbarungen in Widerspruch stehen.*

3.3.2.
Organisatorische Schwierigkeiten und Natur der Sache-Argumentationen

Diskussionswürdig sind in weiterer Folge die Aussagen des EuGH, wonach organisatorische Schwierigkeiten im Rahmen der Gesamtabwägung nicht zu berücksichtigen sind.* Während der Aussage hinsichtlich organisatorischer Schwierigkeiten, die sich aus den Entscheidungen des betreffenden AN ergeben, zuzustimmen ist,* diese erfolgen schließlich selbst- und gerade nicht 477fremdbestimmt, so gilt anderes möglicherweise für organisatorische Einschränkungen, die die Folge natürlicher Gegebenheiten sind (etwa wenn der AN das Gebiet während der Bereitschaftszeit in der Praxis nicht verlassen kann, keine Freizeitmöglichkeiten bestehen oder der Arbeitsplatz schwer zugänglich ist).*

Die diesbezügliche Diskussion erinnert an die „Natur der Sache“-Argumentation beim AN-Begriff. Demnach sollen relevante Faktoren, die sich aus der Natur der Sache ergeben, bei der Abgrenzung unberücksichtigt bleiben.* Diese Argumentationslinie erweist sich allerdings schon beim AN-Begriff als problematisch* und könnte dies auch hier sein. Leisten AN Bereitschaftsdienste etwa an einem entlegenen Ort, bei dem jede Freizeitaktivität, jedes Treffen mit Familie und Freunden oder das Surfen im Internet unmöglich ist, dann wären AN zwar formal selbstbestimmt. De facto sind aber die Möglichkeiten der freien Gestaltung der Bereitschaftszeiten objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigt.

Dennoch lassen sich diese Argumente mE nicht auf die in Rede stehende Abgrenzung von Arbeitszeit und Ruhezeit umlegen. Der Aufenthalt an einem abgelegenen Arbeitsplatz (zB Bohrinsel, Sendemast in den Bergen) und das Faktum, dass man von dort nicht mehr wegkommt oder Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, führt nicht dazu, dass jede Minute, die der AN dort verbringt, automatisch Arbeitszeit ist. Auch an diesen Orten gibt es Ruhezeiten, selbst wenn die persönlichen Entfaltungs- oder Bewegungsmöglichkeiten viel stärker eingeschränkt sind. Dies liegt zunächst am unterschiedlichen Schutzzweck der Bestimmungen zum AN-Begriff und zur Arbeitszeit. Auch wenn der EuGH immer wieder die Wahrung der „persönlichen und sozialen Interessen“ als weiteren Hygieneaspekt im Leben der AN betont,* liegt der Schutzzweck der AZ-RL in erster Linie im Gesundheitsschutz. So muss wohl festgehalten werden, dass der Gesundheitsschutz auch dann gewahrt ist, wenn keine Freizeitaktivitäten oder Treffen mit Familien und Freunden möglich sind, sofern sich der AN aus seiner Arbeitsumgebung zurückziehen kann, um sich zu entspannen und sich von der mit der Wahrnehmung seiner Aufgaben verbundenen Ermüdung zu erholen.*

Darüber sind AN wohl häufig ausreichend selbstbestimmt, da sie diese Zeiten zwar beschränkt, aber doch frei gestalten können. Auch wenn die Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, stehen meist immer noch zahlreiche andere Optionen offen, etwa Bücher zu lesen, Brettspiele zu spielen, Sport zu betreiben oder sich einfach auszuruhen. Zuletzt sind den AN die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung und vor allem die Beschränkungen der Entfaltungs- und Bewegungsmöglichkeiten wohl bei Vertragsabschluss bekannt und haben sie diese bei Abschluss auch bewusst in Kauf genommen.

4.
Auswirkungen auf das nationale Recht

Die Weiterentwicklung der Rsp des EuGH ist auch für die Auslegung des österreichischen Arbeitszeitbegriffs in § 2 Abs 1 Z 1 AZG relevant. Dieser ist nämlich iSd AZ-RL auszulegen. Es besteht nach den unionsrechtlichen Bestimmungen auch keine Möglichkeit, die Bedeutung der in Art 2 enthaltenen Begriffe einseitig (auch nicht zu Gunsten der AN) festzulegen.*

4.1.
Absolute Zahlen – Gesamtabwägung

Zukünftig wird bei der Abgrenzung von Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft eine Verlagerung 478 weg vom bloßen Messen der zu überwindenden Entfernungen und Reaktionszeiten festzustellen sein.* Wurde in der Vergangenheit etwa bei der Verpflichtung zum Eintreffen am Arbeitsplatz binnen 30 Minuten oder mehr von Rufbereitschaft ausgegangen,* so muss vom OGH zukünftig eine qualitativere Begründung am Maßstab der Fremdbestimmtheit vornehmen. Die Gerichte haben die einzelnen Kriterien auf ihr Vorliegen und ihre Gewichtung zu überprüfen und im Einzelfall abzuwägen.*

4.2.
Arbeitsbereitschaft im Home Office

Die oben dargestellte Rsp des EuGH bringt für die Abgrenzung von Arbeitsbereitschaft und Rufbereitschaft im Home Office (remote working) wertvolle Hinweise. Zunächst hält der EuGH fest, dass auch Bereitschaftsdienste zu Hause als Arbeitszeit iSd der AZ-RL qualifiziert werden können. Sind Arbeitsplatz und Wohnort ident, genügt der bloße Umstand, dass der AN während einer vorgegebenen Bereitschaftszeit an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, um dem AG zur Verfügung zu stehen, nicht aus, um diesen Zeitraum als „Arbeitszeit“ einzustufen. Vielmehr müssen weitere Voraussetzungen hinzutreten. Ausschlaggebend sind dabei im Wesentlichen zwei Kriterien: Erstens muss der AN über genügend Möglichkeiten verfügen, in den Bereitschaftszeiten tatsächlich persönlichen und sozialen Interessen nachzugehen. Bei der Bewertung absoluter Zahlen hinsichtlich der Reaktionszeit ist die fehlende Ortsveränderung im Vergleich zu Konstellationen, bei denen erst der Arbeitsweg anzutreten ist, zu berücksichtigen.* Zweitens darf die Häufigkeit und Dauer der zu erwartenden Arbeitseinsätze den AN nicht an der Planung und Durchführung auch nur irgendeiner Freizeitaktivitäten hindern.*

Wie in der Literatur bereits zutreffend herausgearbeitet, kann Arbeitsbereitschaft im „home office“ etwa dann vorliegen, wenn laufend mit relevanten Aufträgen per E-Mail zu rechnen ist* oder mit aufwändiger Kostümierung als „Online-Clown“ bereitgestanden werden muss.* Je enger die konkreten Vorgaben der AG sind und je größer die Einschränkungen, desto eher liegt (fremdbestimmte) Arbeitszeit vor.

4.3.
Beschränkung der Rufbereitschaft als Pflicht der Mitgliedstaaten

Die vom EuGH häufig betonte Pflicht zur Beschränkung von Rufbereitschaftszeiten ist für das nationale Recht insofern von Relevanz, als diese Rsp verdeutlicht, dass die Begrenzung von Rufbereitschaftszeiten – wie sie etwa § 20a AZG vorsieht – gerade nicht im Belieben der Mitgliedstaaten steht. Es ist vielmehr deren Pflicht, auch als Ruhezeit zu qualifizierende Rufbereitschaftszeiten zu beschränken, sodass diese keine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit (dazu gehören psychosoziale Risiken wie Stress oder Burnout) der AN darstellen. In diesem Sinne stellen die Beschränkungen des § 20a AZG (dem Grunde nach) auch keine Übererfüllung unionsrechtlicher Anforderungen („gold plating“) dar.

4.4.
Rufbereitschaft als (unzulässige) Arbeit auf Abruf?

Folgt man der vom EuGH nahegelegten Auslegung des Arbeitszeitbegriffs in der Rs Dublin City, wonach diese Bereitschaftsdienste mangels ausreichender Fremdbestimmtheit nicht als Arbeitszeiten, sondern als Ruhezeiten zu qualifizieren sind, führt dies nach dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu dem Ergebnis, dass mit dem AN überhaupt keine Arbeitszeiten vereinbart wurden. Der AN leistet, abgesehen von den tatsächlichen Arbeitseinsätzen, ausschließlich der Ruhezeit zuzuschlagende Rufbereitschaftsdienste.

Da Bereitschaftsdienste den AG erlauben, fallabhängig und rasch auf die Arbeitskraft der AN zuzugreifen, ähneln diese Sachverhalte den in der Literatur unter den Begriffen Arbeit auf Abruf (Arbeit nach Bedarf, Arbeit nach dem Konsensprinzip) diskutierten Arbeitsformen.* Der OGH hat diesbezüglich allerdings festgehalten, dass solche Vertragsgestaltungen, selbst wenn der konkrete Einsatz jeweils im Einvernehmen mit dem AN festgesetzt wird („Bedarfs-Konsensprinzip“), wegen Verstoßes gegen § 19c Abs 1 AZG, wonach die Lage der Normalarbeitszeit zu vereinbaren ist, unzulässig sind.* Dies muss mE jedenfalls auch für solche Konstellationen gelten, in welchen – abgesehen von den tatsächlichen Arbeitseinsätzen – ausschließlich Rufbereitschaftsdienste vereinbart werden.*

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob derartige Konstellationen nicht ohnehin als sittenwidrig anzusehen sind, insb wenn sowohl eine Mindesteinsatzzeit fehlt als auch die Bereitschaftszeit nicht bezahlt wird. Dies würde nämlich ein völliges Abbedingen von § 1155 und partiell von § 1152 ABGB bedeuten.*

4.5.
. Vollarbeit, Arbeitsbereitschaft, Rufbereitschaft oder Freizeit?

Des Weiteren sei noch darauf hingewiesen, dass die Rsp des EuGH (lediglich) Arbeitszeit von der Ruhezeit abgrenzt. Da das österreichische AZG aber zudem noch Untergruppen der Arbeits- 479 zeit (Vollarbeit und Arbeitsbereitschaft) bzw der Ruhezeit (Rufbereitschaft/Freizeit) kennt, bedarf es nach dem innerstaatlichen Recht einer weiteren Abgrenzung. Unstrittig ist dabei, dass AN, deren Kernarbeitsleistungen abgerufen werden, während deren Erbringung Vollarbeit leisten. Gerade in Randbereichen ist aber auch diese Abgrenzung umstritten.*

4.6.
Unionswidrigkeit der Bestimmung des § 5 Abs 1 AZG

Zuletzt muss zum wiederholten Male konstatiert werden, dass die Bestimmung des § 5 Abs 1 AZG unionsrechtswidrig ist. Werden Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit eingestuft, dann gelten die Beschränkungen der zulässigen Höchstarbeitszeit des Art 6. Abweichungen, wie sie der österreichische Gesetzgeber vorgesehen hat, sind in der AZ-RL nicht vorgesehen.

5.
Ausblick

Der EuGH hat in der jüngsten Vergangenheit seine Rsp zur Frage zum Vorliegen von Arbeitszeit bei Bereitschaftsdiensten weiterentwickelt. Kann wegen des Fehlens einer Verpflichtung, am Arbeitsplatz zu bleiben, eine Bereitschaftszeit nicht automatisch als „Arbeitszeit“ eingestuft werden, haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob sich eine solche Einstufung nicht aus den Konsequenzen der dem AN auferlegten Beschränkungen ergibt. Dies ist der Fall, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls zum Ergebnis führt, dass dem AN Einschränkungen auferlegt werden, die seine Möglichkeit, die Zeit während der Bereitschaftszeiten frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Entscheidendes Kriterium ist das Ausmaß der Fremdbestimmtheit während dieser Zeiträume.

Für die österreichische Rechtsordnung sind die Auswirkungen dieser Weiterentwicklung überschaubar. Dennoch wird diese Fortentwicklung aufgrund der Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls am Maßstab der Fremdbestimmung – ähnlich zum AN-Begriff – mit einer Zunahme der Rechtsunsicherheit einhergehen, weshalb zukünftig mit zahlreichen neuen Verfahren zu rechnen sein wird.