147Vorsätzliche Vereitelung eines Bewerbungsgespräches bei Krankmeldung ohne akute körperliche Erkrankung
Vorsätzliche Vereitelung eines Bewerbungsgespräches bei Krankmeldung ohne akute körperliche Erkrankung
Das Arbeitsmarktservice (AMS) verhängte mit Bescheid vom 4.7.2017 über den Leistungsbezug des Beschwerdeführers eine sechswöchige Sperre gem § 38 iVm § 10 AlVG für den Zeitraum 14.6. bis 25.7.2017. Begründet hat das AMS die Leistungssperre damit, dass sich der Beschwerdeführer auf die vom AMS vermittelte zumutbare Beschäftigung als Transitarbeitskraft nicht beworben hat, da er am 14.6.2017 nicht zum Vorstellungsgespräch beim DG erschienen ist.
In der dagegen fristgerecht eingebrachten Beschwerde bestätigte der Beschwerdeführer den Erhalt der Zuweisung, begründete aber sein Nichterscheinen zum Vorstellungsgespräch mit einem Krankenstand im Zeitraum 13.6. bis 20.6.20217, den er dem AMS gemeldet habe. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 20.9.2017 gab das AMS der Beschwerde keine Folge und dehnte den Sanktionszeitraum aufgrund einer bereits vorliegenden Pflichtverletzung iSd § 10 Abs 1 AlVG auf acht Wochen aus. Begründend führte das AMS aus, nach den Umständen des Falles davon auszugehen, dass der – nach den (insoweit maßgeblichen) Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) – arbeitsfähige Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Vorstellungstermins nicht tatsächlich erkrankt gewesen sei, sondern dies lediglich vorgeschoben habe. Er habe sich bereits achtmal mit der Behauptung, krank zu sein, für konkrete Beschäftigungsangebote bzw Wiedereingliederungsmaßnahmen entschuldigt und, darauf angesprochen, gegenüber einer Betreuerin des AMS geäußert, dass er „das so machen müsse“, weil ihm sonst „das Geld“ gesperrt würde. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer sich der Verpflichtung, sich vermitteln zu lassen, dadurch entziehe, dass er sich „krankschreiben“ lasse.
Dagegen brachte der Beschwerdeführer fristgerecht einen Vorlageantrag ein. Das BVwG gab der Beschwerde in einem ersten Rechtsgang statt. Dieses Erkenntnis wurde jedoch infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben (vgl VwGH 6.5.2020, Ra 2019/08/0114). Mit dem – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen – nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis gab das BVwG der Beschwerde ein weiteres Mal statt, hob die Beschwerdevorentscheidung des AMS ersatzlos auf und erklärte die Revision für nicht zulässig.
Das BVwG stellte fest, dass der Beschwerdeführer an einer Persönlichkeitsstörung sowie einer Somatisierungsstörung leide, die immer dann „schlagend“ werde, wenn von ihm „als unangenehm empfundene Verpflichtungen“ bevorstünden. Der Beschwerdeführer habe sich „vor der Verpflichtung, wieder täglich früh aufzustehen und eine geregelte Arbeitszeit einhalten zu müssen“, gesehen. Er habe sich nicht in der Lage gefühlt, „dieser Verpflichtung“ nachzukommen und habe sich vor dem Vorstellungsgespräch von seiner Hausärztin krankschreiben lassen. Weiters führte das BVwG im Zuge seiner rechtlichen Beurteilung aus, der Beschwerdeführer sei arbeitsfähig und die konkret zugewiesene Stelle auch zumutbar gewesen. Das Verhalten des Beschwerdeführers, nicht zum Vorstellungsgespräch am 14.6.2017 zu erscheinen, sei kausal für das Nichtzustandekommen der zugewiesenen Beschäftigung gewesen; er sei auch nicht durch „eine akute körperliche Erkrankung“ an der Teilnahme am Vorstellungsgespräch gehindert gewesen, sondern wäre dazu „körperlich in der Lage“ gewesen. Ein (bedingt) vorsätzliches Handeln des Beschwerdeführers liege aber dennoch nicht vor. Laut BVwG habe sich der Beschwerdeführer nämlich „infolge seiner Persönlichkeitsstörung subjektiv“ der Herausforderung, „ein Vorstellungsgespräch führen und nachfolgend in den angebotenen Arbeitsalltag einsteigen zu müssen“, nicht gewachsen gesehen. Diese „Herausforderung“ habe ihm bereits im zeitlichen Vorfeld „psychosomatische Beschwerden“ bereitet. Es sei nicht festzustellen gewesen, dass der Beschwerdeführer bewusst durch unrichtige Angaben gegenüber seiner Hausärztin eine „nicht vorliegende Erkrankung“ vorgeschoben habe.
Das AMS erstattete dagegen eine außerordentliche Revision und brachte zur Zulässigkeit der Revision 303 zusammengefasst vor, das BVwG habe seine Annahme, die Vereitelung des Zustandekommens des Beschäftigungsverhältnisses durch den Beschwerdeführer sei nicht (bedingt) vorsätzlich erfolgt, nicht nachvollziehbar begründet. Es sei insoweit von der Rsp des VwGH abgewichen.
Der VwGH hob das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf und führte dazu aus, dass bei einer Person, die aufgrund einer herabgesetzten körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit in Folge einer Erkrankung – insb auch einer psychischen Störung – nicht in der Lage wäre, „eine geregelte Arbeitszeit“ einzuhalten, „ein Vorstellungsgespräch zu führen“ und überhaupt in einen „Arbeitsalltag einzusteigen“, von Invalidität (§ 255 ASVG) bzw Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG) und damit von fehlender Arbeitsfähigkeit nach § 8 Abs 1 AlVG auszugehen wäre. Davon, dass der Beschwerdeführer tatsächlich nicht arbeitsfähig in diesem Sinn gewesen wäre, ist das BVwG allerdings nicht ausgegangen. Es hat zwar ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sich mit Blick auf die angebotene Beschäftigung „subjektiv“ nicht in der Lage gefühlt habe, insb eine „geregelte Arbeitszeit“ einzuhalten bzw in den „angebotenen Arbeitsalltag“ einzusteigen. Es hat aber auch ausdrücklich – wenngleich erst disloziert im Zuge der rechtlichen Beurteilung – festgestellt, dass der Beschwerdeführer ungeachtet seiner Leidenszustände tatsächlich arbeitsfähig gewesen sei. Dazu lag ein vom Kompetenzzentrum Begutachtung der PVA erstelltes Gutachten aus den Fachgebieten der Neurologie und Psychiatrie sowie der Allgemeinmedizin vor, wonach die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers krankheitsbedingt wohl herabgesetzt, Arbeitsfähigkeit aber gegeben sei.
Hinsichtlich der Beurteilung, ob ein bestimmtes Verhalten einer arbeitslosen Person als Vereitelung iSd § 10 Abs 1 AlVG zu qualifizieren ist, kommt es zunächst darauf an, ob dieses Verhalten für das Nichtzustandekommen des (zumutbaren) Beschäftigungsverhältnisses ursächlich war. Ist die Kausalität zwischen dem Verhalten des Vermittelten und dem Nichtzustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses zu bejahen, muss ermittelt werden, ob der Vermittelte vorsätzlich gehandelt hat, wobei bedingter Vorsatz genügt. Ein bloß fahrlässiges Handeln reicht zur Verwirklichung des Tatbestandes nicht hin. Erforderlich ist somit, dass das Nichtzustandekommen der Beschäftigung in einem darauf gerichteten oder dieses zumindest in Kauf nehmendes Verhalten der vermittelten Person seinen Grund hat.
Der VwGH verweist hinsichtlich der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer bedingter Vorsatz zur Last gelegt werden kann, darauf, dass bei einer arbeitslosen Person, die trotz Feststellung des Bestehens von Arbeitsfähigkeit iSd § 8 Abs 1 AlVG mit dem Verweis auf ihren Gesundheitszustand in der oben dargestellten Eindeutigkeit und Nachhaltigkeit generell die Annahme von Erwerbstätigkeit verweigert, eine (generelle) Arbeitsunwilligkeit iS von § 9 Abs 1 AlVG anzunehmen wäre. Ausgehend von einer (gutachterlich) festgestellten Arbeitsfähigkeit ist ein Arbeitsloser – wie der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall – somit verpflichtet, sich hinsichtlich einer vom AMS vermittelten zumutbaren Beschäftigung arbeitswillig zu zeigen; dies auch dann, wenn er (weiterhin) subjektiv der Ansicht sein sollte, (gänzlich) arbeitsunfähig zu sein. Die festgestellte „subjektive“ Annahme des Beschwerdeführers, entgegen der gutachterlichen Feststellung der Arbeitsfähigkeit krankheitsbedingt nicht in der Lage zu sein, geregelte Arbeitszeiten einzuhalten bzw in einen Arbeitsalltag einzusteigen, somit überhaupt eine Erwerbstätigkeit beginnen zu können, kann ihn daher nicht entschuldigen und – entgegen den Ausführungen des BVwG – die (bedingte) Vorsätzlichkeit einer Vereitelungshandlung nach § 10 Abs 1 AlVG nicht ausschließen.
Ein Arbeitsloser wäre nach der Rsp des VwGH zu § 10 Abs 1 AlVG allerdings dann nicht verhalten, sich zu bewerben, wenn und solange er infolge Krankheit arbeitsunfähig ist (VwGH 19.9.2007, 2006/08/0189; VwGH 22.2.2012, 2009/08/0112). Darunter zu verstehen ist, dass einer arbeitslosen Person auf Grund einer akuten Erkrankung – somit eines vorübergehenden, die Arbeitsfähigkeit iSd § 8 Abs 1 AlVG nicht ausschließenden Leidenszustandes – eine Bewerbung (aktuell) nicht möglich bzw nicht zumutbar ist. Derartiges hat das BVwGH jedoch hinsichtlich des für den 14.6.2017 angesetzten Vorstellungsgespräches nicht festgestellt, sondern ausgeführt, der Beschwerdeführer sei nicht durch „eine akute körperliche Erkrankung“ an der Teilnahme am Vorstellungsgespräch gehindert, sondern dazu „körperlich in der Lage“ gewesen.
Trotz Fehlens einer Erkrankung, die bei objektiver Betrachtung die Teilnahme an einem Vorstellungsgespräch unmöglich oder unzumutbar macht, könnte ein (bedingt) vorsätzliches Handeln allerdings auch dann nicht angenommen werden, wenn der Vermittelte darlegt, dass er sich aus nachvollziehbaren Gründen für nicht in der Lage erachtet hat, aufgrund einer (akuten) Erkrankung zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Das wäre insb dann zu bejahen, wenn ein behandelnder Arzt gegenüber der arbeitslosen Person einen (akuten) Krankheitszustand diagnostiziert, der der Teilnahme am Vorstellungsgespräch entgegensteht. Auf ihr Vertrauen auf diese Diagnose kann sich die arbeitslose Person allerdings dann nicht berufen, wenn ihr deren Unrichtigkeit bzw Unzuverlässigkeit bekannt ist; dies wäre insb dann der Fall, wenn die ärztliche Einschätzung auf bewusst unrichtigen bzw den Leidenszustand bewusst übertreibenden Angaben des bzw der Arbeitslosen gründet. 304
Aus der vom BVwG getroffenen Feststellung, dass der Beschwerdeführer sich vor dem Hintergrund, dass er sich nicht in der Lage gesehen habe, früh aufzustehen und eine geregelte Arbeitszeit einhalten zu müssen, von seiner Hausärztin habe „krankschreiben lassen“, ist dem VwGH zufolge nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer im dargestellten Sinn auf eine ärztliche Diagnose hätte vertrauen können. Dieser hat im Übrigen selbst im Verfahren des BVwG eingestanden, im Zuge der Krankschreibung keinen Kontakt mit der behandelnden Ärztin gehabt zu haben. Die Bestätigung des Krankenstandes sei ohne ein Gespräch mit der Ärztin bzw eine Untersuchung auf sein Ersuchen von einer Arzthelferin ausgestellt worden. Damit vermögen laut VwGH die Feststellungen des BVwG, seine rechtliche Beurteilung, dem Beschwerdeführer könne kein (bedingt) vorsätzliches Verhalten und damit keine Vereitelung des Zustandekommens der Beschäftigung iSd § 10 Abs 1 AlVG vorgeworfen werden, nicht zu tragen. Da das BVwG somit die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gem § 42 Abs 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.