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Kein Anspruch auf Kostenersatz für pränatale Diagnostik bei Wahlarzt

ELISABETHHANSEMANN
§§ 132c Abs 1 Z 1 und Abs 3, 131 ff ASVG

Die Annahme eines Kostenersatzanspruchs des Versicherten für die Inanspruchnahme humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose bei einem Wahlarzt würde den Absichten des Gesetzgebers zuwiderlaufen, wonach gerade kein Rechtsanspruch des Versicherten auf Durchführung solcher Maßnahmen bestehen soll.

SACHVERHALT

Die am 14.9.1978 geborene Kl wendete sich in ihrer 14. Schwangerschaftswoche am 14.2.2019 – somit in ihrem 41. Lebensjahr – zur Abklärung des Risikos eines Down-Syndroms an ein privates Ärztezentrum, das in keiner Vertragsbeziehung zur Bekl steht. Dort wurde ein sogenannter „Combined-Test“ und ein sogenannter „Harmony-Test“ durchgeführt, wofür die Kl insgesamt € 830,- zahlte. Mit Bescheid vom 14.1.2020 lehnte die bekl Österreichische Gesundheitskasse den Antrag der Kl auf Gewährung einer Kostenerstattung für die beiden Tests ab. Mit ihrer Klage begehrte die Kl eine Kostenerstattung iHv € 830,- und brachte vor, dass ein „Combined-Test“ nur bis zur 14. Schwangerschaftswoche möglich sei und nur das private Ärztezentrum diesen Test kurzfristig angeboten habe. Die Bekl wendete ein, dass für die Inanspruchnahme humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose bei einem Wahlarzt kein Kostenersatz vorgesehen sei.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht gab der Klage statt. Die Kl habe nach § 132c Abs 1 ASVG und § 4 der Verordnung BGBl 1981/274 Anspruch auf die Durchführung dieser Tests gehabt. Nach § 343a Abs 1 ASVG wäre zwischen dem Dachverband und der Österreichischen Ärztekammer ein Gesamtvertrag abzuschließen gewesen, der die Vergütung dieser Leistungen regelt, was aber nicht geschehen sei. Da auch der Satzung der Bekl keine Tarife für die erbrachten Leistungen zu entnehmen seien, habe die Kl Anspruch auf volle Kostenerstattung.

Auch das Berufungsgericht bejahte einen Kostenerstattungsanspruch, weil für die Durchführung humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnostik nach § 132c Abs 3 iVm § 132b Abs 2 ASVG „insbesondere“ Vertragspartner und eigene Einrichtungen der Versicherungsträger in Betracht kämen, wodurch die Inanspruchnahme eines Wahlarztes gerade nicht ausgeschlossen sei. Obwohl die durchgeführten Tests nicht als Krankenbehandlung zu qualifizieren seien, ergebe sich der Kostenersatzanspruch der Kl aus einer Analogie zu § 133 Abs 2 ASVG. Hinsichtlich der Höhe des Kostenersatzes differenzierte das Berufungsgericht aber zwischen dem „Combined-Test“ als Sachleistung und dem „Harmony-Test“ als Leistung aus „kassenfreiem Raum“, für welchen ein Kostenzuschuss analog zu § 131b ASVG gebühre. Da erforderliche Feststellungen für die Höhe der Kostenerstattung fehlten, hob das Berufungsgericht das Urteil auf und verwies die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurück. Eine Revision an den OGH hielt das Berufungsgericht für zulässig.

Der OGH hielt den Rekurs der Bekl für zulässig und berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„2. Nach § 116 Abs 1 Z 1 ASVG trifft die Krankenversicherung ua Vorsorge für die Erhaltung der Volksgesundheit. Dazu gehören nach § 132c Abs 1 Z 1 ASVG auch humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose. Die Durchführung dieser Maßnahmen ist nach § 132c Abs 3 ASVG 306 den Trägern der Krankenversicherung übertragen, wobei die Bundesministerin für Gesundheit, Familie und Jugend durch Verordnung den Kreis der hierfür „in Betracht kommenden Personen“ festlegen kann (§ 132c Abs 2 Z 2 ASVG). […]

3. Humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose zählen damit zu den „Pflichtaufgaben“ der Krankenversicherungsträger […]. Im Gegensatz zu den „Pflichtleistungen“ sind „Pflichtaufgaben“ ihrer Rechtsnatur nach freiwillige Leistungen, die zwar von den Versicherungsträgern erbracht werden sollen, auf die aber kein individueller Rechtsanspruch besteht […]. Im Gegensatz zu Krankenbehandlungen sind Vorsorgemaßnahmen für die Erhaltung der Volksgesundheit auch nicht im Leistungskatalog der Krankenversicherung nach § 117 ASVG enthalten. Nach den Vorgaben des Gesetzes hatte die Klägerin daher keinen individuellen Rechtsanspruch auf Durchführung dieser Maßnahmen.

[…]

5. Die Regeln über die Erstattung der Kosten bei der Inanspruchnahme von Wahlärzten in §§ 131 ff ASVG sind schon ihrem Wortlaut nach nur auf Krankenbehandlungen (ärztliche Hilfe, Heilmittel, Heilbehelfe) anzuwenden, nicht aber auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose. […]

6. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts verbietet sich eine analoge Anwendung der Regeln über den Kostenersatz auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose schon deshalb, weil der Gesetzgeber die Krankenbehandlung als „Pflichtleistung“ und die Vorsorge für die Erhaltung der Volksgesundheit als „Pflichtaufgabe“ unterschiedlichen Regelungsregimen unterworfen hat und deshalb keine planwidrige Regelungslücke vorliegt (Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil, § 132b ASVG Rz 5). Die Annahme eines Kostenersatzanspruchs des Versicherten für die Inanspruchnahme humangenetischer Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose bei einem Wahlarzt würde den Absichten des Gesetzgebers zuwiderlaufen, wonach gerade kein Rechtsanspruch des Versicherten auf Durchführung solcher Maßnahmen bestehen soll.

7. Nach § 132c Abs 3 iVm § 132b Abs 2 ASVG kommen für die Durchführung der humangenetischen Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose „insbesondere“ Vertragsärzte, Einrichtungen der Vertragsärzte und sonstiger Vertragspartner, Vertrags-Gruppenpraxen sowie eigene Einrichtungen in Betracht. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts kann daraus aber nicht abgeleitet werden, dass solche Maßnahmen auch von Wahlärzten durchgeführt werden könnten. Das ASVG bezeichnet mit „Vertragsärzte“ und „Vertragspartner“ nämlich durchwegs Personen und Einrichtungen, die aufgrund der mit den Versicherungsträgern abgeschlossenen Verträge Krankenbehandlungen durchführen, weshalb durch das Adverb „insbesondere“ bloß zum Ausdruck gebracht wird, dass im Bereich der Vorsorge auch Verträge mit Einrichtungen denkbar sind, die keine Krankenbehandlungen durchführen (Grillberger in Grillberger/Mosler, Vertragspartnerrecht 257).

8. Auch der Umstand, dass der Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und die Österreichische Ärztekammer nach § 343a Abs 1 ASVG einen Gesamtvertrag über die Durchführung und Vergütung der humangenetischen Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose abschließen sollen […], ist ein Hinweis darauf, dass außerhalb solcher Verträge kein Kostenersatz beansprucht werden kann […].

9. Selbst wenn ein solcher Gesamtvertrag bislang nicht abgeschlossen worden sein sollte, kann daraus – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – kein Kostenersatzanspruch der Klägerin abgeleitet werden. Der Oberste Gerichtshof hat zwar zu 10 ObS 16/87 (SSV-NF 1/10) ausgesprochen, dass der Versicherte, der während eines vertragslosen Zustands die Pflichtleistung der Gesundenuntersuchung durch einen Privatarzt in Anspruch nimmt, in Analogie zu § 131a ASVG einen Kostenerstattungsanspruch hat, doch ist damit für den vorliegenden Fall nichts gewonnen, weil die Gesundenuntersuchung nach § 132b Abs 1 ASVG eine Pflichtleistung der Versicherungsträger darstellt, was auf humangenetische Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose aber nicht zutrifft.“

ERLÄUTERUNG

Die Aufgaben der KV sind in § 116 ASVG normiert. Darunter fallen gem Abs 1 Z 1 leg cit die evidenzbasierte Früherkennung von und Frühintervention bei Krankheiten und die Erhaltung der Volksgesundheit. Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit zählen somit zu den „Pflichtaufgaben“ der KV. Welche Maßnahmen damit insb gemeint sind, wird in § 132c Abs 1 ASVG demonstrativ aufgezählt. In Z 1 leg cit werden humangenetische Vorsorgemaßnahmen insb auch durch pränatale Diagnosen genannt. Sowohl beim sogenannten „Combined-Test“ als auch beim „Harmony-Test“ handelt es sich um ein nicht-invasives Untersuchungsverfahren der Pränataldiagnostik, bei denen sich anhand von Ultraschall- und Blutuntersuchungen der Mutter insb chromosale Veränderungen beim ungeborenen Kind festgestellt werden können.

Die Leistungsansprüche aus der KV sind in § 117 ASVG normiert. Die Erhaltung der Volksgesundheit und somit die humangenetische Vorsorgemaßnahmen sind in diesem Katalog nicht enthalten. Daraus schließt der OGH, dass es sich bei humangenetischen Vorsorgemaßnahmen durch pränatale Diagnose zwar um eine „Pflichtaufgabe“ der KV, allerdings um keine „Pflichtleistung“ handelt. Im Gegensatz zu den „Pflichtleistungen“ besteht auf die Erbringung von „Pflichtaufgaben“ gerade kein individueller Rechtsanspruch (OGH10 ObS 258/02t307 SSV-NF 17/17; OGH 22.5.2021, 10 ObS 21/21t; Ivansits, DRdA 2015, 503 f).

Gem § 132c Abs 2 Z 2 ASVG kann über Verordnung des Gesundheitsministeriums das Ziel sowie der Kreis der für humangenetische Vorsorgemaßnahmen in Betracht kommenden Personen festgelegt werden. In der Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz vom 20.5.1981 über vordringliche Maßnahmen zur Erhaltung der Volksgesundheit, BGBl 1981/274, kommen als Zielgruppe für pränatale Diagnosen ua Frauen über 35 Jahren in Betracht.

Über die Auswirkung einer solchen Verordnung des Gesundheitsministeriums auf die Rechtswirkung der Pflichtaufgaben finden sich in der Literatur unterschiedliche Ansätze: Ein Teil der Lehre erkennt eine Einklagbarkeit bereits dann an, wenn die Maßnahmen und der anspruchsberechtigte Personenkreis in der Verordnung des Gesundheitsministeriums konkret festgelegt sind (Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 132c ASVG Rz 5 [Stand 1.6.2021, rdb.at]).Der andere Teil sieht in der Funktion der Verordnung lediglich die Konkretisierung des Umfanges der „Pflichtaufgabe“ und gerade keine Umwandlung in eine einklagbare „Pflichtleistung“ (Ivansits, Das Recht der Prävention und Gesundheitsförderung in der österreichischen Sozialversicherung, DRdA 2015, 500 [505]).

Der OGH lässt in der gegenständlichen E die Frage, ob eine nicht einklagbare „Pflichtaufgabe“ zu einer einklagbaren „Pflichtleistung“ wird, sobald eine nach § 132c Abs 2 ASVG erlassene Verordnung die Maßnahme und den anspruchsberechtigten Personenkreis konkret festlegt, unbeantwortet, da die aktuelle Verordnung ohnehin keinen individuellen Rechtsanspruch vorsieht. Der OGH kommt somit zum Schluss, dass der Gesetzgeber gerade keinen Rechtsanspruch auf die Durchführung humangenetischer Vorsorgemaßnahmen implementieren wollte. Daher besteht nach Ansicht des OGH auch keine planwidrige Regelungslücke und eine analoge Anwendbarkeit der Regeln über den Kostenersatz (wie etwa in OGH 30.6.1987, 10 ObS 16/87 – Kostenersatz für eine Gesundenuntersuchung durch einen Privatarzt) ist ausgeschlossen.

Somit wäre eine Gesetzesänderung notwendig, damit der in der Verordnung genannte Personenkreis auch tatsächlich einen durchsetzbaren Rechtsanspruch auf die gegenständlichen Maßnahmen hat. Denkbar wäre eine Aufnahme humangenetischer Vorsorgemaßnahmen nach § 132c Abs 1 Z 1 ASVG in § 117 Z 1 leg cit oder – folgt man der Lehmeinung von Windisch-Graetz – eine Konkretisierung der Verordnung.