153Rechtsschutzinteresse des Versicherungsträgers besteht, sobald ungenügende Anzahl an Schwerarbeitsmonaten gerichtlich festgestellt werden
Rechtsschutzinteresse des Versicherungsträgers besteht, sobald ungenügende Anzahl an Schwerarbeitsmonaten gerichtlich festgestellt werden
Die Feststellung von Schwerarbeitszeiten führt zur Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf etwaige zukünftige Leistungsansprüche. Damit ist eine materielle Beschwer zu bejahen, auch wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage zu keinen Leistungsansprüchen des Versicherten führen können.
Die Pensionsversicherungsanstalt stellte mit Bescheid fest, dass der am 10.8.1962 geborene Kl zum Feststellungszeitpunkt 1.6.2020 insgesamt 509 Versicherungsmonate erworben hat, lehnte aber die Feststellung von Schwerarbeitsmonaten ab. Der Kl begehrte die Feststellung seiner erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung im Zeitraum von 1.1.2003 bis 31.5.2020 als Schwerarbeitsmonate.
Das Erstgericht gab der Klage teilweise statt und stellte Schwerarbeitsmonate in den Monaten Jänner und Februar 2016, im Jänner 2017 sowie im Jänner, April und Dezember 2018 fest. Die gegen den klagsstattgebenden Teil des Urteils eingebrachte Berufung der Bekl wies das Berufungsgericht mit der Begründung zurück, sie wäre nicht beschwert, da aufgrund der nur sechs festgestellten Schwerarbeitsmonate der Kl bis zur Erreichung seines Regelpensionsalters keinen Anspruch auf eine Schwerarbeitspension begründen könne. Die Bekl brachte in weiterer Folge Rekurs gegen die Zurückweisung ihrer Berufung ein und beantragte die gänzliche Abweisung der Klage.
Der Rekurs war zulässig und auch berechtigt. Der angefochtene Beschluss wurde vom OGH daher aufgehoben und die Sozialrechtssache zur Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
„1. […] Um im Fall von Schwerarbeit die Vergünstigung einer abschlagsfreien Pension vor Erreichen des Regelpensionsalters in Anspruch nehmen zu können, müssen nach § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG mindestens 120 Schwerarbeitsmonate innerhalb der letzten 240 Kalendermonate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) erworben werden. Diese Voraussetzung kann der Kläger bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres am 10.8.2027 nicht mehr erfüllen, auch wenn das Erstgericht sechs Schwerarbeitsmonate in den Jahren 2016 bis 2018 festgestellt hat.
2. Das Rechtsschutzbedürfnis (Beschwer) ist eine Voraussetzung der Rechtsmittelzulässigkeit (RS0043815). Eine Beschwer liegt nur vor, wenn der Rechtsmittelwerber ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746). Dies erfordert grundsätzlich sowohl eine formelle Beschwer, das heißt, dass die Entscheidung von dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers abweicht, als auch eine materielle Beschwer, die dann vorliegt, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt (RS0041868 [T3]; RS0118925). Hingegen fehlt das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme, zumal es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, über bloß theoretisch bedeutsame Fragen abzusprechen (RS0002495).
3. Die Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten nach § 247 ASVG hat zur Folge, dass die erworbenen Zeiten bindend festgestellt werden und daher einem künftigen Leistungsverfahren ohne weitere Prüfung zugrundezulegen sind, wodurch es sich bei diesem Feststellungsverfahren um einen vorgezogenen Teil des Leistungsverfahrens handelt (RS0084976). Die Feststellung des Erstgerichts, dass der Kläger sechs Schwerarbeitsmonate erworben habe, hat deshalb zur Folge, dass die Beklagte in einem künftigen Leistungsverfahren diese Schwerarbeitszeiten nicht mehr bestreiten kann, wodurch in ihre prozessuale Rechtsstellung eingegriffen wurde. Richtig ist zwar, dass die vom Erstgericht festgestellten Schwerarbeitsmonate nach derzeitiger Rechtslage keine Pensionsansprüche des Klägers begründen können, doch ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtslage ändert.
4. Das Berufungsgericht hat sich auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 10 ObS 97/21v gestützt, in der einem Versicherten, der mit seiner Berufung die Feststellung von zwölf Schwerarbeitsmonaten begehrte, die Beschwer abgesprochen 314 wurde, weil er die Mindestzahl von 120 Schwerarbeitsmonaten bis zum Regelpensionsalter nicht mehr erreichen konnte. Diese Entscheidung betraf aber einen Fall, in dem das Erstgericht dem Versicherten diese zwölf Schwerarbeitsmonate ohnehin zugebilligt, das Feststellungsbegehren aber mangels Feststellungsinteresse abgewiesen hatte, wodurch – anders als im vorliegenden Fall – gerade keine bindende Feststellung über das Vorliegen von Schwerarbeitszeiten getroffen wurde.
5. Da die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu einer Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf künftige Leistungsansprüche führt, ist eine Beschwer auch dann anzunehmen, wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage keine Leistungsansprüche des Versicherten begründen können, weshalb das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten nicht mangels Beschwer zurückweisen hätte dürfen. […]
Gegenstand dieser E war die Feststellung von Schwerarbeitszeiten. Gem § 247 Abs 2 ASVG können Versicherte frühestens zehn Jahre vor Vollendung des Anfallsalters nach § 607 Abs 12 ASVG bzw frühestens zehn Jahre vor Vollendung des frühestmöglichen Anfallsalters nach § 4 Abs 3 APG Schwerarbeitszeiten feststellen, wenn auf Grund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen nach § 607 Abs 14 ASVG oder nach § 4 Abs 3 APG vor der Erreichung des Regelpensionsalters erfüllt werden können.
Das frühestmögliche Anfallsalter für männlich Versicherte, wie den am 10.8.1962 geborenen Kl, ist nach § 4 Abs 3 APG das 60. Lebensjahr. Die Pensionsform nach § 607 Abs 12 ASVG, die als Langzeitversicherungspension mit Schwerarbeit bezeichnet wird, ist für den Kl nicht anwendbar, da sie nur männlich Versicherte betrifft, die nach dem 31.12.1953 und vor dem 1.1.1959 geboren sind.
Zur Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen der Schwerarbeitspension ist, neben der Vollendung des 60. Lebensjahres, die Erfüllung der Wartezeit von mindestens 540 Versicherungsmonaten (45 Jahre) notwendig. Dabei müssen innerhalb der letzten 240 Kalendermonate (20 Jahre) vor dem Stichtag mindestens 120 Schwerarbeitsmonate (10 Jahre) iSd Verordnung der Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz über besonders belastende Berufstätigkeiten (SchwerarbeitsVO) idF BGBl II 2019/413erworben werden.
Der Vorteil einer Schwerarbeitspension besteht im Vergleich zu anderen vorzeitigen Pensionsformen aufgrund des Versicherungsfalls des Alters, wie bspw der Korridorpension nach § 4 Abs 2 APG, einerseits im niedrigeren Anfallsalter und andererseits in geringeren Abschlägen in der Höhe von 1,8 % pro Jahr bzw 0,15 % pro Monat vor dem Regelpensionsalter. Eine abschlagsfreie vorzeitige Pensionierung ist durch die Feststellung von Schwerarbeitszeiten gem § 247 Abs 2 ASVG jedoch – entgegen den Ausführungen des OGH – gesetzlich nicht vorgesehen.
Der Prüfung von Schwerarbeitszeiten gehen umfangreiche Erhebungen voraus. Eine bereits vor dem Antrag auf die Schwerarbeitspension beantragte Feststellung der erworbenen Versicherungsmonate als Schwerarbeitsmonate ist dabei im Hinblick auf etwaige Beweisschwierigkeiten länger zurückliegender Sachverhalte für die Versicherten von Vorteil. Das gegenständliche erstinstanzliche Beweisverfahren ergab, dass der Kl im Zeitraum von 1.1.2003 bis 31.5.2020 nur in sechs Monaten Schwerarbeit iSd SchwerarbeitsVO verrichtet hat. Das Erstgericht stellte diese Monate – entgegen der Rsp in OGH 22.6.2021, 10 ObS 97/21v – urteilsmäßig fest, obwohl die Voraussetzungen der Schwerarbeitspension (konkret: 120 Schwerarbeitsmonate innerhalb der letzten 240 Kalendermonate vor dem Stichtag) für den Kl nicht mehr erreichbar sind. Der Pensionsversicherungsträger sah jedoch selbst den Erwerb dieser vom Erstgericht festgestellten Schwerarbeitsmonate als nicht gegeben an und legte daher gegen das Urteil Berufung ein.
Das Berufungsgericht wies die gegen den klagsstattgebenden Teil des Urteils gerichtete Berufung der Bekl zurück, weil die Feststellung von sechs Schwerarbeitsmonaten auch in Zukunft keinen Anspruch des Kl auf Schwerarbeiterpension begründen können und die Bekl deshalb nicht (materiell) beschwert sei.
Der OGH sah jedoch die materielle Beschwer iS einer Beeinträchtigung der Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers gegeben, da die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu einer Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf künftige Leistungsansprüche führt und es nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Rechtslage in Zukunft ändern könnte. Diese Argumentation erscheint vor der zitierten E zu OGH 22.6.2021, 10 Ob S 97/21v, auf den ersten Blick unschlüssig. In der dortigen E entschied der OGH, dass eine materielle Beschwer des Versicherten, also von Seiten des Kl, bei der Feststellung von Schwerarbeitsmonaten nicht gegeben ist, wenn die erforderliche Anzahl an Schwerarbeitsmonaten bis zum Regelpensionsalter nicht mehr erreichbar ist. Die dort begehrte Feststellung von zwölf Schwerarbeitsmonaten wäre bedeutungslos, da eine für den künftigen Leistungsstreit bindende Feststellung dieser Anzahl an Schwerarbeitsmonaten dem Versicherten nicht die 315 Vergünstigung einer Schwerarbeiterpension verschaffen könnte.
Die Argumentation der materiellen Beschwer in der gegenständlichen E – die Rechtslage könne sich zukünftig ändern – könnte jedoch auch auf ein Feststellungsinteresse des Versicherten in einer Konstellation umgelegt werden, in der das Feststellungsverfahren nicht ausreichend (für eine Schwerarbeitspension) festzustellende Schwerarbeitsmonate ergibt. Denn für den Fall einer Änderung der Rechtslage dahingehend, dass ein Anspruch auf eine Leistung auf Grundlage der (wenigen) Schwerarbeitsmonate für den Versicherten besteht, hätte er im Hinblick auf die immer schwieriger werdende Beweissituation ein rechtliches Interesse daran, dass die Schwerarbeitsmonate in einer gerichtlichen Entscheidung alsbald festgestellt werden.
Die Verneinung der Beschwer in der vorliegenden E würde allerdings dazu führen, dass im vorliegenden Fall die erstgerichtliche E nicht bekämpft werden könnte und somit das Feststellungsinteresse nicht überprüfbar wäre. Damit könnten gerichtliche Entscheidungen mit einem fehlerhaften, weil trotz mangelnden Feststellunginteresses ergangenem (positiven) Feststellungsurteil, nicht mehr bekämpft werden. Im Hinblick auf eine einheitliche Rsp erscheint ein Rechtsschutzbedürfnis bei fehlendem Feststellunginteresse des Versicherten daher nachvollziehbar. Zudem hätte der Versicherte im Falle eines mangels Feststellungsinteresse ergangenen, abweisenden Urteils, bei Änderung der Rechtslage, ohnehin die Möglichkeit, ein neuerliches Feststellungsverfahren zu führen, da die materielle Rechtskraftwirkung nur den maßgeblichen Abweisungsgrund (mangelndes Feststellungsinteresse) abdeckt und nicht über das Vorliegen von Schwerarbeit in den betroffenen Versicherungsmonaten abspricht (vgl Frauenberger-Pfeiler in Fasching/Konecny [Hrsg], Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen III/13 § 228 ZPO Rz 134). In einer ähnlich gelagerten, jüngeren E (OGH 24.5.2022, 10 ObS 52/22b) bekräftige der OGH das Vorliegen einer materiellen Beschwer im Falle der Feststellung von (zu) wenigen Schwerarbeitsmonaten.
Das derzeitige Antrittsalter für die Gewährung einer (Regel-)Alterspension für weiblich Versicherte ist gem § 16 Abs 6 APG die Vollendung des 60. Lebensjahres. Es wird erst beginnend mit 1.1.2024 (bis zum Jahr 2033: Anhebung um sechs Monate pro Jahr) gem § 3 des Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten, BGBl 1992/832, angehoben. Dies bedeutet, dass die Vergünstigungen der Schwerarbeitspension nach APG für weiblich Versicherte erst ab dem Jahr 2024 zum Tragen kommen.