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Keine Rückersatzpflicht bei Aufnahme einer Arbeitstätigkeit im Ausland während des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld

JOHANNARACHBAUER
§ 24 Abs 1 Z 1 und Abs 2 iVm § 2 Abs 1 Z 4 KBGG; Art 68 VO (EG) 883/2004

Die Kl hat für ihren am 17.4.2016 geborenen Sohn für den Zeitraum von 11.7.2016 bis 16.4.2017 Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens bezogen. Mit Bescheid vom 27.5.2019 widerrief die Österreichische Gesundheitskasse die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes mit der Begründung, es fehle an der Anspruchsvoraussetzung des Mittelpunkts der Lebensinteressen im Bundesgebiet gem § 2 Abs 1 Z 4 KBGG. Mit ihrer Klage begehrt die Kl die Feststellung, nicht zum Rückersatz des Kinderbetreuungsgeldes verpflichtet zu sein.

Das Erstgericht gab der Klage statt und ging von folgendem Sachverhalt aus: Die Kl war bis 12.1.2017 über 182 Tage als angestellte Ärztin bei der W* GmbH & CoKG beschäftigt und lebte währenddessen durchgehend in Wien. Ihr Sohn wurde am 17.4.2016 geboren. Von 16.1. bis 31.12.2017 arbeitete die Kl in London an zweieinhalb Tagen pro Woche als Ärztin. Sie wohnte jedoch weiterhin durchgehend in Wien und hielt sich dort – abgesehen von kurzen, ein- oder zweitägigen berufsbedingten Aufenthalten im Ausland – durchgehend auf. Abgesehen von ihren kurzen Abwesenheiten betreute, pflegte und erzog ausschließlich die Kl ihren Sohn. Sie hatte – wie auch ihr Sohn – im Bezugszeitraum ihren Lebensmittelpunkt in Wien. Der Vater des Sohnes arbeitete im Zeitraum von 17.4.2016 bis 16.4.2017 in London als Arzt und lebte auch dort.

Das Berufungsgericht gab der nur im Umfang der Stattgebung für das Kalenderjahr 2017 von der Bekl erhobenen Berufung teilweise Folge und erklärte die Revision für zulässig. Es verpflichtete die Kl zum Rückersatz von Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 1.2. bis 16.4.2017. Da beide Eltern ab 16.1.2017 im Vereinigten Königreich beschäftigt gewesen seien, sei ab diesem Zeitpunkt nur mehr das Vereinigte Königreich zur Gewährung von Familienleistungen zuständig. Der Wohnsitz des Kindes in Österreich begründe keinen Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit. Art 68 VO (EG) 883/2004 sei nicht anwendbar, weil Österreich auch nicht nachrangig zur Gewährung von Familienleistungen ab diesem Zeitpunkt zuständig sei. Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Kl, mit der sie die gänzliche Stattgebung ihrer Klage anstrebt. 326

Der OGH entschied, dass die Revision sowohl zulässig als auch berechtigt ist. Die Revisionswerberin macht zu Recht geltend, dass sie alle Voraussetzungen für die Gewährung ihres Anspruchs nach österreichischem Recht erfüllt habe: Die Anspruchsberechtigung für das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens regelt § 24 KBGG. Zwischen den Parteien ist nicht strittig, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach dieser Bestimmung jedenfalls bis zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit der Kl in London ab 16.1.2017 erfüllt waren. Die Bekl macht geltend, dass die Kl infolge der Aufnahme einer Beschäftigung im Vereinigten Königreich ab diesem Zeitpunkt den Vorschriften dieses Mitgliedstaats unterliege. Da auch der Vater des Kindes im Vereinigten Königreich einer Beschäftigung nachgehe, sei der Wohnsitz des Kindes in Österreich kein taugliches Anknüpfungskriterium, um den Anspruch der Kl auf Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum nach dem 16.1.2017 zu begründen. Dieses Argument übergeht jedoch, dass die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während des Bezugszeitraums – unabhängig davon, ob ihr in Österreich oder in einem anderen Mitgliedstaat der Union nachgegangen wird – keine Anspruchsvoraussetzung für die Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens ist.

Da die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit der Kl während des Bezugszeitraums im Vereinigten Königreich ohne Änderung des Mittelpunkts ihrer Lebensinteressen nicht die Anspruchsvoraussetzungen gem § 24 KBGG berührt, stellen sich die von den Vorinstanzen und der Bekl aufgeworfenen Fragen einer (internationalen) Zuständigkeit des Vereinigten Königreichs zur Gewährung von Familienleistungen nach der VO (EG) 883/2004 bzw einer Anwendung des Art 68 dieser Verordnung hier nicht. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich wesentlich von dem der OGH-E 10 ObS 120/19y (SSV-NF 33/70), auf die sich das Berufungsgericht gestützt hat: In jener E waren weder die damalige Kl noch ihr Ehegatte in Österreich erwerbstätig, sondern – auch bereits vor der Geburt des Kindes – in der Schweiz (vgl auch OGH10 ObS 135/19d SSV-NF 34/33; OGH 26.5.2020, 10 ObS 160/19f; OGH 28.7.2020, 10 ObS 164/19v). Damit stellte sich in jener E die Frage der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung des § 24 Abs 1 Z 2 KBGG, weil die damalige Kl keine in Österreich kranken- und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausübte. Im vorliegenden Fall hat die Kl diese Anspruchsvoraussetzung jedoch unstrittig erfüllt: Sie war in den letzten 182 Tagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes in Österreich durchgehend erwerbstätig iSd § 24 Abs 2 KBGG.

Der OGH entschied daher, dass der Revision Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts im Ergebnis wieder herzustellen ist.