161Kinderbetreuungsgeld: Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Rückforderungsrecht bei bloßem Behördenfehler
Kinderbetreuungsgeld: Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Rückforderungsrecht bei bloßem Behördenfehler
Der Rückforderungstatbestand im § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG umfasst jene Fälle, in denen ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht besteht, obwohl dem Krankenversicherungsträger bereits bei der Gewährung der Leistung alle dafür maßgebenden tatsächlichen Umstände bekannt waren und er dennoch – etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung – das Kinderbetreuungsgeld auszahlt. Es bestehen Gründe, an der von Art 7 B-VG geforderten Sachlichkeit des Rückforderungstatbestands zu zweifeln.
Die Kl lebt mit ihrer Familie im EU-Ausland, war seit 21.1.2016 in Österreich als Arbeiterin beschäftigt und deshalb hier auch voll sozialversichert. Im Zeitraum von 21.12.2017 bis 12.4.2018 galt für die Kl ein Beschäftigungsverbot nach dem Mutterschutzgesetz und sie bezog Wochengeld. Anschließend meldete die DG bis 27.4.2018 den Bezug von „Urlaubsabfindung, Urlaubsentschädigung“ an die SV. Die Kl beantragte am 9.7.2018 in Österreich als Beschäftigungsstaat die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage ab Geburt des Kindes. Zusammen mit diesem Antrag legte sie auch eine Karenzvereinbarung vom 27.2.2018 sowie ein Kündigungsschreiben durch den DG vom 6.4.2018 bei der Bekl vor. Die Bekl gewährte zunächst für den Zeitraum von 13.4. bis 31.12.2018 eine Ausgleichszahlung zum Kinderbetreuungsgeld iHv € 23,99 täglich.
Allerdings widerrief die Bekl die Leistung mit Bescheid und verpflichtete die Kl zur Rückzahlung. Als Begründung wurde ausgeführt, dass sich aus der Gesamtabwägung aller Umstände ergeben habe, dass aufgrund einer Scheinkarenz keine der Beschäftigung gleichgestellte Situation vorläge, in Österreich bestehe kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld. Die Vereinbarung der Kl mit ihrem AG stelle zudem keine Karenzvereinbarung dar, weil bereits eine Urlaubsentschädigung ausgezahlt worden sei. Es sei somit ersichtlich, dass die 327 Kl nach der gesetzlichen Karenzzeit keine Rückkehr zu ihrem Arbeitsplatz geplant habe und das Dienstverhältnis einvernehmlich aufgelöst worden sei.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren der Kl statt. Rechtlich ging es davon aus, dass die Bekl lediglich den Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 KBGG geltend machte. Danach sei der Leistungsempfänger auch dann zur Rückzahlung verpflichtet, wenn der zugrunde liegende Fehler für den Leistungsempfänger gar nicht erkennbar gewesen sei. Eine so weitgehende Überwälzung des Risikos nicht erkennbarer Behördenfehler auf den Leistungsempfänger sei sachlich nicht gerechtfertigt. Der Rückforderungstatbestand ist daher einschränkend auszulegen, wonach nicht jede beliebige Neubewertung der bereits ursprünglich bekannten Umstände eine Grundlage für eine Rückforderung bieten könne. Ein Eingehen auf die Gebührlichkeit der gewährten Leistung erübrige sich.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die Revision zu. Gegenstand des Revisionsverfahrens war die Frage, ob die Kl als Bezieherin einer Leistung nach dem KBGG zu deren Rückersatz auch dann verpflichtet werden kann, wenn die Auszahlung der Leistung aufgrund eines Irrtums des Krankenversicherungsträgers erfolgte. Die Revision war zulässig.
Der OGH unterbrach das Verfahren und stellte gem Art 89 Abs 2 B-VG (Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B-VG) einen Antrag an den VfGH, indem er in § 31 Abs 2 S 1 KBGG (BGBl I 2001/103BGBl I 2001/103 idF BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53) die Wortfolge „oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte,“ als verfassungswidrig aufzuheben beantragte. Mit der Fortführung des Revisionsverfahrens wird bis zur Zustellung des Erkenntnisses des VfGH innegehalten.
„2. Verfahrensgegenständlich ist ausschließlich der Rückforderungstatbestand der irrtümlichen Auszahlung von Leistungen nach § 31 Abs 2 Fall 2 KBGG.
2.1. Dieser Tatbestand wurde mit der Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 eingefügt. […]
2.2. Die Erweiterung der Rückforderungstatbestände durch die Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 diente der „Optimierung“ der Rückforderungsbestimmungen. […]
2.3. Das von den Vorinstanzen erzielte Auslegungsergebnis, wonach der Rückforderungstatbestand nicht greifen soll, wenn maßgebliche Umstände weder nachträglich bekannt werden (nova reperta) noch entstehen (nova producta), noch dem Leistungsempfänger ein Vorwurf zu machen ist, widerspricht der klaren Absicht des Gesetzgebers, der gerade die Fälle einer irrtümlichen Auszahlung bloß aufgrund unrichtiger Rechtsansicht oder unrichtiger Berechnung erfasst sehen wollte (Sonntag, Unions-, verfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme bei der KBGG-Novelle 2016, ASoK 2017, 2 [8]). Bei der Interpretation darf dem Gesetzgeber überdies kein zweckloser und funktionsloser Regelungswille unterstellt werden (RS0111143RS0111143). Der eigens geschaffene Rückforderungstatbestand wäre bei einem derart einschränkenden Verständnis inhaltsleer, weil der verbliebene Anwendungsbereich ohnedies von den anderen Rückforderungstatbeständen des § 31 Abs 2 S 1 KBGG erfasst wäre.
2.4. Der Oberste Gerichtshof geht daher davon aus, dass der Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG eine Rückzahlung (nur dann) anordnet, wenn der Leistungsempfänger weder den Bezug durch unrichtige Angaben oder Verschweigung maßgeblicher Tatsachen herbeigeführt hat (§ 31 Abs 1 Fall 1 KBGG) noch erkennen konnte, dass die Leistung nicht (oder nicht in dieser Höhe) gebührt (§ 31 Abs 1 Fall 2 KBGG), und überdies weder nachträglich hervorkommt, dass eine oder mehrere Anspruchsvoraussetzungen bereits ursprünglich nicht vorgelegen oder nachträglich weggefallen sind (§ 31 Abs 2 S 1 Fall 1 KBGG), noch der Leistungsempfänger eine Mitwirkungspflicht verletzt hat (§ 31 Abs 2 Fall 3 KBGG). Eine irrtümliche Auszahlung setzt lediglich einen Irrtum im Zeitpunkt der Leistungsgewährung voraus. Darunter ist jede unrichtige Vorstellung des Krankenversicherungsträgers – aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme der Materialien auf eine unrichtige Rechtsansicht also nicht nur ein Tatsachen-, sondern auch ein Rechtsirrtum (aA Weißenböck in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz 216 [zu § 31 KBGG]) – zu verstehen. […] Ein gutgläubiger Verbrauch ist aufgrund der objektiven Rückzahlungsverpflichtung des § 31 Abs 2 KBGG ausgeschlossen (RS0124064RS0124064 [T1]). Vorausgesetzt ist überdies das Vorliegen eines konkreten rechtlichen Leistungsverhältnisses […].
3. Die Beklagte stützte ihr Rückzahlungsbegehren ausdrücklich auf die irrtümlich erfolgte Auszahlung, woran die Gerichte gebunden sind (RS0086067RS0086067), sodass dem Obersten Gerichtshof eine Prüfung allfälliger anderer Rückforderungsgründe verwehrt ist. […]
4. Es bestehen Gründe, an der von Art 7 B-VG geforderten Sachlichkeit des Rückforderungstatbestands des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG zu zweifeln.
4.1. Der zuständige Krankenversicherungsträger hat im Fall der Bejahung eines Anspruchs zwar keinen Bescheid, aber eine „Mitteilung“ auszustellen […]. Damit wird dem Empfänger gegenüber ausdrücklich das Bestehen eines Leistungsanspruchs zugestanden […].
4.2. Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass die Leistungen nach dem Kinderbetreuungsgeldgesetz nicht nur der kurzfristigen Unterstützung des Leistungsempfängers dienen. […] Sowohl das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto (§§ 2 ff KBGG) als auch das Kinderbetreuungsgeld [...] als 328 Ersatz des Erwerbseinkommens (§§ 24 ff KBGG) soll die Betreuung und Erziehung des Kindes, für deren Vorsorge die Eltern nicht nur gesellschaftlich verantwortlich, sondern wozu sie auch zivilrechtlich verpflichtet sind (ErläutRV 620 BlgNR 21. GP 54), während der Kleinkindphase finanziell unterstützen. Aus diesem Grund haben Empfänger typischerweise nicht bloß kurzfristig kein (erhebliches, die Zuverdienstgrenze überschreitendes) Einkommen (im Anlassfall betrug der mitgeteilte Anspruchszeitraum mehr als acht Monate). Dieser Zustand muss während des Bezugs aufrecht erhalten werden, um die Leistung nicht (teilweise) wieder zu verlieren. Typischerweise disponieren Leistungsempfänger im Vertrauen auf die Gewährung also […] auch dadurch, dass sie im Anspruchszeitraum kein (die Zuverdienstgrenze übersteigendes) Einkommen erwirtschaften und sich stattdessen auf die Kinderbetreuung konzentrieren. […]
4.3. Die erörterte Rechtslage verlagert das Risiko der unrichtigen Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen somit zur Gänze auf den Empfänger […].
5.1. Dem Gesetzgeber steht bei Verfolgung familienpolitischer Ziele zwar grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der aber durch das Gleichheitsgebot (nur) insofern beschränkt wird, als es ihm verwehrt ist, Regelungen zu treffen, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht besteht (VfSlg 16.542/200216.542/2002, 8.073/19778.073/1977). […]
5.4. Die Beklagte hält dem entgegen, dass der Verfassungsgerichtshof vergleichbare Bedenken am (objektiven) Rückforderungstatbestand nach § 31 Abs 2 S 2 KBGG (nachträgliche Feststellung des Überschreitens der Zuverdienstgrenze) nicht teilte (VfSlg 18.705/200918.705/2009). Dieser Rückforderungstatbestand ist jedoch anders gelagert als der hier gegenständliche. Zwar handelt es sich bei beiden Tatbeständen um eine objektive, also vom Verschulden des Empfängers unabhängige Rückforderung, doch liegt die Erzielung eines Einkommens zumindest im Einflussbereich des Empfängers und nicht in jener des Krankenversicherungsträgers. […] Beim hier gegenständlichen Rückforderungstatbestand der irrtümlichen Auszahlung besteht demgegenüber kein Konnex zwischen dem Rückzahlungsbetrag und dem – bei Gewährung noch gar nicht prüfbaren – Einkommen im Anspruchszeitraum. Vielmehr geht es nur um bereits im Gewährungszeitpunkt vorhandene und der Behörde auch bekannte Umstände, die aufgrund einer unrichtigen Beurteilung oder Berechnung zur Leistungsgewährung führen. […]
5.5. Die in den Gesetzesmaterialien für die Rückzahlungspflicht angeführte Begründung, dass einige Eltern durch Behördenfehler nicht besser gestellt sein sollen als andere Eltern, vermag die Zweifel an der Sachlichkeit der Regelung ebenso wenig zu zerstreuen […]. Ein schutzwürdiges Interesse dieser „schlechter gestellten“ Eltern an einer Gleichbehandlung mit den „besser gestellten“ Eltern besteht somit nicht. Das gleiche gilt in den anderen Rückforderungsfällen […].
5.6. Möglichkeiten der Abfederung der Auswirkungen dieser Rückzahlungspflicht, die die angeführten Bedenken ausräumen, sind nicht ersichtlich. Leistungsempfänger können den Verbrauch der empfangenen Gelder und eine allfällige – im Fall der Rückforderung ja frustrierte – Einschränkung ihrer Erwerbstätigkeit nachträglich nicht mehr rückgängig machen. Zwar kann der Krankenversicherungsträger eine Zahlung in Teilbeträgen (Ratenzahlungen) zulassen, die Rückforderung stunden oder darauf ganz oder teilweise verzichten (§ 32 Abs 4 S 3 KBGG). […] Die Rückforderung nach § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG ist allerdings gerade auf Bezüge infolge bloßer Behördenfehler, die dem Empfänger nicht erkennbar sind, zugeschnitten, sodass diese Umstände keine atypische Belastung bewirken, die einen Forderungsverzicht rechtfertigen würden. Zu einer Abfederung der Auswirkungen des Rückforderungstatbestands führen solche Zahlungserleichterungen damit nicht oder nur in Ausnahmefällen. Im Normalfall ist der Leistungsempfänger gezwungen, entsprechende Rückstellungen für den Fall einer nicht vorhersehbaren Rückforderung zu bilden und bereit zu halten, bis das Rückforderungsrecht verjährt ist (vgl § 31 Abs 7 KBGG).
5.7. Aufgrund der dargestellten Bedenken gegen den im vorliegenden Verfahren anzuwendenden Rückforderungstatbestand des § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG sieht sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Wortfolge mit dem vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag an den VfGH heranzutragen.“
Verfahrensgegenständlich war im vorliegenden Fall ausschließlich der Rückforderungstatbestand der irrtümlichen Auszahlung gem § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG. Dieser umfasst jene Fälle, in denen ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht besteht, obwohl dem Krankenversicherungsträger bereits bei der Gewährung der Leistung alle dafür maßgebenden tatsächlichen Umstände bekannt waren und er dennoch – etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung – das Kinderbetreuungsgeld auszahlt. § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG (BGBl I 2001/103BGBl I 2001/103 idF BGBl I 2018/100BGBl I 2018/100) wurde mit der Novelle BGBl I 2016/53BGBl I 2016/53 eingeführt. Davor war ein Rückforderungsanspruch ausgeschlossen, wenn der Krankenversicherungsträger nachträglich die Unrichtigkeit der Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes bemerkte (RS0126122RS0126122).
Im hier gegenständlichen unterbrochenen Revisionsverfahren äußert der OGH Zweifel an der Sachlichkeit des Rückforderungstatbestands im § 31 Abs 2 S 1 Fall 2 KBGG.
Mit der „Mitteilung“ des Krankenversicherungsträgers wird dem Empfänger gegenüber ausdrücklich 329 das Bestehen eines Leistungsanspruchs zugestanden. Die Antragsteller:innen gehen daher berechtigt davon aus, dass der zuständige Träger das Vorliegen der Voraussetzungen geprüft und bejaht hat und ihnen das Kinderbetreuungsgeld während der Leistungsdauer zur Verfügung steht. Die Antragsteller:innen disponieren auch dementsprechend, indem sie beispielsweise ihre Erwerbstätigkeiten karenzieren. Diese Rechtslage verlagert das Risiko der unrichtigen Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen somit zur Gänze auf die Empfänger:innen, wobei diese auf die Leistung nicht nur zur Überbrückung eines kurzen Zeitraums angewiesen sind, sondern darauf vertrauen, dass die Leistung in diesem Zeitraum rechtmäßig zur Verfügung steht. Dieses Ergebnis ist nicht nur zufällige Folge einzelner Härtefälle. Nach Ansicht des OGH ist es vielmehr vom Gesetzgeber bewusst als Regelfall vorgesehen. Der OGH hegt Zweifel, ob diese generelle Risikoverschiebung auf die Leistungsempfänger:innen dem Sachlichkeitsgebot des Art 7 B-VG entspricht und hat deshalb einen Antrag auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung an den VfGH gestellt.
In seiner Antragsbegründung führt der OGH aus, dass der VfGH das Fehlen einer sachlichen Rechtfertigung bereits bei der Verpflichtung zur gänzlichen Rückzahlung von Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe bei Überschreiten der Zuverdienstgrenze annahm. Eine Rückzahlungsverpflichtung sei demnach nur dann zulässig, wenn den Bezieher der Leistung ein Vorwurf trifft oder er den naheliegenden Verdacht eines solchen nicht widerlegen kann. Ohne solche Einschränkung widerspricht die Pflicht zur Rückzahlung verbrauchter Gelder aus der AlV dem aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz abzuleitenden Sachlichkeitsgebot. Die Empfänger:innen einer Leistung nach dem KBGG, die bloß aufgrund eines Behördenfehlers zur Rückzahlung der Leistungen verpflichtet werden und davon ausgehen dass sie die erhaltenen Gelder verbrauchen können, befinden sich aus der Sicht des OGH in einer vergleichbaren Situation.
Die Entscheidung des VfGH bleibt daher mit Spannung abzuwarten.