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Kindererziehungszeiten im EU-Ausland sind bei ausreichender Nahebeziehung zum österreichischen Sozialversicherungssystem anzurechnen

ALEXANDERDE BRITO
Art 44 Abs 2 VO 987/2009; Art 21 AEUV; § 227a ASVG
EuGH 7.7.2022, C-576/20CC vs Pensionsversicherungsanstalt

Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 ist dahin auszulegen, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den zur Zahlung dieser Rente verpflichteten Mitgliedstaat nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat nach Art 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.

SACHVERHALT

Die Kl ist eine im Jahr 1957 geborene österreichische Staatsbürgerin. Nachdem sie bis zum 30.9.1986 eine selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt und anschließend ein Studium im Vereinigten Königreich absolviert hatte, zog sie Anfang November 1987 nach Belgien, wo sie am 5.12.1987 und am 23.2.1990 zwei Kinder zur Welt brachte. Danach lebte sie vom 5. bis 31.12.1991 in Ungarn und vom 1.1. bis 8.2.1993 im Vereinigten Königreich. Zwischen dem 5.12.1987 und dem 8.2.1993 widmete sich die Kl der Erziehung ihrer Kinder, ohne eine Beschäftigung auszuüben, ohne Versicherungszeiten zu erwerben und ohne Leistungen für die Erziehung ihrer Kinder zu beziehen. Am 8.2.1993 kehrte sie nach Österreich zurück und übte dort eine selbständige Erwerbstätigkeit aus. Von Februar 1993 bis Februar 1994 widmete sich die Kl 13 Monate lang der Erziehung ihrer Kinder in Österreich, unterlag jedoch der Pflichtversicherung und entrichtete Beiträge zum österreichischen Sozialversicherungssystem.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid vom 29.12.2017 erkannte ihr die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) einen Anspruch auf eine monatliche Alterspension in Höhe von € 1.079,15 ab dem 1.11.2017 zu. Dieser Betrag wurde auf der Grundlage von 366 in Österreich erworbenen Versicherungsmonaten einschließlich der in Österreich zurückgelegten Kindererziehungszeiten berechnet, die Versicherungszeiten gleichgestellt wurden.

Die Kl erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Arbeits- und Sozialgericht Wien und machte geltend, dass die Kindererziehungszeiten, die sie zwischen dem 5.12.1987 und dem 31.12.1991 in Belgien und Ungarn absolviert habe, ebenfalls als Versicherungszeiten zu berücksichtigen seien. Andernfalls liege ein Verstoß gegen Art 21 AEUV in seiner Auslegung durch die Rsp des Gerichtshofs vor.

Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass die Kl des Ausgangsverfahrens nicht die Voraussetzungen nach Art 44 der VO 987/2009 für die Gleichstellung der in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten erfülle.

Die Kl legte gegen diese Entscheidung Berufung beim OLG Wien ein und machte geltend, ihre Situation erfülle zwar nicht die in Art 44 der VO 987/2009 festgelegten Voraussetzungen, aber gemäß der Rsp des Gerichtshofs seien die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten auf der Grundlage von Art 21 AEUV zu berücksichtigen, da sie vor und nach den in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten gearbeitet habe und in Österreich sozialversichert gewesen sei und diese Zeiträume daher eine hinreichende Verbindung zum 331 österreichischen Sozialversicherungssystem aufwiesen.

Das OLG wies die Berufung zurück und bestätigte, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art 44 der VO 987/2009 im vorliegenden Fall nicht erfüllt seien. Da es sich bei dieser Bestimmung um eine abschließende Regelung handle, könnten die Kindererziehungszeiten der Kl in anderen Mitgliedstaaten nicht auf der Grundlage von Art 21 AEUV berücksichtigt werden.

Der OGH, bei dem die Kl Revision eingelegt hat, ist ebenfalls der Ansicht, dass die Verordnungen 883/2004 und 987/2009 in zeitlicher Hinsicht auf die vorliegende Rechtssache anwendbar seien und dass die in Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 aufgestellten Voraussetzungen für die Berücksichtigung der von der Kl in Belgien und Ungarn absolvierten Kindererziehungszeiten durch die PVA nicht erfüllt seien, da die Kl zum Zeitpunkt, zu dem ihre erste Kindererziehungszeit begonnen habe, nämlich im Dezember 1987, keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt habe.

Der OGH schloss nicht aus, dass Art 44 der VO 987/2009 dahin ausgelegt werden könne, dass es sich um eine abschließende Regelung handle und eine Berücksichtigung dieser Zeiträume daher auch nicht auf der Grundlage von Art 21 AEUV möglich sei.

Er wies jedoch darauf hin, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt mit dem Sachverhalt der Rechtssache vergleichbar sei, in dem das EuGH-Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-AlbertC-522/10, ergangen sei, und dass der Umstand, dass die Kl ausschließlich in Österreich gearbeitet und Versicherungszeiten erworben habe, im Einklang mit der mit diesem Urteil begründeten Rsp einen hinreichend engen Zusammenhang mit dem österreichischen Sozialversicherungssystem belegen könne. Der OGH war daher der Ansicht, dass diese Zeiten im Rahmen der VO 1408/71, die zu der Zeit in Kraft gewesen sei, als die Kl des Ausgangsverfahrens Kindererziehungszeiten in Belgien und in Ungarn absolviert habe, nach der Rsp des Gerichtshofs bei der Berechnung ihrer österreichischen Altersrente gem Art 21 AEUV berücksichtigt worden wären. Somit hätte sich die Situation der Kl nach Inkrafttreten des Art 44 der VO 987/2009 verschlechtert.

Der OGH wies auch darauf hin, dass die Mitgliedstaaten, in denen die Kl Kindererziehungszeiten absolviert habe, grundsätzlich die Berücksichtigung solcher Zeiten vorsähen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Abs 2 Art 44 der VO 987/2009 nur dann Anwendung findet, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten zur Berechnung der Altersrente generell nicht vorsehen oder vielmehr auch Fälle erfasst sind, in denen eine solche Berücksichtigung zwar vorgesehen ist, diese Person jedoch aufgrund ihrer persönlichen Situation keinen Anspruch darauf hat.

Vor diesem Hintergrund hat der OGH beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage[n] zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art 44 Abs 2 der VO 987/2009 dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?

Für den Fall der Verneinung der [ersten] Frage:

Ist Art 44 Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz der VO 987/2009 dahin auszulegen, dass der gem Titel II der VO 883/2004 zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?

In seiner Antwort stellte der EuGH fest, dass es sich bei Art 44 der VO 987/2009 um keine abschließende Regelung handelt und es somit durchaus zu einer Anrechnung von Kindererziehungszeiten kommen kann, wenn die Versicherte eine ausreichende Nahebeziehung zum die Pension auszahlenden Staat hat.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Zur ersten Frage

37 Im vorliegenden Fall ergibt sich […] dass der Ausgangsrechtsstreit die Frage betrifft, ob die Republik Österreich Kindererziehungszeiten, die die Klägerin […] in anderen Mitgliedstaaten absolviert hat, bei der Gewährung einer Altersrente berücksichtigen muss. Das vorlegende Gericht weist nämlich darauf hin, dass eine solche Berücksichtigung nach Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 ausgeschlossen sei, da diese Bestimmung verlange, dass die betreffende Person in dem betreffenden Mitgliedstaat „zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach [den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats] begann“, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat […]. Zwar habe die 332 Klägerin des Ausgangsverfahrens während ihres Erwerbslebens nur in Österreich eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt und Beiträge nur zum Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats entrichtet, es stehe aber fest, dass sie zu den maßgeblichen Zeitpunkten, d. h. nach den österreichischen Rechtsvorschriften am 1. Jänner 1988 und am 1. März 1990, in Österreich keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Republik Österreich gemäß der Rechtsprechung aus dem Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), […] verpflichtet wäre, diese Zeiträume nach Art. 21 AEUV zu berücksichtigen. […]

38 Die erste Frage ist daher so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung […] nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat dennoch nach Art. 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen.

39 Insoweit ist erstens zu prüfen, ob Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt. Ist dies nämlich der Fall, können solche Zeiten nur nach dieser Bestimmung berücksichtigt werden, so dass Art. 21 AEUV keine Anwendung findet. […]

40 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, und ihr Zusammenhang zu berücksichtigen, wobei die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ebenfalls relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern. [...]

41 Im vorliegenden Fall geht aus dem Wortlaut von Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 nicht ausdrücklich hervor, ob diese Bestimmung die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt. Es ist jedoch festzustellen, dass wie die Kommission geltend gemacht hat die in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene Regelung, wonach auf die betreffende Person die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anwendbar sind, der gemäß Titel II der Verordnung Nr. 883/2004 zuständig war, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit nach diesen Rechtsvorschriften begann, in diesem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, eine Kodifizierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs darstellt. […]

42 Auch wenn der Unionsgesetzgeber die […] Prüfungskriterien eines „engen Zusammenhangs“ oder eines „hinreichenden Zusammenhangs“ zwischen den zurückgelegten Versicherungszeiten, die durch Ausübung einer Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat erworben wurden […] und den Kindererziehungszeiten, die diese Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, nicht ausdrücklich übernommen hat, hätte die Anwendung der in Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 aufgestellten Regel auf die betroffenen Personen in den Rechtssachen, in denen diese Urteile ergangen sind, dennoch zu der vom Gerichtshof in diesem Urteil gewählten Lösung geführt. Wie nämlich im Wesentlichen aus den Rn. 25 bis 28 des Urteils vom 23. November 2000, Elsen, und den Rn. 31 bis 33 des Urteils vom 7. Februar 2002, Kauer, hervorgeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass ein solcher enger oder hinreichender Zusammenhang festgestellt werden konnte, weil diese Personen, die ausschließlich im zur Zahlung ihrer Altersrente verpflichteten Mitgliedstaat gearbeitet hatten, eine Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausübten, als das Kind geboren wurde, und dass folglich die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für die Berücksichtigung der in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer solchen Rente anwendbar waren. […]

44 Folglich ist Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 in Anbetracht seines Wortlauts dahin auszulegen, dass er die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten nicht abschließend regelt.

45 Diese Auslegung wird durch den Regelungszusammenhang dieser Bestimmung bestätigt. […]

47 Folglich enthält Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 eine zusätzliche Regelung, die es ermöglicht, die Wahrscheinlichkeit der vollständigen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten der betreffenden Personen zu erhöhen und somit eine Nichtanrechnung so weit wie möglich zu vermeiden. Diese Bestimmung kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass es sich um eine abschließende Regelung handelt.

48 Zu den Zielen der Regelung, zu der Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 gehört, ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 883/2004, wie sich aus ihrem dritten Erwägungsgrund und dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 ergibt, die in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Regelungen zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit ersetzen soll, indem sie diese zur Verwirklichung des Ziels der Personenfreizügigkeit modernisiert und vereinfacht, wobei die Verordnung Nr. 987/2009 hierfür die Durchführungsbestimmungen festlegen soll. Außerdem heißt es im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004, dass die Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, wie die dieser Verordnung, der Verordnung Nr. 987/2009 und zuvor der Verordnung Nr. 1408/71, Teil des freien Personenverkehrs sind.

49 Insoweit geht aus der ständigen Rechtsprechung seit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 hervor, dass zum einen die Mitgliedstaaten 333 zwar in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit und in diesem Zusammenhang u. a. für die Bestimmung der Voraussetzungen für die Begründung von Ansprüchen auf Leistungen zuständig sind, sie jedoch bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit beachten müssen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

50 Wenn zum anderen Wanderarbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern, so könnte eine solche Folge sie davon abhalten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und würde somit diese Freizügigkeit beeinträchtigen.

51 Daraus folgt, dass das Ziel, den Grundsatz der Freizügigkeit, wie er in Art. 21 AEUV verankert ist, zu wahren, auch im Rahmen der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 gilt.

52 Es ist aber festzustellen, dass eine Auslegung, nach der Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 die Berücksichtigung von in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten abschließend regelt, darauf hinausliefe, dass der rentenzahlungspflichtige Mitgliedstaat, in dem eine Person wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens ausschließlich gearbeitet und Beiträge geleistet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die diese Person in diesem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, bei der Gewährung einer solchen Rente verweigern und diese folglich benachteiligen könnte, nur weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.

53 Eine solche Auslegung liefe daher den mit der Verordnung Nr. 987/2009 verfolgten Zielen zuwider, insbesondere was das Ziel betrifft, die Beachtung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu gewährleisten, und könnte daher die praktische Wirksamkeit von Art. 44 dieser Verordnung gefährden. […]

55 Folglich ist Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 in Anbetracht seines Wortlauts, des Zusammenhangs, in den er sich einfügt, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, dahin auszulegen, dass er die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die ein und dieselbe Person in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegt hat, nicht abschließend regelt.

56 Zweitens ist zu prüfen, ob die Rechtsprechung, die auf das Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), zurückgeht, auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende übertragen werden kann, in der die betreffende Person, obwohl die Verordnung Nr. 987/2009 zeitlich anwendbar ist, nicht die Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach Art. 44 Abs. 2 dieser Verordnung erfüllt, um die Berücksichtigung der von ihr in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat zu erreichen. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hatte die betreffende Person zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder ihre Erwerbstätigkeit im rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat aufgegeben und ihren Wohnsitz vorübergehend im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats begründet, in dem sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet und keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hatte. Diese Person war anschließend mit ihrer Familie in den ersten Mitgliedstaat zurückgekehrt und hatte dort wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen.

57 Im Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), hat der Gerichtshof […] zunächst festgestellt, dass die Verordnung Nr. 987/2009 in einem solchen Fall in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist, und entschieden, dass unter diesen Umständen grundsätzlich die in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Vorschriften anzuwenden sind.

58 Sodann hat der Gerichtshof […] festgestellt, dass die Verordnung Nr. 1408/71 keine spezielle Regel enthält, die mit Art. 44 der Verordnung Nr. 987/2009 vergleichbar wäre, der die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten regelt, und dass die Fragen des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen sind, dass mit ihnen Aufschluss darüber begehrt wird, ob Art. 21 AEUV in einer Situation wie der in dieser Rechtssache in Rede stehenden dahin auszulegen ist, dass er die zuständige Einrichtung des rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaats dazu verpflichtet, bei der Gewährung einer Altersrente die von der betroffenen Person in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen. […]

59 So hat der Gerichtshof zum einen in den Rn. 35 und 36 des Urteils vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), festgestellt, dass, wenn eine Person ausschließlich in ein und demselben Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie zu keiner Zeit gearbeitet oder Beiträge gezahlt hat, davon auszugehen ist, dass zwischen diesen Kindererziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die aufgrund einer Berufstätigkeit im erstgenannten Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, eine hinreichende Verbindung besteht, so dass für die Berücksichtigung und Anrechnung der von ihr zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente die Rechtsvorschriften dieses ersten Mitgliedstaats anwendbar sind. […] 334

61 […] Eine nationale Regelung, die bestimmte Inländer allein deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, führt […] zu einer Ungleichbehandlung, die den Grundsätzen widerspricht, auf denen der Status eines Unionsbürgers bei der Ausübung seiner Freizügigkeit beruht. Der Gerichtshof hat daraus den Schluss gezogen, dass in einem solchen Fall zum einen der von den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats vorgesehene Ausschluss der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, die außerhalb des Hoheitsgebiets des zuständigen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, gegen Art. 21 AEUV verstößt und zum anderen diese Unionsrechtsvorschrift die für die Gewährung der Altersrente zuständige Einrichtung dieses Mitgliedstaats verpflichtet, Kindererziehungszeiten der betreffenden Person in einem anderen Mitgliedstaat bei der Berechnung dieser Rente zu berücksichtigen. […]

63 Außerdem ist der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, wie sich aus den Rn. 22 bis 25 des vorliegenden Urteils ergibt, mit dem in Rn. 56 des vorliegenden Urteils dargestellten Sachverhalt in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), ergangen ist, vergleichbar, da zum einen im vorliegenden Fall die Klägerin des Ausgangsverfahrens ausschließlich im rentenzahlungspflichtigen Mitgliedstaat, nämlich Österreich, gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach ihrem Umzug nach Ungarn und anschließend Belgien, wo sie sich der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hat, und sie zum anderen zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Berücksichtigung ihrer Kindererziehungszeiten zur Gewährung einer Altersrente in Österreich keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat ausgeübt hat. So besteht wie beim Sachverhalt, der im Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), in Rede stand, eine hinreichende Verbindung zwischen den von der Klägerin des Ausgangsverfahrens im Ausland zurückgelegten Kindererziehungszeiten und den aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in Österreich erworbenen Versicherungszeiten. Folglich ist davon auszugehen, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für die Berücksichtigung und Anrechnung dieser Zeiten im Hinblick auf die Gewährung einer Altersrente durch ihn anzuwenden sind.

64 Ferner steht fest, dass, wenn die Klägerin des Ausgangsverfahrens Österreich nicht verlassen hätte, ihre Kindererziehungszeiten bei der Berechnung ihrer österreichischen Altersrente berücksichtigt worden wären. Folglich besteht kein Zweifel daran, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens wie die betroffene Person in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), ergangen ist, nur deshalb benachteiligt ist, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, was gegen Art. 21 AEUV verstößt.

65 Daraus folgt, dass der rentenzahlungspflichtige Mitgliedstaat in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem die betroffene Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in andere Mitgliedstaaten, in denen sie Kindererziehungszeiten zurückgelegt hat, nach der auf das Urteil vom 19. Juli 2012, Reichel-Albert (C-522/10, EU:C:2012:475), zurückgehenden Rechtsprechung dazu verpflichtet ist, diese Zeiten gemäß Art. 21 AEUV für die Gewährung einer Altersrente zu berücksichtigen.

66 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den zur Zahlung dieser Rente verpflichteten Mitgliedstaat nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat nach Art. 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.

Zur zweiten Frage

67 Da sich diese Frage nur für den Fall stellen würde, dass der Gerichtshof zu der Auffassung gelangt wäre, dass Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anwendbar ist und im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung nicht erfüllt sind, ist sie nicht zu beantworten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass, wenn die betreffende Person die in dieser Bestimmung aufgestellte Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit für die Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung einer Altersrente durch den zur Zahlung dieser Rente verpflichteten Mitgliedstaat nicht erfüllt, dieser Mitgliedstaat nach Art. 21 AEUV verpflichtet ist, diese Zeiträume zu berücksichtigen, sofern diese Person ausschließlich in diesem Mitgliedstaat gearbeitet und Beiträge entrichtet hat, und zwar sowohl vor als auch 335 nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat, in dem sie diese Zeiten zurückgelegt hat.“

ERLÄUTERUNG

Die E behandelt die Frage, ob das Sozialversicherungssystem eines Mitgliedstaates – hier Österreich – verpflichtet ist, Kindererziehungszeiten, die im EU-Ausland erbracht wurden, anzurechnen. Keine Verpflichtung besteht dann, wenn diese Zeiten in dem Staat berücksichtigt werden, in dem die Kinder erzogen wurden. Ist dies nicht der Fall, war nach der Judikatur eine Anrechnung jedenfalls vorzunehmen, wenn eine ausreichende Nahebeziehung zum Sozialversicherungssystem des Staates besteht, der die Pensionsleistung erbringt. Dies entspricht dem Prinzip der Freizügigkeit. Würden die Zeiten nicht angerechnet, entstünde Versicherten ein Nachteil dadurch, dass sie sich während der Kindererziehung in einem anderen Mitgliedsland aufgehalten hatten.

Diese Judikatur war freilich zu einem Zeitpunkt ergangen, zu dem noch die alte KoordinierungsVO 1408/71 in Geltung war, die zwischenzeitlich von der VO 883/2004 und ihrer DurchführungsVO 987/2009 abgelöst wurde. Damals gab es nämlich noch keine explizite Regelung zur Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten, weshalb der EuGH diese Frage mit Hilfe der Regelungen zur Freizügigkeit löste. Die neue, nunmehr geltende DurchführungsVO 98/2009 regelt hingegen ausdrücklich die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten. Eine solche ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, die im vorliegenden Fall nicht gegeben waren. Nach der alten Rechtslage hätten die Kindererziehungszeiten jedoch berücksichtigt werden müssen.

Im vorliegenden Verfahren war daher die Frage zu klären, ob dies auch bzw trotz des Art 44 der VO 987/2009 weiterhin gilt. Der Wortlaut spricht zunächst dagegen. Demnach würde eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten nur dann erfolgen, wenn „… diese Person zum Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten … begann, eine Beschäftigung ausgeübt hat …“. Die Kl hat zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder keine Beschäftigung ausgeübt. Trotzdem sind die Zeiten der Kindererziehung in Österreich anzurechnen: Die Regelung der VO 987/2009 sollte nämlich keinesfalls dazu führen, dass Versicherte eine schlechtere Behandlung erfahren als davor. Die VO 987/2009 sollte die Anrechnung der Kindererziehungszeiten nicht abschließend regeln, sondern an die bisherigen Regelungen und die dazu ergangene Judikatur anschließen.

Die Beantwortung der zweiten Frage, ob eine Anrechnung der Kindererziehungszeiten nur dann erfolgt, weil ein Mitgliedstaat diese Zeiten an sich nicht anrechnet, oder eine Anrechnung nur im Einzelfall nicht erfolgt, erübrigt sich damit. 336