Grenzüberschreitendes mobiles Arbeiten und Sozialversicherung*
Grenzüberschreitendes mobiles Arbeiten und Sozialversicherung*
Zum Thema
Nationale kollisionsrechtliche Regelungen
Europäisches Koordinierungsrecht
Statisch tätige MitarbeiterInnen
Entsandte und gewöhnlich mobile ArbeitnehmerInnen
Entsandte ArbeitnehmerInnen
Mobile Beschäftigung als Regelfal
Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art 13 GVO
Wohnstaat oder Sitzstaat?
Konsekutive Einsatzzeiträume: Beschäftigungsstaat oder Sitzstaat?
Vermeidung von Missbrauch
Änderungsvorschläge
Zusammenfassende Bewertung
Der globale Trend in der Arbeitswelt geht zu zunehmender Mobilität und Entgrenzung, und zwar in zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite sind – gerade in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum – immer mehr AN grenzüberschreitend im Einsatz, wobei die Einsatzformen große Unterschiede aufweisen können. AN, wie zB in der Transportbranche, mögen täglich mehrere Staatsgrenzen überschreiten, andere Personen mögen jeweils für gewisse Zeiträume in einem Mitgliedstaat arbeiten, um in späteren Zeiträumen in einem anderen Staat zu arbeiten.
Auf der anderen Seite führt die Möglichkeit, internetbasiert zu arbeiten, zu größeren Gestaltungsmöglichkeiten von Unternehmen. So mag ein Unternehmen Arbeitskräfte in verschiedenen EU-Staaten oder in Drittstaaten beschäftigen, die alle gemeinsam an verschiedenen Projekten arbeiten und lediglich über das Internet miteinander kommunizieren und ihre Leistungen digital abliefern. Ob man diese Personen als „mobil“ bezeichnen kann oder nicht, hängt vom Sachverhalt ab. Manche rein internetbasierend arbeitenden Personen mögen ihren Arbeitsplatz stabil in einem Staat haben, andere mögen kontinuierlich Staatsgrenzen überschreiten und „der Sonne nachziehen“. Das sind dann jene, die man als „digitale Nomaden“ bezeichnet. Was in solchen Sachverhaltskonstellationen jedenfalls mobil ist, sind die im virtuellen Raum übertragenen Informationen.
Die COVID-19-Pandemie hat solche Sachverhaltskonstellationen aufgrund der Reisebeschränkungen und Homeoffice-Vereinbarungen in viele Unternehmen getragen. Viele MitarbeiterInnen arbeiteten von Wohnsitzen im Ausland aus, Besprechungen, Meetings und Vorträge wurden online abgehalten. Die Frage nach der anwendbaren Sozialrechtsordnung kann Unternehmen, die Arbeitskräfte in verschiedenen Staaten der Welt beschäftigen, vor rechtliche Herausforderungen stellen. Der vorliegende Beitrag widmet sich Rechtsfragen des sozialversicherungsrechtlichen Kollisionsrechts für mobiles Arbeiten.
Die Frage, welche Personen in den Geltungsbereich eines nationalen Sozialrechtssystems einbezogen sind und welche nicht, regelt zunächst jeder Staat selbst. Sachverhalte mit Auslandsbezug können ausdrücklich in den Geltungsbereich nationaler Gesetze einbezogen oder ausgeschlossen werden. 543 Entsprechend dem Territorialitätsprinzip* regelt das ASVG „die Allgemeine Sozialversicherung im Inland beschäftigter Personen“ (§ 1 ASVG). Gem § 3 Abs 1 ASVG gelten unselbständig Erwerbstätige als im Inland beschäftigt, wenn „ihr Beschäftigungsort im Inland gelegen ist“. § 3 Abs 4 ASVG definiert den Beschäftigungsort als den Ort, „an dem die Beschäftigung ausgeübt“ wird. Wird eine Beschäftigung abwechselnd an verschiedenen Orten ausgeübt, aber von einer festen Arbeitsstätte aus (etwa als Vertreter), so gilt diese als Beschäftigungsort. Wird eine Beschäftigung ohne feste Arbeitsstätte ausgeübt, so gilt der Wohnsitz des Versicherten als Beschäftigungsort. Aus diesen Regelungen kann man schließen, dass der österreichische Gesetzgeber den Begriff des „Beschäftigungsortes“ physisch versteht.* Beschäftigungsort kann somit als der Arbeitsort verstanden werden, an dem der AN physisch anwesend und tätig ist.
Der Gesetzgeber war sich aber durchaus dessen bewusst, dass DN mit einem Nahebezug zu Österreich im Zuge ihrer Arbeitsleistung das österreichische Territorium verlassen könnten und es dennoch wünschenswert ist, ihnen deswegen nicht gleich den Versicherungsschutz in Österreich zu versagen. Er hat diesbezüglich in § 3 Abs 2 ASVG Regelungen getroffen, die Vorkehrung für einen Versicherungsschutz von bestimmten „klassischen“ mobilen DN treffen, nämlich DN von Schifffahrtsunternehmen, Eisenbahn- und Flugunternehmen. Weiters enthält § 3 Abs 2 lit d ASVG eine „klassische“ Entsenderegelung: DN bleiben in Österreich versichert, wenn sie von ihrem DG ins Ausland entsandt werden, bis maximal fünf Jahre. Demgegenüber nimmt das ASVG Personen vom Geltungsbereich des ASVG aus, deren Beschäftigungsverhältnis zu wenig Anknüpfung an das österreichische Sozialversicherungssystem aufzeigt: so vor allem DN inländischer Betriebe für die Zeit ihrer dauernden Beschäftigung im Ausland.
Anders ist die Anknüpfung im Beamten-Krankenund Unfallversicherungsgesetz (B-KUVG) geregelt. Das B-KUVG stellt nicht auf eine Beschäftigung im Inland ab, sondern knüpft für die Pflichtversicherung in der KV und UV an einem bestimmten DG an.* So sind allen voran Beamte in einem Dienstverhältnis zu einer Gebietskörperschaft nach B-KUVG versichert, aber auch DN ausgegliederter Unternehmen, Beschäftigte von Schlaf- und Speisewagenbetrieben, AN der Universitäten gem UG 2002 uvam. Eine tatsächliche Tätigkeit solcher Personen im Ausland ändert nichts an deren Versicherung im Inland.
Diese unterschiedlichen Anknüpfungen im nationalen Recht führen zu Verwerfungen: Stellt ein privates Forschungsinstitut mit Sitz in Österreich eine Mitarbeiterin für eine ausschließliche Tätigkeit in Japan ein, kommt österreichisches Sozialversicherungsrecht aufgrund der Regelungen des ASVG mangels Beschäftigung im Inland nicht zur Anwendung. Stellt dagegen die Universität Wien eine Forscherin zur ausschließlichen Tätigkeit in Japan ein, ist die Forscherin nach B-KUVG in der KV und UV versichert. Nicht dagegen in der PV, da Angestellte der Universitäten in der PV nach ASVG versichert sind.
Buntere Erwerbskarrieren, die AN durch mehrere Staaten führen, ohne dass ausreichende Anknüpfungspunkte zu Österreich bestehen, könnten bei ausschließlicher Anwendbarkeit der österreichischen Normen für die betroffenen Personen zu Versicherungslücken oder zu Doppel- und Mehrfachversorgungen führen. Um das zu verhindern und das anzuwendende Sozialversicherungsrecht in Fällen grenzüberschreitender Sachverhalte festzu legen, hat Österreich mit vielen Staaten zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen.
Durch den Beitritt Österreichs zum EWR am 1.1.1994 wurde für dessen Geltungsbereich das Europäische Sozialversicherungs-Koordinierungsrecht anwendbar. Im Rahmen der EU wurden die zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Sozialversicherungsabkommen durch die Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit beginnend mit dem Jahr 1958* abgelöst und das sozialrechtliche Kollisionsrecht innerhalb der Union einheitlich geregelt. Art 8 Abs 1 VO (EG) 883/2004 (GVO) normiert mit dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung, dass „die Verordnung an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit“ tritt.
Die Koordinierung der Sozialrechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EU erfolgt derzeit durch die GVO. Tragendes Grundprinzip ist, dass in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt nur eine einzige Rechtsordnung für das anzuwendende Sozialversicherungsrecht zur Anwendung kommen soll. Diese wird nach den Art 11 ff GVO bestimmt.
Gem Art 11 Abs 3 lit a) GVO gilt grundsätzlich das Prinzip des Beschäftigungsstaates:* Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats.
Bei den Kollisionsnormen geht es jeweils darum, unter mehreren möglichen Anknüpfungspunkten den maßgeblichen festzustellen. Art 11 GVO bringt zum Ausdruck, dass das Beschäftigungsland Vorrang vor dem Wohnlandprinzip hat. Das Beschäftigungslandprinzip hat auch Vorrang vor dem Sitzstaatprinzip. Anders als die VO 1408/71 findet sich 544 in der GVO diesbezüglich zwar keine ausdrückliche Regelung mehr,* die Rechtslage hat sich aber nach der hM* nicht geändert. Mit dem Beschäftigungslandprinzip lässt sich aber nicht befriedigend operieren, wenn Personen mobil arbeiten und ihre Tätigkeiten in mehreren Mitgliedstaaten erbringen. Die GVO normiert daher in den Art 12 ff Sonderregelungen für Fälle von Auslandsentsendungen oder einer gewöhnlichen Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten. Im Folgenden sollen kollisionsrechtliche Fragen in Bezug auf Sachverhaltskonstellationen, in denen AN in unterschiedlichem Maß mobil sind, untersucht werden.
Die erste Fallkonstellation betrifft MitarbeiterInnen, die grenzüberschreitend internetbasiert arbeiten. Die/der MitarbeiterIn ist in einem anderen Staat physisch anwesend und tätig als in dem Staat, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat und die Leistung verwertet. Wie im nationalen Recht geht es auch hier zunächst um die Frage, wo der Beschäftigungsort einer Person liegt. Jedenfalls nach traditionellem Verständnis gilt im Europäischen Sozialrecht ebenso wie im nationalen Recht, dass es sich beim Beschäftigungsort um den Ort handelt, an dem die arbeitende Person physisch anwesend und tätig ist.* Arbeitet daher eine Person rein internetbasiert für ein Unternehmen in einem anderen Mitgliedstaat der EU, unterliegt sie der Sozialversicherungsordnung des Mitgliedstaats, in dem sie physisch tätig ist, also an ihrem Computer sitzt und arbeitet.* Das gilt für AN ebenso wie für freie DN und WerkunternehmerInnen, da Art 11 Abs 3 lit a GVO auch selbständig Erwerbstätige einbezieht. Diese MitarbeiterInnen mögen physisch total immobil sein. Vielleicht machen sie nie von den Personenfreizügigkeiten Gebrauch. Was mobil ist, ist ihre Leistung.
Ein Unternehmen, das viele MitarbeiterInnen, die ständig im Ausland arbeiten, beschäftigt, ist damit herausgefordert, sich mit einer Vielzahl von Sozialrechtsordnungen auseinander zu setzen.* Denn die nach den zuständigen Rechtsordnungen geforderten Beiträge sind dennoch zu entrichten. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, ob man das sozialrechtliche Kollisionsrecht nicht auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten könnte.*
Man könnte den virtuellen Raum, in dem die MitarbeiterInnen agieren (zB der virtuelle Hörsaal einer Universität auf Zoom), als in jenem Staat verortet denken, in dem das beschäftigende Unternehmen die Tätigkeiten organisiert und verwertet. Mit dem Ergebnis, dass dieser Staat der Beschäftigungsstaat und somit der zuständige Versicherungsstaat wäre. Für das Unternehmen wäre das beträchtlich einfacher.
Dagegen sprechen einige Gründe, allen voran das Regelungsziel der GVO. Die Kompetenzgrundlage der GVO ist im Zusammenhang mit der ANFreizügigkeit geregelt. Die GVO ist auf Art 48 AEUV gestützt. Danach hat der Rat auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit die für die Herstellung der Freizügigkeit der AN notwendigen Maßnahmen zu treffen. Der Zweck der GVO liegt also darin, den Beschäftigten – zunächst den AN, später auch selbständig Erwerbstätigen, Studierenden etc, Bedingungen zu sichern, die diesen die Inanspruchnahme des freien Personenverkehrs* ermöglichen. Der EuGH beruft sich dementsprechend bei der teleologischen Auslegung von Vorschriften des koordinierenden Sozialrechts regelmäßig auf Art 45 AEUV bzw Art 48 AEUV.* Es finden sich zwar auch Urteile, in denen der EuGH auch Erleichterungen der Dienstleistungsfreiheit als Ziel der GVO sieht.* Diese Urteile beziehen sich allerdings nur auf die Entsenderegelungen und erwähnen gleichzeitig immer auch die AN-Freizügigkeit.* In diesen Urteilen werden also nicht die Interessen der Unternehmen den Interessen der AN gegenübergestellt. Die Ausführungen des EuGH zu den Entsenderegelungen sind somit für die Frage nach der grundsätzlichen Anknüpfungslogik des koordinierenden Sozialrechts nicht aussagekräftig.
Wie oben ausgeführt, ist der Sitzstaat des Unternehmens nach der in den Art 11 ff GVO zum Ausdruck kommenden Hierarchie der Anknüpfungspunkte idR immer nur der letztmögliche Anknüpfungspunkt. Würde man aber den „virtuellen Raum“ im Sitzstaat des Unternehmens ansiedeln, käme man im Ergebnis zur Anwendung des Sitzstaatprinzips. Dies wäre mE aufgrund des Aufbaus und des Regelungszwecks der Koordinierungsverordnung, die primär auf die versicherten Personen fokussieren, verfehlt.
Im Folgenden sollen Sachverhaltskonstellationen betrachtet werden, in denen AN die Grenzen der Mitgliedstaaten überschreiten, also tatsächlich physisch mobil sind. Typologisch kann grob zwischen 545 AN, die nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat eingesetzt werden, und AN, die gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten tätig sind, unterschieden werden. Präzise lässt sich eine Unterscheidung nur nach den anzuwendenden Rechtsnormen treffen. Der Gesetzgeber hat mit Art 12 GVO eine Ausnahme vom Beschäftigungslandprinzip für Fälle der Entsendung geschaffen. Danach soll eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines AG, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem AG in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegen, sofern die voraus sichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst. Übt eine Person dagegen gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung aus, kommt Art 13 GVO zur Anwendung. Wegen der Vielzahl der Beschäftigungsorte geht es im Fall des Art 13 GVO um die Frage der Anwendbarkeit der Wohnsitz- oder der Sitzstaatrechtsordnung.
Der Paradefall einer Entsendung liegt vor, wenn ein Unternehmen eine AN für einen gewissen Zeitraum zu Arbeitsleistungen in einen anderen Mitgliedstaat entsendet und die AN für diesen Zeitraum dem Sozialversicherungssystem des Entsendestaates angeschlossen bleibt. Art 12 GVO ist für kurze Zeiträume von Auslandseinsätzen bis zu derzeit 24 Monaten (nach der VO 1408/71 waren es nur 12 Monate) gedacht und soll den Wechsel in eine andere Sozialversicherungsordnung vermeiden. Entsandte AN haben bei vorübergehenden Entsendungen ein Interesse daran, dass ihr Versicherungsverlauf im Herkunftsstaat nicht unterbrochen wird; wie oben gezeigt, berücksichtigt der EuGH aber auch die Interessen der Unternehmen und der Sozialverwaltungen an einer möglichst einfachen Administration.*
Obwohl Art 12 und 13 GVO auf den ersten Blick von sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen ausgehen, ist die Abgrenzung im konkreten Fall dennoch oft schwierig. Um Wiederholungen zu vermeiden, sei diesbezüglich auf die Ausführungen von Diana Niksova verwiesen.*
Es ist jedoch hervorzuheben, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Entsenderegelung Maßnahmen ergriffen hat, um eine missbräuchliche Anwendung der Entsenderegelung zu verhindern.* So sollen die zeitliche Beschränkung des Entsendezeitraums und das Ablöseverbot verhindern, dass AN für zu lange Zeiträume einer anderen Sozialrechtsordnung als jener des Beschäftigungsstaates unterworfen bleiben. Um missbräuchliche Unternehmensgründungen, etwa durch Briefkastenfirmen, in einem Mitgliedstaat mit einer für das Unternehmen günstigeren Sozialrechtsordnung zu vermeiden, fasste die Verwaltungskommission zu Art 14 Abs 1 lit a VO 1408/71 den Beschluss 128 vom 17.10.1985: Die Entsenderegelung war demnach nur anwendbar, wenn „das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit gewöhnlich im ersten Mitgliedstaat ausübt, das heißt im Falle eines Unternehmens, dessen Geschäftstätigkeit darin besteht, anderen Unternehmen vorübergehend Arbeitnehmer zu überlassen, dass es gewöhnlich Personal im Gebiet dieses Staates niedergelassenen Entleihern zur Beschäftigung in diesem Gebiet zur Verfügung stellt“
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Der EuGH entschied in der Rs FTS, dass ein Zeitarbeitsunternehmen seine Geschäftstätigkeit gewöhnlich im Mitgliedstaat seiner Betriebsstätte ausübt, wenn es gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit* in diesem Staat verrichtet. In den Text des Art 12 GVO flossen der Beschluss 128 und diese Judikatur insofern ein, als Art 12 Abs 1 GVO für die Anwendbarkeit der Entsenderegelung verlangt, dass der AG „gewöhnlich“ im Entsendestaat „tätig“ ist. Gem Art 14 Abs 2 der Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 (DVO) muss der AG im Entsendestaat „gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten“ ausüben. Dabei sind alle Kriterien, die die Tätigkeit des betreffenden Unternehmens kennzeichnen, zu berücksichtigen. Nach dem Beschluss 2A der Verwaltungskommission sind neben dem Unternehmenssitz ua die Zahl der Beschäftigten, der Ort, an dem die entsandten AN eingestellt werden, der Ort, an dem der Großteil der Verträge mit den KundInnen geschlossen wird und der erzielte Umsatz in dem betreffenden Mitgliedstaat maßgeblich.* Das bedeutet, dass ein Unternehmen, das Personal ausschließlich oder ganz überwiegend grenzüberschreitend einsetzt oder überlässt, von der Entsenderegelung des Art 12 GVO keinen Gebrauch machen kann.*
Der europäische Gesetzgeber war sich ebenso wie jener des ASVG bewusst, dass es Personengruppen gibt, für die ein einziger Beschäftigungsstaat nicht leicht auszumachen ist. Ähnlich wie das österreichische Recht normiert daher auch die GVO spezielle Anknüpfungspunkte für typischerweise mobile AN: Wird eine Beschäftigung gewöhnlich an Bord eines Schiffes ausgeübt, gilt grundsätzlich der Flaggenstaat als Beschäftigungsstaat. Tätigkeiten als Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglied gelten als in dem Staat ausgeübt, in dem sich die „Heimatbasis“ des Luftfahrtunternehmens befindet. Anders als das ASVG und anders als die Vorgängerregelung VO (EWG) 1408/71 sieht die GVO allerdings weder Sonderregelungen für Beschäftigte im internationalen Bahnverkehr noch für den internationalen Straßenverkehr vor. Für diese Tätigkeiten muss Art 13 GVO herangezogen werden, der ganz allgemein die anzuwendende Rechtsordnung bestimmt, 546 wenn eine Person „eine Beschäftigung gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten ausübt“.*
Nicht jede AN ist allerdings so mobil, dass Art 13 GVO zur Anwendung kommen soll. Immerhin sagt der Wortlaut des Art 13 Abs 1 GVO, dass eine Beschäftigung „gewöhnlich“ in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausgeübt werden muss. Es muss offenkundig eine gewisse Regelmäßigkeit dieser Mehrfachtätigkeit gegeben sein. Deshalb ist in einem ersten Schritt festzulegen, wann der Anwendungsbereich des Art 13 eröffnet ist.
Der EuGH hat im Lauf der Jahrzehnte eine Rsp entwickelt, wonach die Ausnahmeregelung des Art 13 GVO nur dann angewendet werden soll, wenn eine Person gewohnheitsmäßig nennenswerte Tätigkeiten im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten verrichtet.* Daher fällt eine Person in den Anwendungsbereich des Art 13 GVO, die ihre Tätigkeit jeweils etwa zur Hälfte im Gebiet des Mitgliedstaats ihres Wohnsitzes und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausübt.* Ebenso entschied der EuGH im Fall einer regelmäßigen Tätigkeit im Wohnstaat von „mehreren“ – nach den Sachverhaltsfeststellungen waren es zehn – Stunden die Woche bei einer Vollzeitbeschäftigung, und zwar während eines Zeitraums, der nicht auf ein Jahr beschränkt war.*
Übt eine Person dagegen nur punktuell Tätigkeiten im Gebiet eines Mitgliedstaats aus,* kann diese Tätigkeit für die Anwendung des Art 13 GVO nicht berücksichtigt werden. Art 14 Abs 5b DVO bestimmt nun ausdrücklich, dass für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften nach Art 13 GVO marginale Tätigkeiten nicht berücksichtigt werden. Hat eine Person im Jahr nur ungefähr 6,5 % ihrer gesamten Arbeitszeit in ihrem Wohnstaat gearbeitet, und zwar im Wesentlichen zu Hause (es ging um einen Mitarbeiter, der offenbar selbst gewähltes Homeoffice machen konnte), ohne dass dies ausdrücklich im Arbeitsvertrag Arbeitsvertrag vereinbart worden war, kommt Art 13 GVO nicht zur Anwendung.* Es bleibt dann bei der Anknüpfung an der Rechtsordnung des Beschäftigungsstaats unter Ausblendung der marginalen Tätigkeit im Ausland.* Der EuGH hält dazu fest, dass andernfalls der Ausnahmecharakter der Anknüpfung an den Mitgliedstaat des Wohnsitzes verkannt würde und außerdem die Gefahr einer Umgehung der Kollisionsnormen der Verordnung gegeben wäre.*
Ist der Anwendungsbereich des Art 13 GVO eröffnet, da in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten gewohnheitsmäßig nennenswerte Tätigkeiten verrichtet werden – so etwa im Fall eines Tages Homeoffice bei einer Vollzeittätigkeit mit einer regelmäßigen Verteilung der Wochenarbeitszeit –, ist die anzuwendende Sozialversicherungsordnung zu bestimmen. Übt die AN einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit im Wohnstaat aus, kommt gem Art 13 Abs 1 lit a GVO die Sozialrechtsordnung des Wohnstaates zur Anwendung. Ist dies nicht der Fall, kommt die Rechtsordnung des Sitzstaates des AG zur Anwendung.* Art 14 Abs 8 DVO verlangt für die Anwendbarkeit der Rechtsordnung des Wohnstaates, dass die AN oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil der Tätigkeit sein muss. Als Orientierungskriterien sind im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt heranzuziehen. Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht im Wohnstaat ausgeübt wird. Es kommt dann zur Anwendbarkeit der Rechtsordnung des Sitzstaates der AG. Dies zeigt die Brisanz für Unternehmen, deren AN im Homeoffice arbeiten dürfen und womöglich auch sollen. Gerade unter dem Blickwinkel steigender Immobilienpreise und Energiekosten wird es wohl weiterhin einen Trend zu Homeoffice- Vereinbarungen geben. Beschäftigt ein AG mit Sitz in Österreich eine AN, die ihren Wohnsitz* in Deutschland hat, und wird Tätigkeit im Homeoffice vereinbart, wird die Sozialrechtsordnung des Wohnsitzstaates anwendbar, sofern die Tätigkeiten im Wohnsitzstaat 25 % der Gesamtarbeitszeit (zB 10 Stunden Homeoffice) überschreiten. Für Unternehmen könnte dies zu der Situation führen, dass es bei einer gewissen Gestaltungsfreiheit der AN zu einem unvorhergesehenen Kippen der Sozialversicherungsverhältnisse in eine andere Sozialversicherungsordnung kommt.
Das hätte wohl theoretisch in einigen Fällen im Lockdown samt Reisebeschränkungen der Fall sein können. Beim Homeoffice im Lockdown kann man allerdings mit einem „Ausnahmefall“ argumentieren: Die Anwendung des Art 13 GVO lässt sich mit dem Argument ausschließen, es habe sich nicht um ein „gewohnheitsmäßiges“ Tätigwerden in mehreren Staaten gehandelt. Es habe sich vielmehr um einen pandemiebedingten Ausnahmefall, in dem 547 die Tätigkeit von zu Hause weder geplant noch ihre Dauer vorhersehbar war, gehandelt. Aktuelle Homeoffice-Vereinbarungen können dagegen nicht mehr als unvorhergesehener Ausnahmefall qualifiziert werden.*
In solchen Fällen ist es für die Abwicklung der SV durch die Unternehmen wichtig, die tatsächlichen Arbeitsorte und die dort verbrachte Arbeitszeit im Arbeitsvertrag festzuhalten und eine Meldung des Wohnorts vorzusehen. Unzulässig wäre es dagegen, einer AN die grenzüberschreitende Verlegung des Wohnsitzes zu verbieten. Dies wäre eine Verletzung der AN-Freizügigkeit gem Art 45 AEUV. Ist mit einer AN eine Tätigkeit im Homeoffice oder eine rein internetbasierte Tätigkeit ohne Ortsanwesenheit vereinbart, muss der AG den Wechsel der Sozialversicherungsordnung hinnehmen, falls die AN ihren Wohnsitz verlegt.
Fragen werfen Sachverhalte auf, in denen die AN nicht etwa täglich oder wöchentlich die Staatsgrenzen überschreiten, sondern in längeren Zeiträumen nacheinander in verschiedenen Mitgliedstaaten eingesetzt werden. Typologisch betrachtet ist die Mobilität solcher Personen nicht besonders hoch. Als Ausgangspunkt soll die Rs Format I* dienen: Das Unternehmen Format mit Sitz in Polen überlässt Bauarbeiter auf Baustellen in mehreren Mitgliedstaaten. Die Arbeiter haben ihre Wohnsitze in Polen und Format hatte das Ziel, diese AN beim polnischen Sozialversicherungsträger anzumelden. Die Arbeiter waren nie für Format in Polen tätig. Format selbst überlässt in Polen keine AN, verrichtet also in Polen gewöhnlich keine anderen nennenswerten Tätigkeiten als rein interne Verwaltungstätigkeiten.
Die Entsenderegelung des Art 12 Abs 1 GVO könnte daher wegen ihrer Missbrauchskautelen nicht zur Anwendbarkeit polnischen Sozialversicherungsrechts führen. Allerdings ist die grenzüberschreitende Arbeitskräfteüberlassung ausschließlich in andere Mitgliedstaaten keine verbotene Tätigkeit. Das Unternehmen macht vielmehr von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch. Es ist daher essenziell, auch für solche Fälle eine kollisionsrechtliche Regelung zu haben. In Frage kommen nach der aktuellen Rechtslage die Rechtsordnung des Beschäftigungsstaates gem Art 11 GVO oder die Rechtsordnungen des Wohn- bzw Sitzstaates gem Art 13 GVO.
In Format Iwar der betreffende AN dreimal auf der Grundlage befristeter Arbeitsverträge beschäftigt. Er arbeitete zunächst auf der Grundlage eines ersten Vertrags 4,5 Monate in Frankreich, danach aufgrund eines weiteren Vertrags 1,3 Jahre wiederum in Frankreich. Zuletzt wurde ein Vertrag für ca 8 Monate in Finnland abgeschlossen. Die einzelnen Arbeitsverträge enthielten Klauseln, wonach die AN in mehreren Mitgliedstaaten aufgrund von Weisungen eingesetzt werden hätten können. Im Anlassfall handelte es sich also um konsekutive Einsätze eines AN in verschiedenen Mitgliedstaaten, wobei die Einsätze jeweils längere Zeiträume umfassten. Üben solche AN iSd Art 13 GVO „gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten eine Beschäftigung“ aus?
Diesbezüglich regelt Art 14 Abs 5 DVO, dass darunter Personen zu verstehen sind, die gleichzeitig oder abwechselnd für dasselbe Unternehmen oder für verschiedene Unternehmen eine oder mehrere gesonderte Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausüben.
Was heißt gleichzeitig oder abwechselnd? Im Grunde ist eine gleichzeitige mehrfache Tätigkeit – außer im Fall einer karenzierten Tätigkeit – überhaupt nicht denkbar, da man zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine einzige Tätigkeit ausführen kann. Die Frage, die sich hier wirklich stellt, ist jene nach dem Bezugszeitraum. Diesbezüglich wurde im Verfahren vom vorlegenden Gericht richtigerweise darauf hingewiesen, dass Art 14 Abs 2 der im Verfahren anzuwendenden VO 1408/71 keine zeitlichen Beschränkungen für etwaige aufeinanderfolgende Tätigkeitszeiträume, die im Gebiet von mehr als einem Mitgliedstaat zurückgelegt werden, setzt. Die Europäische Kommission vertrat den Standpunkt, dass man den Bezugszeitraum mit zwölf Monaten festsetzen könne. Der polnische Sozialversicherungsträger und die deutsche Regierung stellten dagegen auf den wohl in den meisten Sozialversicherungsordnungen üblichen Beitragszeitraum von einem Monat ab.
Der EuGH musste diese Frage im Verfahren Format I allerdings noch nicht klären. Er nahm eine vertragsbezogene Sichtweise an und konnte schlicht auf den Wortlaut der Regelung abstellen, wonach eine Person nur dann unter Art 13 GVO (hier noch Art 14 Abs 2 VO 1408/71) fällt, wenn sie „gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten“ tätig ist. In den Verträgen wurden zwar als Ort der Arbeitsleistung „Betriebe und Baustellen in Polen und im Gebiet der Europäischen Union (Irland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Finnland)“ angegeben. Der betreffende AN verrichtete allerdings auf der Grundlage eines Vertrages Arbeiten jeweils nur in einem einzigen Mitgliedstaat. Unter diesen Umständen könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein solcher AN unter den Begriff „Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist“, falle.* Der EuGH orientiert sich also am tatsächlich gelebten Arbeitsverhältnis. 548
Die Frage der Bezugsräume konsekutiver Einsatzzeiten holte den EuGH in der Rs Format II, etwa neun Jahre später, dann doch ein. Das Unternehmen hatte inzwischen – wohl in Reaktion auf das erste Urteil des EuGH – seine Vertragspraxis geändert. Es wurden nun auf lange Zeit befristete Arbeitsverträge abgeschlossen, aufgrund derer die AN nacheinander in verschiedenen Mitgliedstaaten eingesetzt wurden. Im Anlassfall des Verfahrens Format II war der AN ungefähr 13 Monate in Frankreich eingesetzt, anschließend zwei Monate in Großbritannien und dann erneut zwei Jahre in Frankreich. Fraglich ist, ob die Rechtsordnung des Beschäftigungsstaates – das wäre Frankreich – anzuwenden ist, oder gem Art 14 Abs 2 VO 1408/71 (der dem heutigen Art 13 GVO entspricht) die Rechtsordnung des Sitzstaates des Unternehmens, dh Polen.
Der EuGH rekurriert wieder auf den Wortlaut der Regelung, die verlangt, dass „gewöhnlich“ eine Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten erbracht wird. Er hält fest, dass für den angegebenen Sachverhalt davon auszugehen sei, dass der Betroffene im Rahmen seines für den Zeitraum vom 20.10.2006 bis zum 31.12.2009 geschlossenen Arbeitsvertrags nahezu seine gesamte abhängige Beschäftigung im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats ausgeübt habe.* Er wiederholt, dass Art 14 Abs 2 nicht angewendet werden könne, wenn die Ausübung einer abhängigen Beschäftigung im Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats für ihn den Regelfall darstelle.* Die Lösung des Falles, die der EuGH ja dem nationalen Gericht nicht vorgibt, wäre demnach, dass die Sozialrechtsordnung Frankreichs als Beschäftigungsstaat zur Anwendung kommt. Die zweimonatige Tätigkeit in Großbritannien wäre als Entsendung zu qualifizieren, für die der französische Träger eine Entsendebestätigung E 101 ausstellen hätte müssen.
Darüber hinaus bemüht sich der EuGH um eine kohärente Auslegung des Art 13 GVO mit der Entsenderegelung. Es sei davon auszugehen, dass eine Person, die während aufeinanderfolgender Beschäftigungszeiträume in verschiedenen Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, als gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt anzusehen ist, wenn die Dauer der ununterbrochenen Beschäftigungszeiten in jedem dieser Mitgliedstaaten zwölf Monate nicht überschreitet.* Er folgt damit im Ergebnis den Ausführungen der Europäischen Kommission im Verfahren Format I, wo diese für einen Bezugszeitraum von 12 Monaten argumentiert hatte. Hätte Format die AN anders als im Ausgangsfall jeweils nur für 11 Monate oder kürzer in verschiedenen Mitgliedstaaten eingesetzt, wäre polnisches Recht als Sitzstaatrecht zur Anwendung gekommen.
Zur Kohärenz mit der Entsendedauer ist allerdings zu bedenken, dass in beiden Verfahren vor dem EuGH die VO 1408/71 ausgelegt wurde, die lediglich eine 12-monatige Entsendedauer vorsah. Nach der nunmehr anwendbaren GVO beträgt die Entsendedauer 24 Monate. Es stellt sich die Frage, ob das Argument der Kohärenz mit der Entsenderegelung weiterhin maßgeblich sein soll und tatsächlich für Tätigkeiten bis zu zwei Jahren Art 13 GVO anwendbar sein soll. Man kann annehmen, dass der EuGH auch in Zukunft in diese Richtung argumentieren wird, da dieses Ergebnis die systematische Stringenz für sich hat.
Für AN, die gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten tätig sind, führen die kollisionsrechtlichen Regelungen häufig zur Anwendbarkeit der Sozialrechtsordnung des Sitzstaates des AG. Das immer dann, wenn der Beschäftigte in seinem Wohnstaat keine nennenswerte Tätigkeit ausübt. Die Anknüpfung an den Sitzstaat des AG hat sich allerdings als missbrauchsanfällig erwiesen. Anders als die Entsenderegelung des Art 12 GVO enthält Art 13 GVO, wie oben gezeigt, keine Bestimmung, dass der AG in seinem Sitzstaat gewöhnlich eine unternehmerische Tätigkeit ausüben muss. Dh die Einladung, mobile AN über Subunternehmer-Konstruktionen in Staaten anzumelden, die die für das Unternehmen günstigsten Sozialversicherungsbedingungen haben, ist groß.*
In der Rs AFMB* entwickelte der EuGH eine Lösung, um mit Umgehungsstrategien umzugehen. In den Niederlanden wohnhafte LKW-Fahrer wurden über das Unternehmen AFMB mit Sitz in Zypern angestellt, um in der Folge für Transportunternehmen mit Sitz in den Niederlanden in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten tätig zu sein. Es wurde die Geltung zypriotischen Arbeitsrechts vereinbart und die Fahrer bei der zypriotischen Sozialversicherung angemeldet. Zwischen AFMB und den Fahrern wurden zwar formal Arbeitsverträge abgeschlossen und der Lohn wurde von AFMB ausbezahlt. Allerdings wurden die Fahrer vor dem formalen Vertragsabschluss mit AFMB von den Transportunternehmen ausgesucht – viele waren schon vorher deren AN gewesen. Die AN waren tatsächlich den Weisungen der Transportunternehmen unterworfen, diese trugen wirtschaftlich betrachtet die Lohnkosten und entschieden de facto über Entlassungen, die im Anschluss von AFMB bloß formal ausgesprochen wurden. Der E lag somit ein Sachverhalt zugrunde, der im Wesentlichen als „Payrolling“ zu qualifizieren ist, weil der vertragliche AG offenbar lediglich als Zahlstelle fungierte.*
Der EuGH setzt sich mit der Auslegung des unionsrechtlich autonom auszulegenden Begriffs „Arbeitgeber“ iSv Art 13 Abs 1 lit b Z i GVO auseinander. Die GVO selbst definiert diesen Begriff nicht. Der 549 EuGH stellt fest, dass nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die Beziehung zwischen einem „Arbeitgeber“ und seinem beschäftigten „Personal“ im Allgemeinen mit dem Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen diesen beiden einhergehe.*
Anschließend nimmt der EuGH auf seine Vorjudikatur zu Entsendungen durch Leiharbeitsunternehmen Bezug. Es stellt sich die Frage der Abgrenzung zwischen der AG-Qualität eines Leiharbeitsunternehmens und eines „formalen“ DG wie AFMB. In der Rs Manpower aus dem Jahr 1970 sagte der EuGH, die Abhängigkeit des AN von einem AG ergebe sich daraus, dass das Überlassungsunternehmen den Lohn des AN zahle und ihn im Falle etwaiger schuldhafter Handlungen, die er sich bei der Verrichtung seiner Arbeit bei der Entleiherfirma zuschulden kommen lasse, entlassen könne.*
In der Rs FTS sagte der EuGH, für die Feststellung, ob eine arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem AN und dem Leiharbeitsunternehmen besteht, komme es darauf an, ob sich aus den gesamten Umständen des Beschäftigungsverhältnisses ergibt, dass der AN diesem Unternehmen untersteht.*
Bloße Briefkastenfirmen sollten von der Entsenderegelung nicht profitieren können. Auf diese Problematik wurde vom EuGH insb in der Rs Format I Bezug genommen: Es sei zu berücksichtigen, dass möglicherweise eine Diskrepanz zwischen den sich aus den fraglichen Arbeitsverträgen ergebenden Informationen einerseits und der praktischen Erfüllung der Pflichten im Rahmen dieser Verträge andererseits bestehe.* Neben dem Wortlaut der Vertragsunterlagen seien auch Gesichtspunkte, wie die praktische Durchführung von Arbeitsverträgen zwischen dem AG und dem AN in der Vergangenheit, die Umstände beim Abschluss dieser Verträge und ganz allgemein die Merkmale und Modalitäten der von dem betreffenden Unternehmen ausgeübten Tätigkeiten zu berücksichtigen, sofern diese Gesichtspunkte Aufschluss über das tatsächliche Wesen der betreffenden Arbeit geben könnten.*
In der Rs AFMB hält der EuGH zusammenfassend fest, dass es ungeachtet des Wortlauts der Vertragsunterlagen auf die tatsächliche Situation des AN ankomme.* Dh, der EuGH stellt – ähnlich wie es gem § 539a ASVG für nach österreichischem Recht zu beurteilende Sachverhalte gilt – auf den „wahren wirtschaftlichen“ Gehalt und nicht auf die „äußere Erscheinungsform des Sachverhaltes“ ab.
AG eines im internationalen Güterkraftverkehr tätigen LKW-Fahrers ist das Unternehmen, das diesem Fahrer gegenüber tatsächlich weisungsbefugt ist, das in Wirklichkeit die entsprechenden Lohnkosten trägt und das tatsächlich befugt ist, ihn zu entlassen, und nicht das Unternehmen, mit dem der Fahrer einen Arbeitsvertrag geschlossen hat und das in diesem Vertrag formal als AG des Fahrers angegeben ist.* Da die LKW-Fahrer zwar in den Niederlanden wohnten, dort aber nicht auch einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübten, war gem Art 13 Abs 1 lit b Z i GVO der Sitz des AG der maßgebliche kollisionsrechtliche Anknüpfungspunkt, was zur Anwendbarkeit des niederländischen Sozialversicherungsrechts führte.
Um missbräuchlichen Praktiken vorzubeugen, hat die Europäische Kommission im Jahr 2016 einen Änderungsvorschlag für die DVO gemacht, der aber inzwischen gescheitert scheint.*
So sollte Art 14 Abs 5a DVO dahingehend geändert werden, dass die Rechtsordnung des Sitzstaates nur dann anwendbar ist, wenn das betreffende Unternehmen gewöhnlich eine wesentliche Tätigkeit im Sitzstaat ausübt. Anderenfalls sollen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen seine wesentlichen Tätigkeiten ausübt oder in dem sich der Mittelpunkt seiner Tätigkeiten befindet, unterworfen sein.
Mit diesem Änderungsvorschlag sollte offenbar ein Gleichklang mit der Entsenderegelung gefunden werden. Es sollte nur dann zur Rechtsordnung des Sitzstaates kommen, wenn das entsendende oder mobile AN beschäftigende Unternehmen im Sitzstaat eine unternehmerische Tätigkeit entfaltet, die über rein administrative Tätigkeiten hinausgeht. Ein solcher Vorschlag ist aber insofern ein Problem, als dann jedenfalls ein typischer Sachverhalt im Bereich des mobilen AN-Einsatzes, wie er der Rs Format zugrunde lag, nicht abgedeckt werden könnte bzw zu keinem anderen Ergebnis führen würde als derzeit: Ein Arbeitskräfteüberlasser, der Arbeitskräfte ausschließlich in andere Mitgliedstaaten überlässt, und zwar mobil in dem Sinn, dass diese AN gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten eingesetzt werden, entfaltet seine wesentliche Tätigkeit im Sitzstaat, bzw hat seinen Mittelpunkt dort. In einem solchen Fall bliebe es daher bei der Rechtsordnung des Sitzstaates.
Da wie bereits erwähnt die unternehmerische Tätigkeit der Arbeitskräfteüberlassung in ausschließlich andere Mitgliedstaaten eine zulässige unternehmerische Tätigkeit ist, die von der Dienstleistungsfreiheit erfasst ist, bleibt im Fall der gewöhnlichen Tätigkeit des Personals in mehreren Mitgliedstaaten nur die Wahl zwischen dem Sitzstaatprinzip und dem Wohnstaatprinzip. Der EuGH hat mit der Rs AFMBgezeigt, dass über die Auslegung des AG-Begriffs missbräuchlichen Konstruktionen über Briefkastenfirmen bzw bloßem Payrolling entgegengewirkt werden kann. ME hätte daher eine Änderung des Art 13 GVO in diesem Punkt wenig Mehrwert.
Grenzüberschreitende Mobilität des Personals, manchmal sogar lediglich die Mobilität der Leistung 550 im virtuellen Raum, stellt die national organisierten Sozialversicherungssysteme sowie die Unternehmen regelmäßig vor große Herausforderungen. Kommt das Sitzstaatprinzip nicht zur Anwendung, müssen sich Unternehmen mit einer Vielzahl verschiedener Sozialrechtsordnungen auseinandersetzen. In vielen Fällen wird die Anwendbarkeit einer bestimmten Rechtsordnung unklar oder strittig sein. Ein verstärktes Abstellen auf das Sitzstaatprinzip widerspräche allerdings der Kompetenzgrundlage der GVO, die sich auf die ANFreizügigkeit stützt. Daher kommt in der Praxis den Verfahrensregelungen, die entscheiden, wie Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten über die Anwendung der jeweiligen Sozialrechtsordnungen gelöst werden sollen, besondere Bedeutung zu. In diesem Sinn wird der weitaus größte Teil von Fällen in der täglichen Praxis der Sozialversicherungsträger und Behörden unkompliziert erledigt. Bis zum EuGH kommen – oft medienwirksam – die hartnäckigen Konfliktfälle, in denen sich die Verfahrensregeln als träge und insofern als unbefriedigend herausstellen, als sie bestimmten Staaten – so insb den Entsendestaaten im Fall des Art 12 GVO oder den Wohnstaaten gem Art 13 GVO – de facto die Macht verleihen, die anwendbare Rechtsordnung festzulegen, sofern nicht eklatante Missbrauchsfälle vorliegen.Anwendung der jeweiligen Sozialrechtsordnungen gelöst werden sollen, besondere Bedeutung zu. In diesem Sinn wird der weitaus größte Teil von Fällen in der täglichen Praxis der Sozialversicherungsträger und Behörden unkompliziert erledigt. Bis zum EuGH kommen – oft medienwirksam – die hartnäckigen Konfliktfälle, in denen sich die Verfahrensregeln als träge und insofern als unbefriedigend herausstellen, als sie bestimmten Staaten – so insb den Entsendestaaten im Fall des Art 12 GVO oder den Wohnstaaten gem Art 13 GVO – de facto die Macht verleihen, die anwendbare Rechtsordnung festzulegen, sofern nicht eklatante Missbrauchsfälle vorliegen.