Heiß umfehdet, wild umstritten – Die Entstehung des Arbeitnehmerschutzgesetzes 1972
Heiß umfehdet, wild umstritten – Die Entstehung des Arbeitnehmerschutzgesetzes 1972
Vor 50 Jahren trat das erste österreichische Gesetz in Kraft, das ausschließlich und umfassend den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der ArbeitnehmerInnen (AN) zum Gegenstand hatte. Es war dies das Arbeitnehmerschutzgesetz.*
Bis kurz vor seiner Einbringung in den Ministerrat wurde das Gesetz unter der Bezeichnung „Dienstnehmerschutzgesetz“ diskutiert, gefordert, aber auch abgelehnt. Der Lesbarkeit wegen wird im Folgenden einheitlich vom ANSchG (Arbeitnehmerschutzgesetz) gesprochen.
Der VfGH umschreibt „Arbeiterschutz und Angestelltenschutz“ wie folgt: Er umfasst alle jene Maßnahmen, die zum Schutz der Arbeitnehmer gegen eine Ausbeutung oder vorzeitige Abnützung ihrer Arbeitskraft (persönlicher Arbeiterschutz) und gegen Gefährdung ihres Lebens, ihrer Gesundheit und ihrer Sittlichkeit in den Betrieben (technischer Arbeiterschutz) erlassen werden.*
Dies ist treffend, denn Lohnabhängige haben nichts zu verkaufen als ihre eigene Arbeitskraft.
Der Schutz vor der erwähnten „vorzeitigen Abnützung“
und Ausbeutung der Arbeitskraft ist nicht nur ein zentrales Kampfthema der Arbeiterbewegung, sondern war in der Frühzeit vor allem auch militärisch motiviert.*
Die Wurzeln des späteren ANSchG reichen zurück in die Gewerbeordnung. Diese regelte die Rechtsstellung des Gewerbes und der Fabriken. In dieses Gesetz wurden, historisch gewachsen, auch Arbeiterschutzbestimmungen als Nebenregelungen aufgenommen.*
Die Stammfassung der GewO 1859* enthielt nur minimale Beschränkungen der Kinderarbeit* in Fabriken, die aber wegen des Fehlens einer Kontrolle „toter Buchstabe blieben“
.* In der Phase des Wirtschaftsliberalismus, dessen Vertreter jegliche Arbeits- und Vertragsbedingungen als „Gegenstand freien Übereinkommens“* betrachteten, waren Forderungen nach Arbeiterschutz nicht durchzusetzen.* Erst der Börsenkrach 1873 und die nachfolgende Wirtschaftskrise verschoben die Kräfteverhältnisse: Es folgte die konservative Regierung Taaffe.* Diese stellte sich den Forderungen der erstarkenden Arbeiterbewegung, freilich auch in der Absicht, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mehr als zwölf Jahre brauchte es, die GewO-Novelle 1885* entstehen zu lassen. Mit dieser erreichte die Arbeiterschaft erstmals die öffentlich-rechtliche Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit,* die Sonn- und Feiertagsruhe, Beschäftigungsbeschränkungen für jugendliche und weibliche Arbeiter, etc.* Der mit der Novelle 1885 neu geschaffene § 74 GewO betraf den Schutz des Lebens und der Gesundheit*606 der Arbeiter. Er verpflichtete die „Gewerbsinhaber“, auf ihre Kosten die Arbeitsräume, Maschinen und Gerätschaften sowie beigestellte Wohnungen entsprechend zu gestalten und die Arbeitsräume möglichst licht, rein und staubfrei zu halten und zu lüften. Maschinen, Kraftübertragungseinrichtungen udgl waren so zu sichern, „dass eine Gefährdung der Arbeiter bei umsichtiger Verrichtung ihrer Arbeit nicht leicht bewirkt werden kann“
.
Die geringe Konkretheit dieser Bestimmungen beeinträchtigte ihre Anwendbarkeit und Durchsetzung. Durchführungsbestimmungen wurden nahezu keine erlassen; die Gewerbeinspektoren waren häufig auf Entgegenkommen und guten Willen der AG angewiesen. Der Abgeordnete Verkauf kritisiert 1911: „Die österreichische Bureaukratie hat es durch ein Vierteljahrhundert zu verhindern gewußt, dass der § 74 der Gewerbeordnung, der die Möglichkeit zur Erlassung von Unfallverhütungsvorschriften bot, zur praktischen Anwendung kommt. Jetzt nach 25 Jahren entdeckt unsere Bureaukratie, daß dieser Paragraph erst einer gründlichen Aenderung bedarf, wenn er eine wirksame Handhabe zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter bieten soll.“
*
In der Tat erscheint § 74 GewO idF 1885 als eine dürftige Basis für Verordnungen.*
Mehr als fünf Jahre zogen sich die Kontroversen hin, um die als fehlend erkannte Verordnungsgrundlage zu schaffen. Die GewO-Novelle 1913 ersetze § 74 durch neue §§ 74 bis 74d.* Demnach hatte der AG auch alle nötigen „sanitären Vorkehrungen zu treffen“
, also zB Schutzkleidung und erforderlichenfalls Schutzbrillen beizustellen. Für Werkswohnungen war gesundes Trinkwasser bereitzustellen, „sofern es die örtlichen Verhältnisse zulassen“
. Zahlreiche weitergehende Anträge der Sozialdemokratie wurden jedoch abgelehnt.* § 74a ermächtigte den Handelsminister,* allgemeine wie auch tätigkeitsspezifische Schutzbestimmungen mit Verordnung zu erlassen. Unternehmerverbände beharrten auf der Regelung durch Gesetz,* dies wohl im Bestreben – wie schon bisher – unbequeme Regelungen auf parlamentarische Weise blockieren zu können.
Besonders umstritten war der sogenannte „sanitäre Maximalarbeitstag“
, dh die Möglichkeit, mit Verordnung für Arbeiten, „bei welchen durch übermäßige Dauer der Arbeitszeit offenbar die Gesundheit der Arbeiter in erheblichem Maße gefährdet wird“
, eine maximale Tagesarbeitszeit vorzuschreiben. Die Ablehnung seitens der Unternehmerverbände ging so weit, dass sie das Herrenhaus dazu brachten, die bereits beschlossene Novelle ein Jahr zu blockieren.* Vor dem Hintergrund, dass in Betrieben bis 20 ArbeiterInnen noch immer keine Höchstarbeitszeit galt, betrachtete die Arbeiterschaft diese potentielle Arbeitszeitbeschränkung als den wesentlichsten Teil der ganzen Novelle.*
Auf Verlangen der Industrie und gegen den Widerstand von Arbeiterseite wurden die Arbeiterschutzverordnungen de facto nur für neue Betriebe wirksam. Auf bestehende, bereits genehmigte Anlagen finden sie „nur insofern Anwendung, als die dadurch bedingten Änderungen der Anlage ohne Beeinträchtigung der [durch den Bewilligungsbescheid] erworbenen Rechte durchführbar sind, es sei denn, daß es sich um Beseitigung von ... offenbar gefährdenden Mißständen handelt oder daß die gestellten Anforderungen ohne unverhältnismäßigen Kostenaufwand und ohne größere Betriebsstörung durchführbar sind“
(§ 74a). Eine Befristung oder Einzelfallentscheidung, wie von der Sozialdemokratie als Abmilderung gefordert, wurde abgelehnt. Dieser Bestandsschutz wurde sogar in § 34 ANSchG weitergeführt.
Die skizzierten §§ 74 bis 74d GewO idF 1913 sollten (von einer minimalen Veränderung abgesehen) sechs Jahrzehnte, auch während des NS-Regimes, bis zum Inkrafttreten des ANSchG 1973 die Grundlage für betriebliche Sicherheit und Gesundheitsschutz in Österreich bleiben.* Auf ihrer Grundlage wurden eine Reihe von Verordnungen erlassen, bspw die Allgemeine Dienstnehmerschutzverordnung (ADSV)* mit breitem Themenspektrum, weiters Schutzbestimmungen für Bauarbeiten, Sprengarbeiten, Arbeiten in Steinbrüchen usw.
Hervorzuheben ist, dass alle Schutzbestimmungen der GewO und die Verordnungen nur für ArbeiterInnen und nur im sachlichen Wirkungsbereich der GewO* galten. Sie waren daher für Angestellte 607 ebenso wenig anzuwenden wie bspw in den Sektoren Eisenbahn, Bergbau, Land- und Forstwirtschaft, Heimarbeit, Heilkunde, Unterricht, Theater, Zeitung, Bank, Versicherung, Rechtsvertretung und Ziviltechnik. Diese stark eingeschränkte Geltung sollte erst 1947 mit dem ArbeitsinspektionsG teilweise beseitigt werden.*
Mit Erk vom 17.12.1964 hob der VfGH* jene Bestimmung der ADSV auf, die AG verpflichtete, AN nur in natürlich belichteten Arbeitsräumen zu beschäftigen.* Die absolute Forderung, dass Arbeitsräume natürlich belichtet sein müssen (soweit produktionstechnische Gründe dies nicht ausschließen), sei von §§ 74 bzw 74a GewO nicht gedeckt. Die Aufhebung dieser Bestimmung kam der Erlaubnis gleich, Arbeitsräume generell ohne Tageslicht einzurichten, ein aus arbeitshygienischer Sicht unakzeptierbarer Zustand.
Schon 1952 hatte der VfGH – mit anderer Grundtendenz – erkannt, man dürfe den § 74a GewO „im Hinblick auf die Entwicklung, die die Sozialgesetzgebung in den seither verflossenen 40 Jahren genommen hat, wohl nicht zu enge auslegen, wenn man mit der Tendenz dieser Gesetzgebung nicht sofort in unlösbare Widersprüche geraten will“
.*
Bei der Ausarbeitung verschiedener AN-Schutzverordnungen waren ernste Zweifel laut geworden, dass deren Inhalte in §§ 74 und 74a GewO keine hinreichende Stütze fänden. Wenn etwa zur Vorbereitung von Sprengarbeiten, zur Bedienung großer Krane oder zur Aufsicht in Steinbrüchen bescheinigte Qualifikationsanforderungen für AN vorgeschrieben werden sollten, schien eine solche Anforderung von der GewO nicht gedeckt; ähnlich eine Meldepflicht für bestimmte Baustellen.* Auch die von der AK schon 1951 angeregte – aber damals ignorierte – verpflichtende innerbetriebliche Bestellung von Sicherheitstechnikern* wäre wohl auf unsicherer Grundlage in der GewO gestanden.
Der vorliegende Beitrag zeichnet die Entstehung des ANSchG nach.
Dieses Vorhaben wird durch eine überraschend schlechte Quellenlage beeinträchtigt. Die relevanten Akten-Jahrgänge des BMsV (BM für soziale Verwaltung) wurden offenbar skartiert. Alle anderen involvierten Ministerien und Institutionen haben einschlägige Dokumente nicht aufbewahrt oder ihre Archive inzwischen vernichtet. Nur wenige der vermutlich zahlreichen Stellungnahmen im Begutachtungsverfahren sind überliefert. Nach langwierigem Suchen konnten in Unterlagen des BMHGI (BM für Handel, Gewerbe und Industrie)* die Protokolle der Unfallverhütungskommission sowie umfangreiche Akten betreffend die Kontroversen zwischen BMHGI und BMsV aufgefunden werden.* Was die amtlichen Überlegungen und Vorgänge betrifft, liegen somit fast nur Dokumente aus dem Handelsministerium vor, was hinsichtlich einer Quellenkritik zu berücksichtigen wäre.**
Der offensichtlichen Notwendigkeit, die gesetzlichen Grundlagen für die Erlassung von ANSchutzverordnungen verfassungskonform neu zu gestalten, entsprach das Zentral-Arbeitsinspektorat im BMsV, indem es ab 1964 den Entwurf für ein eigenständiges ANSchG (vorerst unter dem Titel Dienstnehmerschutzgesetz) ausarbeitete.* Dabei orientierte es sich an den in der ADSV geregelten Sachbereichen und konzipierte die grundlegenden Anforderungen insb an Arbeitsräume, Verkehrswege, Betriebseinrichtungen, Arbeitsmittel, Arbeitsvorgänge, Unterweisung der AN, persönliche Schutzausrüstungen, Brandschutz und Erste Hilfe-Vorkehrungen, Pausenräume, Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, so dass diese als Verordnungsgrundlagen tauglich sein sollten. In den Ausschussberatungen im NR wurde die ergonomische Gestaltung der Arbeit(svorgänge) ins ANSchG mit aufgenommen. Weiters regelte der Entwurf die lang geforderte Kennzeichnung von Behältern mit gefährlichem Inhalt, die für bestimmte gefährliche Arbeiten erforderliche Fachkunde, die Zulassung von sicherheitsrelevanten Arbeitsmitteln und -stoffen,* die Bewilligung für risikobehaftete Betriebe, die Behördenzuständigkeit sowie Straf- und Übergangsbestimmungen, darunter die Aufhebung der §§ 74 bis 74c GewO. Der Entwurf wie auch das beschlossene ANSchG umfassten 35 Paragraphen. Auf die wichtigen, im Entwurf vorgesehenen neuen innerbetrieblichen Strukturen für Sicherheit und Gesundheitsschutz wird unten (Pkt 9.2.) eingegangen.
Wegen der schon angesprochenen verfassungsund verwaltungsrechtlichen Probleme hatten die 608 AK bereits ab 1951* und der ÖGB ab 1955* eine Herauslösung des Arbeitnehmerschutzes aus der GewO und ein eigenständiges Gesetz mit umfangreicher Geltung gefordert.
Der ANSchG-Erstentwurf wurde der beim BMsV bestehenden Unfallverhütungskommission* zur Beratung übergeben. Diese Kommission bestand aus stimmberechtigten Vertretern der AK, der Bundeswirtschaftskammer (BWK), der Ingenieurkammer, der Ärztekammer und der AUVA. Ohne Stimmrecht wirkten Vertreter des BMsV, des BMHGI, des Verkehrsministeriums, des BMLuF, des BM für Unterricht sowie beigezogene „Fachmänner“ mit.*
Der für den ANSchG-Entwurf gebildete Fachausschuss der Unfallverhütungskommission beriet den Erstentwurf in 25 Sitzungen und legte im November 1966 eine Überarbeitung vor.*
Von der ersten Sitzung an trat der Hauptkonflikt hervor: Das BMHGI und die BWK lehnten ein eigenes ANSchG entschieden ab.* Ein solches sei nicht erforderlich, einzelne aufgetretene Probleme seien in der „bewährten GewO“ zu lösen. Damit zu befassen habe sich nicht die Unfallverhütungskommission, sondern die Kommission zur Neuregelung der GewO, die sich ebenfalls für eine Regelung innerhalb der GewO ausspreche. Die Zuständigkeit des BMsV für den AN-Schutz iZm der GewO sei keineswegs eindeutig geklärt.* Das ANSchG schaffe Doppelgleisigkeiten behördlicher Entscheidungen. Die Schutzmaßnahmen des Gewerbebetriebs für seine Kunden seien „dieselben“
wie jene für seine AN, für seine Lieferanten und Anrainer. Als „komplexes Ganzes“
seien sie gemeinsam zu regeln, anderenfalls würde ein Sondergesetz „Zusammenhängendes willkürlich zerreißen“
. Wie weit die Handelnden diese Argumente selbst glaubten, darf hinterfragt werden, da der ihnen vorliegende Entwurf umfangreiche Bestimmungen über die Unterweisung der AN, über persönliche Schutzausrüstungen, spezifische Arbeitsplatzanforderungen udgl umfasste.
Für ein selbständiges Gesetz sprachen sich neben dem BMsV die AK, Ärztekammer, Ingenieurkammer und die AUVA aus.
Zugunsten des ANSchG wurde vorgebracht, dass schon jetzt die Geltung der AN-Schutzverordnungen weit über den Bereich der GewO hinaus ausgedehnt sei* und ihre Weiterentwicklung eine umfassende, moderne und verfassungsrechtlich einwandfreie Grundlage erfordere. Doppelgleisigkeiten seien nicht zu befürchten, denn das ANSchG beruhe auf dem Prinzip der Verfahrenskonzentration. Aus gutem Grund seien in der Vergangenheit die Sonn- und Feiertagsruhe, der Mutterschutz, die Arbeitszeitregelung, die Kinder- und Jugendlichenbeschäftigung, die Frauennachtarbeit und die Berufsausbildung aus der GewO herausgelöst worden. Mit dem Bundesdienstnehmer-Schutzgesetz sei parallel gleichfalls eine eigenständige Regelung im Entstehen.* Eine hinreichende Determinierung iSd Art 18 B-VG würde den Rahmen der GewO sprengen. Die Zuständigkeit des BMsV ergäbe sich eindeutig aus seinen Gründungsrechtsakten und hinsichtlich der Vollziehung aus dem ArbIG;* das ANSchG sei auf den Kompetenztatbestand „Arbeiter- und Angestelltenschutz“ gestützt und nicht auf „Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie“. Von den für die Beschäftigung von AN erforderlichen speziellen Schutzvorschriften kämen nur sehr wenige auch für andere Personen, zB Anrainer, in Betracht. Sozialpolitisch fortschrittlicher AN-Schutz beanspruche etwa auch in der Schweiz, den Niederlanden, in Schweden und Deutschland eigene Gesetze für sich.
Diese konträren Sichtweisen werden in den folgenden Jahren in Variationen oftmals wiederholt.* Ab April 1966 verläuft der Konflikt zwischen Parteifreunden. In der ÖVP-Alleinregierung steht Handelsminister und Vizekanzler Fritz Bock (ab Jänner 1968 BM Otto Mitterer) der Sozialministerin Grete Rehor gegenüber.
Seit vielen Jahren wurde an einer völligen Neuordnung der Voraussetzungen und Befugnisse der Gewerbeausübung gearbeitet. Im entsprechenden Teilentwurf einer neuen GewO will das BMHGI die gegenüber den alten §§ 74 ff nur wenig veränderten AN-Schutzbestimmungen beibehalten, während das BMsV ein eigenes ANSchG für nötig hält. Das BMsV bezeichnet es als „undenkbar“, dass zwei Bundesministerien in derselben Sache „grundlegend verschiedene Auffassungen“ öffentlich vertreten und fordert das BMHGI auf, Übereinstimmung herzustellen.* Dennoch gibt das BMHGI den 609 Entwurf einer neuen GewO (1. Teil) in allgemeine Begutachtung (20.12.1966).
Die BWK schreibt an Bock, sie befürchte, dass das BMsV das ANSchG gleichfalls in Begutachtung gebe und bittet Bock um „sofortige Initiative“, um „auf geeignet erscheinende Weise auf ... Rehor ... einzuwirken, daß der Gesetzentwurf nicht zur Aussendung gelangt“
.* Bock antwortet an die BWK und zur Kenntnis an Rehor, dass mit Rehor besprochen sei, den AN-Schutz nur im Rahmen der GewO-Begutachtung zu verhandeln und den ANSchG-Entwurf nicht auszusenden.
Rehor Antwort ist deutlich: Es werde zum GewOEntwurf Stellung genommen werden, dass aber der ANSchG-Entwurf nicht ausgesendet werde, steht „im Gegensatz zu dem von mir angestrebten Ziel“
. Der GewO-Entwurf enthalte AN-Schutzbestimmungen, „deren Regelung eindeutig ... in mein Ministerium fällt. Ohne jedoch mit meinem Ministerium darüber zu sprechen, wurden diese Bestimmungen in den Entwurf in einer Fassung aufgenommen, die ... eine Verschiebung in der Zuständigkeit zu Ungunsten meines Ministeriums zu Folge haben würde“
. Rehor weist „besonders darauf hin, dass mein Ministerium peinlich darauf bedacht war, sich an den Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten zu halten, was jedoch hinsichtlich des Entwurfs für eine neue Gewerbeordnung nicht ausgesagt werden kann“
. Es sei bedauerlich, dass „nicht zutreffende Schlussfolgerungen“
aus dem Gespräch mit ihr „ohne vorangegangene Abstimmung weitergegeben wurden“
.*Bocks Antwortschreiben wiederholt die Sicht des BMHGI, verneint eine Kompetenzverschiebung und meint, eine ANSchG-Begutachtung könne den „ungünstigen Eindruck ... einer mangelnden Koordination“
erwecken und der Opposition nützen.
Rehor gibt das ANSchG in Begutachtung (15.6.1967) und kontert an Bock, dass ja gerade sie vor dem ungünstigen Eindruck durch eine unabgesprochene GewO-Begutachtung gewarnt hatte. Aufgeschreckt durch die Begutachtung fordert die BWK von Bock, ein eigenständiges ANSchG zu verhindern. Bock versichert, dass sich der Standpunkt seines Ministeriums inhaltlich mit jenem der BWK deckt. Im BMHGI kommt man überein, „angesichts der vom BMsV ständig geübten Praxis, zu missliebigen Gesetzentwürfen keine Stellungnahme abzugeben“, auf das ANSchG nicht einzugehen.* Demgemäß folgt unter Wiederholung bekannter Argumente eine Komplett-Ablehnung; das BMHGI sei aber bereit, über Abänderungen innerhalb der GewO zu verhandeln. Die ablehnende „Stellungnahme“ der BWK füllt nicht einmal eine Seite.* Eine gänzliche Ablehnung kommt auch von der Industriellenvereinigung.*
Hingegen fordert der AN-Bund der ÖVP ein eigenständiges ANSchG.* Die AK begrüßt den Entwurf, wünscht jedoch eine Reihe von Nachbesserungen.* Das vom Entwurf betroffene Verkehrs-Arbeitsinspektorat ist mit diesem einverstanden.
Ein Spitzentreffen von Rehor und Bock bei Bundeskanzler Klaus bleibt erfolglos, ebenso ein Folgetreffen im März 1968 sowie eine Besprechung des neuen Handelsministers Mitterer mit Rehor.
Mitterer steht unter Zugzwang, zumindest den 1. Teil einer neuen GewO – ein ÖVP-Prestigeprojekt – noch durch den Ministerrat zu bekommen. Dazu gibt er die – widersprüchliche – Weisung, die AN-Schutzbestimmungen aus der RV herauszunehmen und doch die GewO-Novelle 1913 (siehe Pkt 2.) aufrechtzuerhalten.* Die GewO-RV behält implizit die Regelungskompetenz für den Arbeiterschutz, nur ihre auffälligsten Anzeichen werden entfernt.*
Anfang 1970 lädt das BMsV auf Basis eines überarbeiteten ANSchG-Entwurfs zu interministeriellen Besprechungen ein. Die BMHGI-Gewerbesektion informiert nun unerwartet den Minister, dass das BMsV „die Schaffung eines eigenen Gesetzes zu fordern berechtigt ist“
. Dieser entscheidet, an den Verhandlungen teilzunehmen, um BMHGI-Interessen – soweit möglich – durchzusetzen.* Ein Brief der BWK an den Handelsminister, er möge dafür sorgen, dass sein Ministerium die grundlegende Ablehnung „weiterhin aufrecht hält“
, kommt einige Tage zu spät.
In den Besprechungen* wird sichtbar, dass kaum substantielle Einwände gegen den Entwurf bestehen – zwei Ausnahmen siehe gleich unten –, sondern primär nur redaktionelle Änderungen und 610 Mitwirkungskompetenzen gewünscht sind, die oftmals aufgegriffen werden. Hingegen, um ein konträres Beispiel zu nennen, dringt das BMHGI mit der Forderung nicht durch, AG sollten nur dann strafbar sein, wenn sie sicherheitswidriges Verhalten ihrer AN „wissentlich“
dulden.
Keine Rede ist mehr von den ausgetüftelten Argumenten gegen ein eigenes ANSchG (Pkt 5.1.), trotzdem wird die Ablehnung eines ANSchG wiederholt.*
Aus der Fülle der kontroversiell diskutierten Regelungen seien beispielhaft die folgenden herausgegriffen.
Das ANSchG bezieht die der Verkehrs-Arbeitsinspektion unterliegenden Betriebe in seine Geltung ein, ebenso die Krankenanstalten der Gebietskörperschaften. Erziehungs- und Unterrichtsanstalten bleiben hingegen weiterhin ausgeklammert.
Die – nach dem Muster des Mutterschutzgesetzes – gleichfalls vorgesehene Wirksamkeit des ANSchG auch für Bundesbedienstete wird vom BKA-Verfassungsdienst bekämpft: Dieser Geltungsbereich sei zwar rechtlich nicht ausgeschlossen, doch würde durch ihn der Unterschied zwischen öffentlich Bediensteten und privatrechtlich tätigen AN „neuerlich abgeschwächt“
, sodass die Sonderstellung ersterer „in Fortsetzung von allenthalben sich bemerkbar machenden Egalisierungstendenzen verwischt würde“
.*
Als zentrale Neuerung enthält der ANSchG-Entwurf die Bestellung von AN als Sicherheitsvertrauenspersonen in Betrieben mit mehr als 20 AN (in Handel und Büros mit mehr als 50 AN), die Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes in Produktions- und Handelsbetrieben mit mehr als 500 AN,* eines betriebsärztlichen Dienstes bei mehr als 750 AN* sowie eines Sicherheitsausschusses ab vier Sicherheitsvertrauenspersonen.*
Diese Einrichtungen haben den AG fachlich zu beraten und zu unterstützen sowie diesbezüglich den Kontakt zu den AN und zum BR zu pflegen. Dabei folgt man langjährig bestehenden Modellen aus großen österreichischen Unternehmen, Erfahrungen aus Schweden, Frankreich und der BRD* sowie internationalen Empfehlungen.*
Dennoch lehnt die BWK die neuen Einrichtungen als „kostspieligen Sicherheitsapparat“
, als „unzumutbar“
, „wirtschaftsfremd“
und „unnötig“
ab; ob ein AG sich irgendeiner Beratung bediene, sei diesem freiwillig zu überlassen. Nahezu wortgleich lehnt die Industriellenvereinigung diese Regelungen „schärfstens ab“
, da diese den Betrieben „besonders hohe zusätzliche Kosten auferlegen“
.*
Eine ähnliche Haltung nimmt das BMHGI in den Verhandlungen mit dem BMsV ein; pars pro toto: „Dr. Zuser verwies auf die ablehnende Stellungnahme der BWK und erklärte, keine Zugeständnisse machen zu können.“
* Für die Landwirtschaftskammern ist die neue Organisation eine „nicht vertretbare Verwaltungsaufblähung“
.*
Die arbeitsmedizinische (damals: betriebsärztliche) Tätigkeit soll – gemäß Entwurf – präventiv wirksam sein. Sie soll die gesundheitsschonende Gestaltung der Arbeit(splätze) vorantreiben, sodass arbeitsbedingte Gesundheitsschäden erst gar nicht entstehen. Doch schon bald widerspricht die Ärztekammer jener Bestimmung des Erstentwurfs, die jede Heilbehandlung, ausgenommen Erste Hilfe-Leistung, untersagt.* Die Schleusen hin zur Hausarztordination im Betrieb werden in den Verhandlungen über die im NR eingebrachte RV noch weiter geöffnet. Das ANSchG und seine Durchführungsverordnung* bedienen ein fernab der Arbeitsmedizin liegendes Ärzte-Selbstbild der Medikamentenverschreibung und Behandlung auf Krankenschein. Die laut Industriellenvereinigung „unbedingt notwendige kurative Tätigkeit“
boxt diese durch, denn es sei „für die Betriebe wirklich unzumutbar, wenn sie mit beträchtlichem finanziellen Aufwand betriebsärztliche Dienste einrichten müßten und wenn dann trotzdem bei jeder Behandlung ... der Dienstnehmer die Ordination eines freipraktizierenden Arztes aufsuchen müßte und damit jeweils für einige Stunden im Betrieb ausfallen würde“
.* Von ÄrztInnen, die ihre Ressourcen 611 für Krankenbehandlung im Betrieb einsetzen, sind freilich arbeitsplatzbezogene Verbesserungsvorschläge kaum zu erwarten.
Erst spät kritisieren AN-Vertretungen die vorprogrammierte Fehlentwicklung: „Nicht wenige Betriebsärzte verstehen ihre Tätigkeit dahingehend, im Betrieb eine ‚Betriebspraxis‘ als vorwiegend praktischer Arzt zu betreiben.“
* Die im ärztlich-kurativen Selbstverständnis eingebettete Distanz zur aktiven Verhältnisprävention ist bis heute vorhanden.*
Den Anstoß zum ANSchG gibt – wie erwähnt – die Forderung nach Tageslicht am Arbeitsplatz. Der ANSchG-Entwurf fordert daher natürliche Belichtung des Arbeitsplatzes (wann immer der Arbeitsvorgang es zulässt). Die BWK lehnt dieses Erfordernis, „weil mit den Realitäten des Wirtschaftslebens unvereinbar“
, ab; laut der Industriellenvereinigung schädige es „berechtigte wirtschaftliche Interessen“
. Es „muss bestritten werden“, dass Tageslicht zum Gesundheitsschutz der AN erforderlich ist.*
Dieses könne nur empfohlen, aber nicht vorgeschrieben werden. Der Nutzen natürlichen Lichts müsse erst medizinisch nachgewiesen werden. Das BMHGI besorgt sich sogar ein Gutachten, demzufolge angesichts von Pausen, Freizeit, ärztlicher Versorgung und Urlaub die Arbeit in Kunstlicht „nicht nachteilig sein kann“
.*
Am 21.4.1970 wird Staribacher Handelsminister der SPÖ-Minderheitsregierung. Er diktiert ein Tagebuch, das ein für die Zweite Republik wohl herausragendes Zeitdokument darstellt.* Über sein Treffen mit BWK-Präsident Rudolf Sallinger und BWK-Generalsekretär Arthur Mussil hält er fest: „Seinen [Mussils] Wunsch, ... die Arbeitsinspektion in das [Handels-]Ministerium herüberzuziehen, habe ich ganz entschieden abgelehnt, und einen Hinweis, dass ich in der Gewerbeordnung die Dienstnehmerschutzbestimmungen ausklammern werde, hat er mit saurem Gesicht nicht einmal zur Kenntnis genommen, sondern erklärt, dies sei ein ganz schwerer Fehler und er sei sehr dagegen.“
* Diplomatischer formuliert Staribacher gegenüber seinen Beamten, die jahrelang das ANSchG nach Kräften abzulehnen hatten: Gegen ein eigenes ANSchG sind „keine grundsätzlichen Bedenken zu erheben, Doppelgleisigkeiten aber abzulehnen“
.*
In einem persönlichen Brief an Staribacher bezeichnet Mussil das ANSchG als „im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht notwendig“
, das geplante Gesetz gehe „über das geltende Recht weit hinaus“, wäre eine „unzumutbare Verschärfung der Rechtslage“
, verbunden mit einer „finanziellen Mehrbelastung für die gewerbliche Wirtschaft“.
* Wenige Wochen vor der Einbringung des ANSchG im Ministerrat wundert sich Staribacher: „Mussil verlangte allen Ernstes, dass der Dienstnehmerschutz beim Handelsministerium verbleiben sollte. ... Da er im Grunde genommen auch gegen den speziellen Entwurf keine grundsätzlichen Einwände vorbringen kann, verlegte er sich auf die gute alte Taktik und erklärte, die Bundeshandelskammer müsste jetzt durch Vollversammlung, durch entsprechende Demonstrationen den Handelsminister auf einen richtigen Weg bringen.“
*
Mussil eröffnet Staribacher unter vier Augen das Bestreben der BWK, dass der AN-Schutz „immer in der Gewerbeordnung geregelt wird und damit dem Handelsminister untersteht“
.* Unter Hinweis darauf, dass bisher das Handelsministerium vor einer Positionierung „immer“ die BWK kontaktiert habe, beschwert sich lMussi bei Staribacher: „dass wir [das Handelsministerium] den Dienstnehmerschutz aus der Gewerbeordnung herausgenommen haben, würde er mir nie verzeihen“
.* Diese Unverzeihlichkeit ist wohl in der Schmälerung des Einflusses der BWK auf die Konzipierung der 612 AN-Schutzbestimmungen begründet, die fortan* nicht mehr bequem im Handelsministerium liegen sollte.
Als der BWK klar wird, dass sie das ANSchG nicht verhindern kann, sucht sie Verhandlungen* mit dem ÖGB, um weitere Deregulierungen in ihrem Sinn zu erreichen. So kommt es bspw, dass Sicherheitsvertrauenspersonen erst ab 51 AN (Bürobetriebe: ab 101 AN) zu bestellen sind.* Die Kosten der meisten ärztlichen Untersuchungen, die für bestimmte AN vorgesehen und die gem § 74 GewO vom AG zu tragen sind, werden der gesetzlichen UV aufgebürdet.* Die Kriterien, nach denen ausgebildete ErsthelferInnen vorhanden sein müssen, werden geschwächt. Schon vorher wird der angedrohte Strafrahmen halbiert und im NR-Ausschuss zT weiter gesenkt. An die Stelle mancher Festlegungen im Gesetz tritt eine Regelung durch Verordnung; das spätere Nichtentstehen dieser Verordnungen macht die in der RV geplanten, für AN günstigeren Regelungen zunichte.
Nicht alle Forderungen der BWK werden erfüllt, jedoch einige des ÖGB.* Missbilligend charakterisiert die BWK das ANSchG als eine Reihe von „für die Wirtschaft sehr schwerwiegende[n] Bestimmungen“
.*
Das Interesse der SPÖ am AN-Schutz ist zu gering, als dass sie ihre absolute Parlamentsmehrheit nützt, um Verwässerungen des ANSchG abzuwehren. Am 30.5.1972 wird das ANSchG im NR einstimmig* beschlossen.
Ministerin Rehor und anderen beharrlichen Schöpfern des ANSchG kommt das Verdienst zu, das ArbeitnehmerInnenschutzrecht aus der Federführung des Handelsministeriums und aus der unmittelbaren Einflusssphäre der BWK in das kompetenzmäßig zuständige Arbeitsressort geholt zu haben. Aus antiquierten vier Paragraphen der GewO wird ein eigenständiges abgerundetes Regelwerk, das eine solide Basis für die Erlassung von Durchführungsverordnungen schafft und das Tor für die Ausdehnung auf weitere AN-Gruppen* öffnet. Der Grundstein für die spätere Entwicklung ist gelegt. 613