Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht – WiR (Hrsg)Wirtschaftliche Betrachtungsweise im Recht

Linde Verlag, Wien 2020, XV, 202 Seiten, broschiert, € 62,–

LINDAKREIL (WIEN/WIENER NEUSTADT)

In diesem Sammelwerk, dem ein gleichnamiges, 2019 in Salzburg abgehaltenes Symposium zugrunde liegt, spannen namhafte Autor:innen einen weiten Bogen beginnend bei der ökonomischen Analyse des Rechts (van Aaken) über die wirtschaftliche(n) Betrachtungsweise(n) im Lichte der juristischen Methodik (Potacs) und die einzelnen Rechtsgebiete Steuerrecht (Lang), Sozialversicherungsrecht (Müller), Wettbewerbsrecht (Jaeger), Privatrecht (Lurger), Gesellschaftsund Übernahmerecht (Kalss) sowie Kapitalmarktrecht (Leyens) bis hin zum Strafrecht (Lewisch) und Verfassungsrecht (Holoubek).

Dabei wird deutlich: Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ schlechthin gibt es nicht; entsprechend schwierig ist es, hier den Überblick zu behalten. Aber gerade die Zusammenführung so unterschiedlicher Gebiete und Sichtweisen und die zum Teil erst auf den zweiten Blick sichtbaren Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen machen den Band mE so interessant.

Daher sollen im Folgenden nach (1.) einer kurzen Querschau mit dem Versuch, den reichhaltigen Inhalt etwas zu strukturieren, (2.) die – an verschiedenen Stellen im Werk zu findenden – Ausführungen zur ökonomischen Analyse des Rechts sowie (3.) zu § 539a ASVG und dem eng verwandten § 21 BAO einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden.

1.Lurger schlägt anhand des Zivilrechts eine mE hilfreiche Unterscheidung zwischen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Rechts iS einer „Außensicht“ durch die Brille der Ökonomik einerseits (also insb die ÖAR, siehe sogleich) und der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Recht andererseits vor (96 f).

Der juristische Blick (also die „Innensicht“ auf die Rechtsordnung) offenbart diverse wirtschaftliche Maßstäbe, etwa wenn Normen auf die Inkongruenz von Leistungen oder eine wirtschaftliche Zumutbarkeit abstellen (Lurger 96 ff mit Beispielen) oder sich dem Spannungsverhältnis zwischen formaler Gestaltung und wirtschaftlichem Gehalt widmen. Dazu finden sich – abgesehen von § 21 BAO, § 539a ASVG – zahlreiche Beispiele im Zivilrecht (Lurger, aaO) und Unternehmensrecht (Kalss 119 ff). Aber auch das Verfassungsrecht (Holoubek, insb 195 f) und das Strafrecht (Lewisch 163 ff) halten manch überraschendes Fundstück bereit. Wiederum andere Regelungen bzw ganze Rechtsgebiete verweisen auf eine wirtschaftliche Zielsetzung (vgl Jaeger zum Wettbewerbsrecht; Leyens zum Kapitalmarktrecht; vereinzelt im Verfassungsrecht, siehe Holoubek 190-194).

2. Der Ökonomischen Analyse des Rechts (ÖAR bzw weiter gefasst: „Law and Economics“) widmen sich vor allem van Aaken (7 ff) und Lurger (106 ff).

Beschrieben werden dabei auch Entwicklungen wie „Behavioral Law and Economics“ (BLE), das „Rational Choice-Verhaltensmodell“ und die in letzter Zeit bedeutsamere experimentelle Ökonomie.

Zur von Jurist:innen mitunter skeptisch bis ablehnend beurteilten Frage nach der Relevanz der ÖAR für juristische Fragestellungen führt van Aaken (ähnlich Holoubek 188) aus: Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Forschung können sowohl die Frage nach (ökonomischen) Ursachen unserer Rechtsnormen („Recht als explanandum“: Warum haben wir die Normen, die wir haben?) als auch ihre wirtschaftlichen Auswirkungen („Recht als explanans“) sein – Letzteres etwa, indem die „Effizienz“ rechtlicher Regeln oder die Auswirkungen der Rechtsordnung auf Entscheidungen von Akteur:innen (zB Konsument:innen) untersucht werden. Dazu passend erörtert Lurger (113 ff) mit der Forschungsrichtung „Contract Decisions of Consumers between Law and Psychology“ (CLP) ein relativ neues und interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsfeld. Überdies könnten nach van Aaken (14 ff, 22) die analytischen und empirischen Methoden, die die ÖAR bietet, zu einem Erkenntnisgewinn iS einer stärker evidenzbasierten Rsp führen.

Die möglichen Folgen wirtschaftswissenschaftlicher Theorien und Denkschulen für die Interpretation rechtlicher Normen zeigt Jaeger (69 ff) für das Wettbewerbsrecht auf. Hier ist die Rechtsanwendung mit der Frage nach der Zielsetzung des Wettbewerbsrechts und damit der zugrunde gelegten Wettbewerbstheorie eng verknüpft: Ist die allgemeine Wohlfahrt, Konsument:innenwohlfahrt oder Umverteilung Ziel oder die Effizienz des Marktes, also Leistungswettbewerb und offener Marktzugang – dies allenfalls in der liberalistischen Erwartung, der Rest würde sich dadurch ohnehin einstellen?

Wie problematisch sich die letztere Grundhaltung („Ökonomisierung der Betrachtungsweise“) auch auf die Rsp auswirken kann, führt Jaeger anhand einer E des OLG Düsseldorf (vom 26.9.2019) vor, das die Datensammlung von Facebook aus kartellrechtlicher Sicht billigte. Datenschutz, Grundrechte und Verbraucherschutz würden damit als für das Kartellrecht irrelevante Ziele abgetan, es sei denn, deren Beeinträchtigung ginge auf eine marktbeherrschende Stellung zurück, die das OLG allerdings verneint (!) hatte (so kritisch Jaeger 87 ff). Mittlerweile hat der deutsche BGH diese E revidiert (BGH 23.6.2020, KVR 69/19). Starke Bezüge zur ÖAR weist auch das Kapitalmarktrecht auf (vgl Leyens 147 ff: Kapitalmarkteffizienz als Zielvorgabe, aber auch Verhaltensweisen, die nicht zu den theoretischen Annahmen der ÖAR passen).

Somit ergeben sich bei aufmerksamer Lektüre mE einige wichtige Grenzen und Kritikpunkte an der ÖAR:

  • Die Methodik der ÖAR sollte sich nicht auf theoriebasierte Modelle (zB eines stets rational handelnden „homo oeconomicus“ oder eines „idealen Marktes“) und Modellrechnungen beschränken, sondern trachten, mittels empirischer Forschung realitätsbezogene Erkenntnisse zu erlangen (vgl van Aaken 14 ff; Lurger 108; Jaeger 90). 614

  • Der ÖAR kommt kein Primat unter den Sozialwissenschaften zu. Sie soll als eine unter vielen Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher, interdisziplinärer und empirischer Betrachtung auf die Rechtsordnung gesehen werden (vgl van Aaken 22; Lurger 106 f).

  • In der ÖAR dominiert häufig das Ziel der ökonomischen Effizienz und der Effizienzsteigerung. Wirtschaftliche Effizienz, etwa durch freie Märkte, ist aber kein Selbstzweck; es kann und muss die Möglichkeit offen bleiben, dahinterstehende und weitergehende Ziele wie (allgemeine) Wohlfahrt, Konsument:innenwohlfahrt, Lebensqualität oder Umweltschutz zu definieren und wirtschaftliches Handeln an ihnen zu messen (vgl van Aaken 4 ff; Lurger 102 ff; Jaeger 83).

Insb ist eine Verengung des Blickes auf bloße (Markt-)Effizienz abzulehnen. Wirtschaftliches Handeln und seine Ergebnisse können und müssen anhand ethischer Maßstäbe gemessen werden. Diese sind mit marktwirtschaftlichem Verhalten kompatibel und können in handhabbarer Weise formuliert werden (dazu lesenswert Fenner, Einführung in die Angewandte Ethik [2010] 332 ff). Dem entsprechend können und dürfen weder empirische Messungen des „Erfolgs“ einer Rechtsregel auf rein wirtschaftliche Gesichtspunkte noch rechtliche Zielsetzungen und Erwägungen auf ein ökonomisches Effizienzziel beschränkt bleiben (insofern ist mancher Vorbehalt der traditionellen Methodenlehre berechtigt; vgl aber Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? [2004] 194 ff, mit mE plausiblen Antworten).

Auf der anderen Seite sollten die befruchtenden Impulse der ÖAR nicht übersehen werden. Hier sei iZm der von van Aaken (22) erwähnten „evidenzbasierten Rechtsprechung“ an ein Positivbeispiel im GlBG erinnert: Bei der Beurteilung einer mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung ist (auch) die stärkere Betroffenheit eines Geschlechts und somit ein quantifizierbarer, empirisch messbarer Effekt zu beachten (vgl Hopf/Mayr/Eichinger/Erler, GlBG2 [2021] § 5 Rz 102-104). Zuweilen wird auch die Frage nach den wirtschaftlichen (und sozialen) Auswirkungen einer Differenzierung erhellend sein.

Dazu bedarf es freilich keiner eigenen Theorie, sondern lediglich einer korrekten statistischen Datenerhebung. Aber mE wird dieser gedankliche Zugang über eine ökonomische Analyse als „außerjuristischem“ Ansatz oft überhaupt erst eröffnet, während das traditionelle juristische Instrumentarium und der Rückgriff auf – nicht selten einem eigenen Vorverständnis verhaftete – Gerechtigkeitserwägungen in veritable Sackgassen führen können (ganz iSd Rechts als eines autopoietischen, also selbstreferenziellen Systems; zu diesem zB Pacic, Methoden der Rechtsfindung im Arbeitsrecht [2012] 25; ausführlich Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie [2009] 169 ff).

(Markt-)Effizienz abzulehnen. Wirtschaftliches Handeln und seine Ergebnisse können und müssen anhand ethischer Maßstäbe gemessen werden. Diese sind mit marktwirtschaftlichem Verhalten kompatibel und können in handhabbarer Weise formuliert werden (dazu lesenswert Fenner, Einführung in die Angewandte Ethik [2010] 332 ff). Dem entsprechend können und dürfen weder empirische Messungen des „Erfolgs“ einer Rechtsregel auf rein wirtschaftliche Gesichtspunkte noch rechtliche Zielsetzungen und Erwägungen auf ein ökonomisches Effizienzziel beschränkt bleiben (insofern ist mancher Vorbehalt der traditionellen Methodenlehre berechtigt; vgl aber Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? [2004] 194 ff, mit mE plausiblen Antworten).

Auf der anderen Seite sollten die befruchtenden Impulse der ÖAR nicht übersehen werden. Hier sei iZm der von van Aaken (22) erwähnten „evidenzbasierten Rechtsprechung“ an ein Positivbeispiel im GlBG erinnert: Bei der Beurteilung einer mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung ist (auch) die stärkere Betroffenheit eines Geschlechts und somit ein quantifizierbarer, empirisch messbarer Effekt zu beachten (vgl Hopf/Mayr/Eichinger/Erler, GlBG2 [2021] § 5 Rz 102-104). Zuweilen wird auch die Frage nach den wirtschaftlichen (und sozialen) Auswirkungen einer Differenzierung erhellend sein.

Dazu bedarf es freilich keiner eigenen Theorie, sondern lediglich einer korrekten statistischen Datenerhebung. Aber mE wird dieser gedankliche Zugang über eine ökonomische Analyse als „außerjuristischem“ Ansatz oft überhaupt erst eröffnet, während das traditionelle juristische Instrumentarium und der Rückgriff auf – nicht selten einem eigenen Vorverständnis verhaftete – Gerechtigkeitserwägungen in veritable Sackgassen führen können (ganz iSd Rechts als eines autopoietischen, also selbstreferenziellen Systems; zu diesem zB Pacic, Methoden der Rechtsfindung im Arbeitsrecht [2012] 25; ausführlich Mastronardi, Angewandte Rechtstheorie [2009] 169 ff).

Anders gesagt: Manche „Fragestellungen, Einsichten und Problemlösungen“ werden selbst bei sorgfältiger Anwendung der konventionellen juristischen Analysemethoden ausgeblendet (Weigel, Die Ökonomische Analyse des Rechts auf dem Prüfstand, in: Wirtschaft und Gesellschaft [1992] 214, 225). Negativbeispiele aus der frühen VfGH-Judikatur, die die Benachteiligung von Frauen im Lichte fehlgeleiteter Gleichheitserwägungen noch weiter verfestigten, belegen dies eindrucksvoll (dargestellt bei Sporrer, Gleichheitssatz und Emanzipation, in Aichhorn [Hrsg], Frauen & Recht [1997] 1 ff).

3. Die hier schließlich interessierenden generalklauselartigen Bestimmungen in § 21 BAO sowie § 539a ASVG zählen zu jenen Normen, die das Spannungsverhältnis zwischen formaler Gestaltung und wirtschaftlichem Gehalt zugunsten einer „wirtschaftlichen“ Beurteilung eines Sachverhalts (also etwa eines Werkvertrages, hinter dem sich ein Arbeitsverhältnis verbergen könnte) regeln. Die diesbezüglichen Beiträge von Potacs, Lang und Müller sind zu Recht hintereinander gereiht; sie gehören thematisch zusammen und empfehlen sich zur gemeinsamen Lektüre. Nicht nur, aber auch die historischen Ausführungen und Beispiele machen sie sehr lesenswert.

In allen dreien wird ua thematisiert, ob die ausdrückliche Anordnung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise legistisch sinnvoll ist. Lang (46 f, 52) wendet sich dagegen: Als Variante der teleologischen Interpretation sei sie bei der Gesetzesauslegung ohnehin zu berücksichtigen. Sie sei „nicht bloß überflüssig, sondern auch schädlich“, weil sie zu verkürzten Entscheidungsbegründungen einlade.

Potacs (31 f) hält dagegen: Dem Gesetzgeber sollten keine überflüssigen Anordnungen unterstellt werden; vielmehr lege die ausdrückliche Hervorhebung nahe, dass der Gesetzgeber gerade dieser Auslegungsregel einen besonderen Stellenwert beimessen wolle. „Bei Materien mit Eingriffsnormen wie dem Steuer-, Abgaben-, Ausländerbeschäftigungs- und Wettbewerbsrecht“ sei dies sinnvoll, weil dort an sich der Interpretation nach dem Wortsinn besonderes Gewicht zukomme. Müller (54) sieht in derlei Bestimmungen einen gesetzgeberischen „Abwehrkampf“ gegen Gesetzesumgehung.

Obwohl beide Meinungen viel für sich haben, tendiere ich zur letzteren. Zwar dürften Bestimmungen wie § 539a ASVG nicht zwingend notwendig sein, zeigt doch deren Historie, dass die Rsp ohne weiteres bereit ist, sich über ihr Fehlen hinwegzusetzen (vgl Müller 54 ff). Aber es sollte nicht unterschätzt werden, dass anhand einer derartigen Formulierung rechtsunkundigen, gleichwohl phantasievollen Rechtsunterworfenen in Lehre und Praxis viel leichter begreiflich zu machen ist, warum ihre ausgeklügelten (zB Vertrags-)Konstruktionen nicht immer den erwarteten richterlichen bzw behördlichen Zuspruch finden.

Müllers – wohl noch vor der Corona-Pandemie – bildhaft formuliertes Verständnis derartiger Normen als „eine Art Antikörper, die anzeigen, dass in diesem Rechtsgebiet die Krankheit der Gesetzesumgehung bereits gewütet hat“ (54), trifft es auf den Punkt. Der deutsche Gesetzgeber hat offensichtlich ebenfalls Klarstellungsbedarf gesehen, findet sich doch seit 2017 in § 611a Abs 1 BGB zum Arbeitsrecht (!) die explizite Anordnung: „Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.“

Das Werk verlangt in seiner Vielfalt auch juristisch gebildeten Leser:innen einiges ab. Wer aber über den Tellerrand des eigenen Faches blicken will und sich der Herausforderung stellt, wird mit einer anregenden und bereichernden Lektüre belohnt. 615