Reissner/Mair (Hrsg)Antidiskriminierungsrecht – Aktuelle Entwicklungen
Linde Verlag, Wien 2022, 190 Seiten, kartoniert, € 38,–
Reissner/Mair (Hrsg)Antidiskriminierungsrecht – Aktuelle Entwicklungen
„Bregenzerwald: Kein Platz für junge Mutter an der Gemeindespitze“ – so titelte Der Standard vor sechs Jahren (https://www.derstandard.at/story/2000032508011/bregenzerwald-kein-platz-fuer-junge-mutter-an-der-gemeindespitzehttps://www.derstandard.at/story/2000032508011/bregenzerwald-kein-platz-fuer-junge-mutter-an-der-gemeindespitze). Und jemand hat das Beispiel gedanklich weitergesponnen: Kann derjenige, der aus traditionell weltanschaulichen (Konservativismus?) und möglicherweise auch religiös bestimmten (Katholizismus?) Motiven diese Diskriminierung der Frau verlangt hat, im Falle einer Diskriminierung (zB Nichtbeförderung), die ihm selbst aufgrund genau dieses Verhaltens widerfährt, wegen religiös/weltanschaulicher Diskriminierung den § 17 iVm § 26 GlBG strapazieren? Wo sonst sollte man nach Antworten auf derart komplexe Fragen suchen, wenn nicht in einem Sammelband wie diesem, der umfassend die aktuellen Entwicklungen des Antidiskriminierungsrechts zum Gegenstand hat?
Allgemein sind zunächst die grundlegenden Ausführungen von Windisch-Graetz über Zielsetzungen, Begriffe und Konzepte der Gleichbehandlung (S 1 ff) wichtig, und weil – „historia magistra“ – oft der Blick auf die Genese von Rechtsinstituten hilfreich ist, soll besonders auf die Darstellung der Anfänge (S 4 f) hingewiesen und resümiert werden: Antidiskriminierungsrecht resultiert ursprünglich aus der wettbewerbspolitischen Notwendigkeit der Gleichbehandlung der Geschlechter!
Andreas Mair beschränkt sich in seinem Beitrag nicht auf das Sanktionensystem; er beschreibt eingangs auch unter Berufung auf Angela Merkel die geschützten Merkmale als „identitätsprägende Merkmale“
, die (gleichermaßen) zum „Identitätskern des westlichen Gesellschaftsmodells“
gehörten (S 24).
Mit meinem Einstiegsbeispiel im Kopf wächst nach diesen Ausführungen die Neugier: Trifft es tatsächlich zu, dass jeder Mensch alldiese „identitätsprägenden Merkmale“
aufweist? Faktum ist: Jeder Mensch weist einige (Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung) der sieben geschützten Merkmale auf! Aus dem Beitrag von Th. Dullinger (S 85 ff) erfahren wir, dass es einzelne Menschen mit mehreren Ethnien gibt, aber auch, dass sich Ethnie im Laufe des Lebens ändern kann. Warum? Weil Ethnie nicht nur eine Frage der Abstammung, sondern vor allem der kulturellen Verhältnisse ist (S 100 f). Ein solcher Wechsel geschieht – er ist nicht gewillkürt. Es sei der Zeitpunkt des Vollzuges des Wechsels nicht feststellbar aber auch irrelevant, weil schon die Vermutung über eine Ethnie als Basis für eine Benachteiligung den Tatbestand erfülle (S 99, 101). Die Interpretationsgeschichte zu § 17 Abs 1 GlBG („ethnische Zugehörigkeit“) im Vergleich zu Art 2 Abs 1 RL 2000/43/EG („Rasse und ethnische Herkunft“) widerlegt den sich bei rein grammatikalischer Lesart aufdrängenden Unterschied: Obwohl „Herkunft“ (worunter man wohl nach Wortlaut am ehesten „Abstammung“ verstehen könnte) und „Zugehörigkeit“ (welche wohl in erster Linie das Ergebnis der Sozialisierung beschreibt) sehr unterschiedliche Termini sind, will die ua auch hier von Dullinger dokumentierte Normengeschichte die Begriffe synonym verstanden wissen (S 89 f; noch deutlicher zur Teilgruppendiskriminierung S 103). Vieles spricht dafür, dass die in der Literatur vorsichtig angedeutete Definition über „Fremdwahrnehmung“ (vgl zB Windisch-Graetz in Rebhahn, GlBG § 17 Rz 8; aber insb hier Dullinger S 91) ua genau diese Interpretationsprobleme lösen könnte, und es steht daher zu hoffen, es möge auch die Rsp künftig tendenziell diesem Ansatz folgen.
Diese Ausführungen machen neugierig auf mehr: Ethnie ist – trotz Veränderbarkeit – der Person inhärent. Wie aber wäre dies mit dem Geschlecht? Zu diesem und zur sexuellen Orientierung äußert sich ausführlich Vinzenz (S 123 ff). Mit beeindruckender Präzision beschreibt sie die Entwicklung des geschützten Merkmals „Geschlecht“ während der vergangenen zwanzig Jahre, uzw vom Entgeltgleichheitspostulat aufgrund der ursprünglich als unabänderbar betrachteten binären 625Geschlechterteilung in männlich und weiblich (S 127 f) bis zur Ergänzung des Kriteriums „sex“ durch das Kriterium „gender“ (S 128 ff). Unter dem Begriff „sex“ (nicht „gender“) werden auch gewisse Aspekte der Wahrnehmung der Geschlechterrollen dargestellt. „Sex-plus- Ground“-Diskriminierungen liegen vor, wenn innerhalb eines „Geschlechts“ eine Diskriminierung einer Gruppe aufgrund einer sozialen Aufgabenauffassung vorliegen könne. Als Beispiel hierfür wird die Diskriminierung von (verheirateten) Frauen mit Kindern gegenüber Frauen ohne Kinder genannt (S 129). Ob das Beispiel auch umgekehrt funktioniert (Diskriminierung von Menschen aufgrund [gewollter] Kinderlosigkeit), bleibt offen. Tatsächlich sind aber auch solche Diskriminierungen (insb mit religiöser oder weltanschaulicher Motivation) aus der Praxis bekannt und würden wohl eher unter den Begriff „gender“-Diskriminierungen zu subsumieren sein. Vinzenz beschreibt ausführlich die sukzessive Erweiterung des Merkmals vom binären biologischen Geschlecht bis zur Einbeziehung von Inter sexualität, Transsexualität sowie Transvestitismus. Dass der fetischis tische Trans vestitismus nicht zum geschützten Merkmal „Geschlecht“, sondern „sexuelle Orientierung“ gehört, erfährt man ua ab S 137. In der Folge wird anhand des Beispiels Pädophilie nachgewiesen, dass auch als pathologisch eingestufte sexuelle Präferenzen grundsätzlich nicht zum Anlass für Diskriminierungen gemacht werden dürfen. Allerdings wird in diesem Kontext erörtert, inwieweit der Schutz anderer Menschen (hier: Kinder) verhindern sollte, dass jemand aufgrund seiner inhärenten (pathologischen oder nicht-pathologischen) Neigung vor Diskriminierungen geschützt werden sollte. Spannend erscheint hier vor allem, dass Vinzenz in diesem Zusammenhang den Vergleich mit der „Gesichtsschleier- Entscheidung“ des OGH heranzieht, um die Frage einer möglichen Ausnahme gem § 20 Abs 1 GlBG zu lösen. Die Autorin lässt die Abwägung vorsichtig „zugunsten“ der Pädophilie ausgehen (S 145), uzw mit der Begründung, dass ein de facto partielles Berufsverbot möglicherweise nicht das gelindeste Mittel sei und es daher uU an der Angemessenheit der Maßnahme fehle.
Was an dieser Stelle nicht angesprochen wird, ist folgender maßgeblicher Unterschied: Während Menschen mit einer als pathologisch eingestuften sexuellen Präferenz – so wie Menschen mit irgendeiner sexuellen Präferenz überhaupt – keine Wahl haben, so oder anders zu sein, unterliegt eine Religion, eine Weltanschauung, die Wahl einer solchen und die Frage, ob und in welcher Weise der Glaube bzw die Anschauung ausgelebt wird, grundsätzlich der freien Willensentscheidung. So gesehen wäre aber der ganz iSd praktisch fast einhelligen Meinung immer wiedergegebene Einleitungssatz von Vinzenz (S 124), wonach es aufgezählte sieben „dem Menschen inhärente Merkmale“ gäbe, schon im Ansatz zu hinterfragen. Dem Menschen inhärente Merkmale sind nämlich unstrittig Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, ethnische Herkunft und eine allfällige Behinderung. In letzterem Zusammenhang sei allerdings insb auf die Ausführungen von Klaus Mayr (S 162 ff) und die Darstellung der Rsp zur Abgrenzung des Behindertenbegriffs (ua am Beispiel der Adipositas) zu verweisen.
Demgegenüber sind Religionen und Weltanschauungen Präferenzen, die das Leben prägen, bereichern (oder auch belasten), aber jedenfalls spätestens ab dem 14. Lebensjahr (hinsichtlich der Religion zB § 5 BG über die religiöse Kindererziehung 1985, BGBl 1985/155) frei gewählt und auch später immer wieder gewechselt (!) werden können. Wenn in diesem Buch – wie dargestellt – anhand eines inhärenten Merkmals (zB Pädophilie) geprüft wurde, ob dieses „böse“ (weil anderen Menschen möglicherweise gefährliche) Merkmal eine Ausnahme vom Diskriminierungsschutz begründen könnte, war höchst interessant bei Gert-Peter Reissner nachzulesen, wie sich selbiges mit „nicht-inhärenten“ (weil gewählten) Merkmalen verhält. Oder anders ausgedrückt: Gibt es „böse“ Religionen oder Weltanschauungen, die deshalb vom Antidiskriminierungsrecht ausgenommen sind, weil durch ihre Ausübung andere Menschen in ihrem Leben, ihrer Integrität, aber in diesem Kontext insb auch ihrem Interesse an dem Schutz ihrer eigenen geschützten Merkmale beeinträchtigt werden (vgl idS bereits ausführlich Rebhahn zu OGH 9 ObA 117/15v DRdA 2017/7, 55 ff)? Reissner äußert sich zu „bösen“ Weltanschauungen eindeutig – wenn auch nicht befriedigend –, was die eingangs angedeutete Problematik anbelangt: Der Begriff „Weltanschauung“ sei sE „insgesamt weit zu verstehen“ (S 62). Lediglich verbotene Weltanschauungen seien nicht vom Schutz erfasst (S 53, 62). Als Beispiele hierfür nennt er – wie in der einschlägigen Literatur üblich – Neonazis und Staatsverweigerer „udgl“ (S 62). Ungeklärt bleibt die Frage, wie es sich mit dem Schutz frei gewählter Weltanschauungen verhält, die zwar nicht verboten sind, denen jedoch die Diskriminierung anderer Menschen aufgrund inhärenter Merkmale geradezu immanent ist. Wäre also zB ein Rechtskonservativer (S 61) schutzwürdig, wenn er sich als Zwischenvorgesetzter oder als Wahlwerber für die Betriebsratswahl quasi zum „Schutz von Familien“ aktiv gegen den beruflichen Aufstieg von Müttern einsetzt? Wäre er schutzwürdig, wenn er selbst die Beförderung eines Homosexuellen verhindert? Conclusio: Das fiktive Einstiegsbeispiel kann mit dem derzeitigen Stand des Antidiskriminierungsrechts nicht gelöst werden!
Europaweit oder gar weltweit in den letzten Jahren neu entstandene Wortpaare von Schimpfwörtern für Gesinnungsgemeinschaften (zB „Klimakrisenleugner/ Ökofaschisten“, „Impfverweigerer/Impffanatiker“, „Kriegstreiber/Putinversteher“), die sich selbst (natürlich unter anderen Bezeichnungen) als Repräsentanten eines Weltbildes sehen, zeigen, dass die Interpretation der „Diskriminierung wegen der Weltanschauung“ insgesamt neuer Denkansätze bedarf. Dass die der Demokratie immanente bunte Vielfalt der Meinungen ein hohes Gut darstellt, sollte nämlich unbestritten sein; ob aber nicht grundsätzlich die Freiheit der einen zu enden hätte, wo – frei nach Rosa Luxemburg – die Freiheit der Andersdenkenden beginnt, wäre nach mehr als einem Jahrhundert wieder einmal neu zu denken. Eine vorsichtige Gewichtung von (5) inhärenten und (2) gewählten Merkmalen bei gleichzeitigem grundsätzlichem Diskriminierungsschutz hinsichtlich aller 7 Merkmale samt ständiger Betonung des hohen Wertes der Meinungsfreiheit an sich wäre die wirklich erstrebenswerte Quadratur des Kreises.
Das vorliegende Buch soll und kann auch einen Anstoß geben, diese so gewichtigen Fragen unserer Zeit weiter zu diskutieren! 626