MathyMinderheitsrechte im Betriebsrat

Manz Verlag, Wien 2022, XLII, 466 Seiten, broschiert, € 109,–

HANNESSCHNELLER (WIEN)

Der Gesetzgeber hat zwar die innere Organisation – die „Binnenverfassung“ – und die Außenvertretung der belegschaftsvertretenden Kollegialorgane in Grundzügen geregelt, jedoch auf das schon im Gesetzgebungsstadium mit Sicherheit bewusste Problem interner Auffassungsunterschiede und fraktioneller Konflikte nur punktuell und zumeist bloß indirekt (Wahlanfechtungsrecht; außerordentliches Einberufungsrecht) Bezug genommen („restriktive Haltung des Gesetzgebers“, siehe S 1). In diese Lücke – die mE wohl kaum als planwidrig bezeichnet werden kann (zT wird das im vorliegenden Werk anders gesehen, vgl S 339 ff; siehe unten) – stößt nun Thomas Mathy nach umfassender rechtsdogmatischer Erörterung und Forschung mit der vorliegenden, herausragenden Monografie vor.

Der Autor der vorliegenden Dissertation (approbiert 2021) in Monografieform war als Universitätsassistent am Institut für Arbeitsrecht und Sozialrecht der Johannes Kepler Universität Linz beschäftigt, einer Wissenschaftseinrichtung also, die seit mehr als fünf Jahrzehnten als Forschungs- und Entwicklungslabor des österreichischen Betriebsverfassungsrechts bezeichnet werden kann, ausgewiesen durch Persönlichkeiten wie Strasser, Spielbüchler, Jabornegg und in jüngerer Zeit etwa Trost, Naderhirn, Resch oder Felten. Der zuletzt genannte, Univ.-Prof. Mag. Dr. Elias Felten, war es auch, der dem Autor den Anstoß zur Bearbeitung des Themas gab; Ass.-Prof. Dr. Barbara Trost und Assoz. Prof. Dr. Barbara Födermayr förderten die nun in Buchform vorliegende Dissertation von Beginn an (siehe Vorwort S III).

Den Boden der Untersuchung bereitet die Feststellung auf, dass im Dreisäulenmodell der österreichischen AN-Interessenvertretung (Gewerkschaft-Arbeiterkammer- BR) die Interessenvertretung auf betrieblicher Ebene durch demokratische Organwahlen gekennzeichnet ist und sich die Willensbildung innerhalb der Belegschaftsvertretungsorgane ebenfalls auf demokratische Weise vollzieht. Kelsen zitierend steckt Mathy den Problemkreis ab: Minderheitsrechte besitzen nicht nur das Potential, die Willensbildung innerhalb eines Organs fruchtbringend anzuregen und die demokratische Legitimation von Entscheidungen zu erhöhen; es wohnt ihnen ebenso die Gefahr inne, die Tätigkeit eines Organs durch Obstruktion zu lähmen, weshalb eine unbesehene Einräumung von Minderheitsrechten das Risiko birgt, die Funktion des BR zu untergraben.

Gleich darauf werden Gegenstand und Verlauf der Untersuchung mit einer „Vergewisserung“ über die Zwecksetzung(en) des Betriebsverfassungsrechts und die Bedeutung des diesem immanenten Demokratieprinzips (S 25-44) eingeleitet und die Struktur der Herleitung und Beforschung möglicher Minderheitsansprüche vorgegeben:

1. offenbare sich aus den immanenten Wertentscheidungen des ArbVG ein zwar nicht zur Gänze positiviertes, aber dann doch als fein ausdifferenziert feststellbares System, das sowohl hinsichtlich Geschäftsführung der Organe als auch hinsichtlich Ressourcen-Zugang für die Betriebsratsarbeit die Belange der Mehrheit mit jenen der Minderheit ausbalanciere;

2. gälte es zu prüfen, ob die vom ArbVG gefundene Balance zwischen Mehrheit und Minderheit mit den Vorgaben des Antidiskriminierungsrechts (bezüglich Weltanschauung) und

3. den Gewährleistungen der Koalitionsfreiheit vereinbar sei.

Die vier Teile des Buchs erörtern in erstaunlicher Tiefe auf jeweils mehr als 100 Seiten (!) somit „die Interessenlage im Betrieb“ samt Normzwecken und Prinzipien des Betriebsverfassungsrechts, die im ArbVG geregelten oder systemimmanenten Minderheitsansprüche bei Geschäftsführung und Ressourcenzugriff, die denkbare Weltanschauungsdiskriminierung nach der Gleichbehandlungs-Rahmen-RL und dem GlBG sowie die mögliche Verletzung der Koalitionsfreiheit (vor allem Art 11 EMRK, Art 28 GRC, Art 5 ILO-Übereinkommen Nr 135). Ein rechtsdogmatisch präzise ausgearbeiteter Exkurs zu gleichbehandlungsrelevanten Normen des ArbVG ist in den 3. Teil eingefügt (S 320-345): Können betriebsverfassungsrechtliche Gesamtakte (Beschlüsse, Wahlen) bzw diesbezügliche Stimmabgaben von Mehrheits- Mandatar:innen der Nichtigkeit/Sittenwidrigkeit anheimfallen, wenn etwa „schikanös“ eine Betriebsratsausbildungs- Nominierung verweigert oder die Nutzung des Betriebsrats-Mailaccounts eingeschränkt wird? Und zwar wegen Diskriminierung betreffend Mitwirkung in einer „Arbeitnehmerorganisation“ (§ 4 Z 2 und § 18 Z 2 GlBG), worunter die Arbeitnehmerschaft(sorgane) fallen würden?

Ein die Minderheitsinteressen (Anträge, Verlangen außerhalb oder in einer Betriebsratssitzung) ignorierender Beschluss wird sodann mit der diskriminierenden Ablehnung eines Einstellungs- oder Beförderungswerbers nach GlBG oder BEinstG verglichen, was etwas gewagt erscheint (vgl etwa Beschluss der Geschäftsführung samt HR-Leitung, den behinderten oder „dafür schon zu alten“ Jobbewerber A nicht aufzunehmen versus knapper Mehrheitsbeschluss im BR, keinen Mandatar der Fraktion A für die 2. oder 3. Freistellungsposition gem § 117 ArbVG zu bestimmen). Dennoch, das Ergebnis von Mathys Analysen zu ArbVG-Lücken vor dem Hintergrund ebenso lückenhafter GlBG-Bestimmungen (§ 12 Abs 9 und § 26 Abs 9, jeweils 1. Alt.) wird diffizil erarbeitet und begründet: Weil es der Gesetzgeber unterlassen hat, GlBG-Rechtsfolgen (Erfüllung oder Schadenersatz, nach Wahl der/des Diskriminierten) mit dem Organisationsrecht des ArbVG abzustimmen, sei von einer planwidrigen Unvollständigkeit, auszugehen. Diese Lücke sei möglichst wertungskohärent zu schließen (vorausgesetzt man anerkennt wie der Autor eine gewerkschaftspolitisch-fraktionelle Positionierung bereits als „Weltanschauung“). Die Rechtsfolge „Erfüllungsanspruch“ scheide aber wegen der privatrechtlich eingeräumten Organisationsautonomie der gewählten Organe aus (teleologische Reduktion), Schadenersatz – nicht aber im Wege der Naturalrestitution (das wäre der bloße Umweg zur Erfüllung) – sei denkbar. (Auf Mathys Buch „Haftung des Betriebsratsmitglieds?“ [2016] sei an dieser Stelle verwiesen, worin er gegen die stRsp von „richterlich nicht nachprüfbaren Ermessensentscheidungen des Betriebsrats [der Organmehrheit]“ Stellung bezieht; der Rezensent ist hingegen überzeugt, dass de 627 lege lata und de iudicandis lata die Nichtauswahl eine:r Minderheitsmandatar:in mangels Rechtswidrigkeit schadenersatzrechtlich kaum releviert werden kann.)

Beeindruckend ist der logische Argumentationsaufbau in Richtung „theoretischer“ Schadenersatzanspruch wegen Nichtberücksichtigungsdiskriminierung allemal, im Ergebnis werden wohl größere Chancen im Fall einer Abberufungsdiskriminierung eingeräumt, wenn am Ende des Abschnitts Koziol (ZAS 1984, 144 f, auf den arbeitsrechtlichen und mietrechtlichen Bestandschutz Bezug nehmend) zitiert wird: Der österreichischen Rechtsordnung wohnt insgesamt die Tendenz inne, das Interesse, etwas nicht zu verlieren, stärker zu schützen als das Interesse, etwas zu erlangen. Ein wahres Wort im Land der Besitzstandswahrer!

Die profunden Ausführungen zu den Gewährleistungen des Grundrechts der Koalitionsfreiheit werden leider mit dem apodiktischen Satz eingeleitet, dass zwischen Gewerkschaftsbewegung und Betriebsratsorganisation ein Konkurrenzverhältnis vorliege, weil beide gleichermaßen die AN-Interessenvertretung bezweckten. Das mag in der schlichten Übersetzung aus dem Lateinischen oder unter dem rechtstechnischen Aspekt der Normenkonkurrenz zutreffen, doch „zusammenlaufen“ kann, wie in Österreich durchwegs festzustellen ist, auch kooperieren bedeuten. Hier hat der Autor wohl zu stark über die Landesgrenzen geschielt und die deutsche Literatur zu Partikularinteressen-Minigewerkschaften und ähnlichen Phänomenen der Entsolidarisierung eingearbeitet. Dann aber kommt er überzeugend zum Ergebnis, dass in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit letztlich nur wahlwerbende Gruppen fallen; weder die Arbeitnehmerschaft noch eine Listenkurie noch ein Belegschaftsorgan könne unter den Koalitionsbegriff fallen. Für die Mitglieder der wahlwerbenden Gruppe – bevor sie zur Listenkurie im BR werden (für Wahlwerber:innen bzw Kandidat:innen also) – werden dann aber weitreichende Garantien eingefordert, etwa Freistellungsansprüche nach § 116 oder Beschränkungsund Benachteiligungsverbote nach § 115 ArbVG.

Dass letztlich die Mehrheit im Organ die Interessenvertretungspolitik gestaltet und ausübt, wird im Zuge der Eingriffsprüfung in das Grundrecht auch von Mathy als legitim, erforderlich und verhältnismäßig sowie angemessen anerkannt (S 420-425): Vor dem Hintergrund des individuellen Verhandlungsungleichgewichts im Arbeitsverhältnis stellt sich die „Freiheit durch soziale Koordination“ und die Entscheidungsfindung nach dem Mehrheitsprinzip als folgerichtige Notwendigkeit dar, es handelt sich dabei um „die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit“ (Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie2 [1929] 9; zitiert auf S 423). Art 27 GRC ziele darauf ab, dass AN ihre Position gegenüber dem Unternehmer vertreten und auf dessen Entscheidung Einfluss nehmen können, wodurch im Einklang mit Art 151 Abs 1 AEUV die Arbeitsbedingungen verbessert werden sollen. Der auf unternehmerische Entscheidungen auszuübende Einfluss muss auf den Willen der AN (bzw „der Arbeitnehmerschaft“) zurückgeführt werden können. Im Einklang mit § 20 Abs 1 GlBG liegt ein Rechtfertigungsgrund für die dem ArbVG zu unterstellende Zurückdrängung der Einflussnahme, der Verzögerungsgefahren durch Minderheitsfraktionen-Ansprüche vor: Das betreffende Merkmal „Weltanschauung der Mehrheit im Betriebsrat“ ist eine wesentliche und entscheidende Voraussetzung dafür, Mehrheitsentscheidungen zu favorisieren, um dem Vertretungsorgan rasches und situationsadäquates Reagieren auf Vorhaben oder Aktionen des Betriebsinhabers zu ermöglichen.

Um das dem Werk zugrundeliegende betriebssoziologische Problem abschließend kurz aus der Praxis zu beleuchten: Die Ära monokratisch regierender „Betriebskaiser“, wohl ein Phänomen der Wirtschaftswunderzeit, sollte spätestens nach den Skandalfällen „Volkswagen“ & Co vorbei sein (das Anbieten von „Vorstandszigarren“, um Betriebsratsobmänner „gefügig“ zu machen, wurde allerdings schon Anfang der 1920er-Jahre in einer Industriellen-Fachzeitschrift empfohlen). Die Erfahrung zeigt, dass an die Stelle ehemals vielleicht vereinzelt „autoritär“ agierender „Obmänner“ nun in aller Regel eine Primaoder ein Primus inter pares als ausgleichend lenkende und so gut wie nie alleinbestimmende Vorsitzende/r des Kollegialorgans treten. Und noch etwas zum Thema Minoritätsansprüche: Die „anspruchsvollsten“ Minderheiten sind erfahrungsgemäß die ehemaligen („abgewählten“) Mehrheiten; oder aber Minoritätsgruppen, die der Mehrheitsfraktion ideologisch bemerkenswert nahe stehen, die sich nach Außensicht nur in marginalen – für die im System befangenen Akteur:innen subjektiv jedoch als „fundamental“ empfundenen – Detaildifferenzen unterscheiden. Damit stellt sich die Frage, ob hier nicht vielfach Mediation hilfreicher sein kann als ein streitiges Verfahren, ob nicht gem § 39 Abs 2 und Abs 4 ArbVG den kollektivvertragsfähigen Körperschaften der AN gewisse Schlichtungs- und Mediationsfunktionen zugesprochen werden.

Juristische Methodik und Dogmatik fängt dort an, wo die verba legalia zu schweigen beginnen. Mangels systematisch-klarer Positivierung von Minderheitsansprüchen im ArbVG ist eine wissenschaftliche Durchdringung der Problematik längst fällig gewesen – und die ist hier mehr als geglückt! Mit Thomas Mathys umfassender Monografie liegt ein Werk vor, das zwar auf anstehende Fragen der Praxis nur selten schnelle Lösungen oder Antworten liefert, dafür aber umso mehr den rechtsdogmatischen Boden aufbereitet. Das Buch liefert somit ein rechtswissenschaftliches Fundament in durchwegs belastbarer Stärke, auf welchem Binnenkonflikte im BR, im Zentralbetriebsrat oder in einer Konzernvertretung den ihnen angemessenen rechtlichen – oder besser noch: mediatorischen – Lösungen zugeführt werden können. 628