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Angemessene Vorkehrungen implizieren eine außervertragliche Versetzungspflicht

ERIKAKOVÁCS (WIEN)
§ 6 Abs 1a BEinstG
Art 5 RL 2000/78/EG;
EuGH 10.2.2022 C-485/20XXXX gegen HR Rail SA
  1. Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung iSd Art 5 der RL 2000/78/EG implizieren, dass der AG verpflichtet ist, einen AN, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen.

  2. Die Bedingungen der Versetzungspflicht sind, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende AN einnehmen kann, der AN die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit für diese Stelle aufweist und der AG durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.

[...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

13 Der Kl des Ausgangsverfahrens wurde von HR Rail, einzige AG der Bediensteten der belgischen Eisenbahn, als Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege eingestellt. Am 21.11.2016 begann er seine Probezeit bei Infrabel, einer juristischen Person, die als „Infrastrukturbetreiberin“ der belgischen Eisenbahn fungiert. Im Lauf des Monats Dezember 2017 wurde beim Kl des Ausgangsverfahrens eine Herzerkrankung diagnostiziert, die das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Dieses Gerät reagiert empfindlich auf elektromagnetische Felder, die ua in Gleisanlagen verbreitet auftreten. Da dieses medizinische Gerät nicht wiederholt elektromagnetischen Feldern ausgesetzt werden darf, mit denen ein Wartungs- und Instandhaltungsfacharbeiter auf Schienenwegen konfrontiert ist, konnte der Kl des Ausgangsverfahrens nicht länger die Aufgaben wahrnehmen, für die er ursprünglich eingestellt worden war.

14 Am 12.6.2018 wurde eine Behinderung des Kl vom belgischen Service public fédéral Sécurité sociale (Föderaler öffentlicher Dienst Soziale Sicherheit) anerkannt.

15 Mit E vom 28.6.2018 erklärte das mit der Beurteilung der medizinischen Eignung von statutarischen Bediensteten der belgischen Eisenbahn betraute Centre régional de la médecine de l’administration(Regionales Zentrum für Verwaltungsmedizin, Belgien) den Kl des Ausgangsverfahrens für ungeeignet, die Funktionen, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen (im Folgenden: streitige E). Das Regionale Zentrum für Verwaltungsmedizin führte jedoch auch aus, dass er einen Arbeitsplatz einnehmen könne, der folgende Anforderungen erfülle: „durchschnittliche Aktivität, keine Exposition gegenüber elektromagnetischen Feldern, keine Arbeit in Höhenlage oder bei Vibrationen“.

16 Der Kl des Ausgangsverfahrens wurde daraufhin innerhalb desselben Unternehmens als Lagerist eingesetzt

17 Am 1.7.2018 legte er gegen die streitige E bei der Commission d’appel de la médecine de l’administration (Medizinische Berufungskommission der Verwaltung, Belgien) Beschwerde ein.

18 Am 19.7.2018 teilte HR Rail dem Kl des Ausgangsverfahrens mit, dass er „individuelle Unterstützung erhalten werde, um bei HR Rail eine neue Stelle zu finden“, und dass er zu diesem Zweck in Kürze zu einem Gespräch eingeladen werde.

19 Am 3.9.2018 bestätigte die Medizinische Berufungskommission der Verwaltung die streitige E.

20 Am 26.9.2018 informierte der Leitende Berater – und zuständige Dienstleiter – den Kl über seine Entlassung zum 30.9.2018, und zwar mit einem für die Dauer von fünf Jahren geltenden Verbot einer Wiedereinstellung in der Besoldungsgruppe, in der er eingestellt worden war.

21 Am 26.10.2018 teilte der Generaldirektor von HR Rail dem Kl des Ausgangsverfahrens mit, dass seine Probezeit gemäß der Satzung und der für die Bediensteten der belgischen Eisenbahn geltenden Regelung beendet worden sei, da es ihm endgültig völlig unmöglich sei, die Aufgaben, für die er eingestellt worden sei, zu erfüllen. Anders als für endgültig ernannte Bedienstete sei für Bedienstete in der Probezeit, bei denen eine Behinderung anerkannt werde und die daher nicht mehr in der Lage seien, ihre Tätigkeit auszuüben, keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens vorgesehen. Der Generaldirektor führte außerdem aus, dass das Schreiben, das dem Kl eine „individualisierte Unterstützung“ in Aussicht gestellt habe, als gegenstandslos zu betrachten sei.

22 Der Kl des Ausgangsverfahrens erhob beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung vom 26.9.2018, mit der er über seine Entlassung zum 30.9.2018 informiert wurde.

23 Das vorlegende Gericht legt dar, dass der Kl des Ausgangsverfahrens aufgrund seines Gesundheitszustands iSd Gesetzes, mit dem die RL 2000/78 in belgisches Recht umgesetzt wird, als „behindert“ einzustufen sei. Allerdings werde die Frage, ob unter „angemessene Vorkehrungen“ iSv Art 5 dieser RL auch die Möglichkeit zu verstehen sei, eine Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage sei, die gleiche Tätigkeit auszuüben wie vor dem Eintritt ihrer Behinderung, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, in der nationalen Rsp uneinheitlich beurteilt.

24 Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État(Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: 559

Ist Art 5 der RL 2000/78 dahin auszulegen, dass ein AG verpflichtet ist, einer Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen Funktionen ihres bisherigen Arbeitsplatzes zu erfüllen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den sie die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern eine solche Maßnahme keine übermäßige Belastung für den AG darstellt?

Zur Vorlagefrage

[...]

28 Zunächst ist zu prüfen, ob sich eine Person, der wie dem Kl des Ausgangsverfahrens ein Herzschrittmacher eingesetzt werden musste, während sie eine auf die Einstellung durch ihren AG folgende Probezeit absolvierte, auf diese RL berufen kann [...].

29 Insoweit ergibt sich erstens aus Art 3 Abs 1 der RL 2000/78, dass diese für öffentliche und private Bereiche, einschließlich öffentliche Stellen gilt. Dass HR Rail eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft ist, hindert den Kl des Ausgangsverfahrens also nicht daran, sich ihr gegenüber auf diese RL zu berufen.

30 Zweitens gilt die RL gemäß ihrem Art 3 Abs 1 Buchst a und b in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit und den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass sie weit genug gefasst ist, um auf den Fall eines AN anwendbar zu sein, der nach der Einstellung durch seinen AG zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolviert.

31 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ iSv Art 5 AEUV, der dem AN-Begriff der RL 2000/78 entspricht (vgl in diesem Sinne Urteil vom 19.7.2017, Abercrombie & Fitch Italia, C-143/16, EU:C:2017:566, Rn 19), auch Personen erfasst, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, die als eine mit der eigentlichen Ausübung des betreffenden Berufs verbundene praktische Vorbereitung betrachtet werden können, wenn diese Zeiten unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis für einen AG nach dessen Weisung absolviert werden (Urteil vom 9.7.2015, Balkaya, C-229/14, EU:C:2015:455, Rn 50 und die dort angeführte Rsp).

32 Daraus folgt, dass der Umstand, dass der Kl des Ausgangsverfahrens zum Zeitpunkt seiner Entlassung kein endgültig eingestellter Bediensteter war, nicht dazu führt, dass seine berufliche Situation vom Geltungsbereich der RL 2000/78 ausgenommen ist.

33 Drittens ist unstreitig, dass beim Kl des Ausgangsverfahrens eine „Behinderung“ iSd nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der RL 2000/78 vorliegt.

34 Nach stRsp ist der Begriff „Behinderung“ iS dieser RL so zu verstehen, dass er eine Einschränkung von Fähigkeiten erfasst, die ua auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben unter Gleichstellung mit den übrigen AN hindern können (vgl in diesem Sinne Urteile vom 11.4.2013, HK Danmark, C-335/11, und C-337/11, EU:C:2013:222, Rn 38, sowie vom 11.9.2019, Nobel Plastiques Ibérica, C-397/18, EU:C:2019:703, Rn 41).

35 Im vorliegenden Fall leidet der Kl des Ausgangsverfahrens an einem gesundheitlichen Problem, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Ein Herzschrittmacher ist ein Gerät, das empfindlich auf elektromagnetische Felder reagiert, die ua in Gleisanlagen auftreten, so dass der Kl die wesentlichen Funktionen seines bisherigen Arbeitsplatzes nicht mehr erfüllen kann.

36 Folglich wird eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende vom Geltungsbereich der RL 2000/78 erfasst.

37 Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Wortlaut von Art 5 der RL 2000/78 im Licht ihrer Erwägungsgründe 20 und 21 ergibt, dass der AG verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen, also wirksame und praktikable Maßnahmen, zu ergreifen. Dabei ist jeweils die individuelle Situation zu berücksichtigen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, ohne den AG unverhältnismäßig zu belasten.

37 Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Wortlaut von Art 5 der RL 2000/78 im Licht ihrer Erwägungsgründe 20 und 21 ergibt, dass der AG verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen, also wirksame und praktikable Maßnahmen, zu ergreifen. Dabei ist jeweils die individuelle Situation zu berücksichtigen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, ohne den AG unverhältnismäßig zu belasten.

39 Aus Art 5 der RL 2000/78 ergibt sich, dass angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Der AG hat also die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dem Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Ausund Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden ihn unverhältnismäßig belasten.

40 Was speziell den 20. Erwägungsgrund der RL betrifft, der auf geeignete Maßnahmen Bezug nimmt, darunter „wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, zB durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen“, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser Erwägungsgrund eine nicht abschließende Aufzählung geeigneter Maßnahmen enthält, die die Arbeitsumgebung, 560 die Arbeitsorganisation und/oder die Aus- und Fortbildung betreffen können, während die Definition des Begriffs „angemessene Vorkehrungen“ nach Art 5 der RL im Licht von Art 2 Abs 4 des VN-Übereinkommens eine weite ist (vgl in diesem Sinne Urteil vom 11.4.2013, HK Danmark, C-335/11und C-337/11, EU:C:2013:222, Rn 49 und 53).

41 Wie der Generalanwalt in Nr 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist nämlich die Bezugnahme im 20. Erwägungsgrund der RL 2000/78 auf die Ausgestaltung des „Arbeitsplatzes“ dahin zu verstehen, dass der Vorrang dieser Ausgestaltung gegenüber anderen Maßnahmen zur Anpassung des Arbeitsumfelds der Person mit Behinderung hervorgehoben wird, mit denen ihr eine volle und wirksame Teilhabe am Berufsleben auf der Grundlage des Grundsatzes der Gleichstellung mit den übrigen AN ermöglicht werden soll. Diese Maßnahmen können somit die Ergreifung von Maßnahmen durch den AG umfassen, die es dieser Person ermöglichen, ihre Beschäftigung zu behalten – zB die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz.

[...]

43 Daher ist dem Generalanwalt in Nr 69 seiner Schlussanträge beizupflichten, dass es im Rahmen „angemessener Vorkehrungen“ iSv Art 5 der RL 2000/78 eine geeignete Maßnahme darstellen kann, einen AN, der wegen des Entstehens einer Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden ist, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden.

44 Eine solche Auslegung ist mit diesem Begriff vereinbar, der dahin zu verstehen ist, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, behindern (vgl in diesem Sinne Urteil vom 11.4.2013, HK Danmark, C-335/11und C-337/11, EU:C:2013:222, Rn 54).

45 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Art 5 der RL 2000/78 den AG nicht dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn „unverhältnismäßig belasten“. Aus dem 21. Erwägungsgrund dieser RL ergibt sich, dass bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, insb der mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden sollten.

45 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Art 5 der RL 2000/78 den AG nicht dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn „unverhältnismäßig belasten“. Aus dem 21. Erwägungsgrund dieser RL ergibt sich, dass bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, insb der mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden sollten.

47 Für diese Beurteilung kann der vom vorlegenden Gericht angeführte Umstand maßgeblich sein, dass der Kl des Ausgangsverfahrens, nachdem er für ungeeignet erklärt worden war, die Funktionen zu erfüllen, für die er eingestellt worden war, innerhalb desselben Unternehmens als Lagerist eingesetzt wurde.

48 Wie der Generalanwalt in Nr 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, setzt die Möglichkeit, eine Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, jedenfalls voraus, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende AN einnehmen kann.

49 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art 5 der RL 2000/78 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ iS dieses Artikels impliziert, dass ein AN – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der AG durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.

ANMERKUNG
1.
Behinderungsbegriff

Im vorliegenden Urteil führte der EuGH seine Judikatur zum subjektiven Behinderungsbegriff fort, nach der eine langfristige körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung je nach der konkreten Position des AN und der Auswirkung der Beeinträchtigung auf die Ausübung der spezifischen Tätigkeiten eine Behinderung darstellen kann (EuGH 11.4.2013, verb Rs C-335/11 und C-337/11, HK Danmark, Rz 37 f). Dieser kontextbezogene Ansatz stellt darauf ab, ob der Zustand des AN eine Erschwerung seiner Teilhabe am Erwerbsleben von längerer Dauer (mehr als sechs Monate) darstellt (siehe zum Behinderungsbegriff zuletzt OGH9 ObA 45/21iDRdA 2022/4, 413 [Eichinger]).

Im Einklang mit diesem – im Wesentlichen arbeitsplatzbezogenen – Behinderungsbegriff erklärte der EuGH im HR Rail-Urteil, dass die Einsetzung eines Herzschrittmachers eine Behinderung darstellt, wenn der AN die wesentlichen Funktionen seines Arbeitsplatzes wegen der Empfindlichkeit des Geräts auf elektromagnetische Felder endgültig nicht mehr erfüllen kann.

2.
Probezeit oder Ausbildungsverhältnis?

Es fällt im Sachverhalt des Urteils auf, dass der Kl sich nach einer Beschäftigung von einem Jahr und mehreren Monaten noch immer in Probezeit befand. Die Umsetzungsfrist der RL (EU) 2019/1152 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der EU war im Zeitpunkt der Ereignisse des Falles zwar noch nicht abgelaufen, daher galt die darin vorgesehene maximale Probezeit von sechs Monaten noch nicht. Dennoch erscheint der genannte Zeitraum für eine Probezeit im europäischen Vergleich zu lang.

Die Erklärung für dieses ungewöhnliche Sachverhaltselement liefern die englischen und französischen Fassungen des Urteils sowie der Schlussanträge. In der Überschrift der Schlussanträge spricht Generalanwalt Rantosüber „person completing a training period in the context of his recruitment“ und in der deutschen Version über eine „Person, die im Rahmen ihrer Einstellung eine Probezeit absolviert“. Im Haupttext der Schlussanträge wird der Unterschied konsequent fortgeführt: In der deutschen Version 561 wird „Probezeit“ und in der englischen Fassung „traineeship“ erwähnt (zB Schluss anträge des Generalanwalts Rantos in der Rs HR Rail, Rz 44). Diese terminologische Differenz spiegelt sich auch in den Urteilen wider: In den englischen und französischen Sprachfassungen des Urteils wird Probezeit überhaupt nicht erwähnt, sondern „trainees“ bzw „stagiaires“ (Rz 21) sowie „traineeship“ und „un stage de formation“ (Rz 30). Somit weist die deutsche Sprachfassung mE eine unzutreffende und sogar irreführende Wortwahl auf.

Im Sachverhalt handelt es sich somit mMn um keine Probezeit nach österreichischem Verständnis, vielmehr um ein Beschäftigungsverhältnis mit Ausbildungscharakter (siehe Kumin/Maderbacher, ÖJZ 2022/44, 355), das nach dem EuGH die autonome AN-Eigenschaft begründete. Der EuGH verwies dabei auf das Urteil Balkaya (9.7.2015, C-229/14, EU:C:2015:455, Rz 31), in dem er die AN-Eigenschaft einer „Praktikantin“ bejahte, die eine vollständig durch die öffentliche Hand geförderte Umschulungsmaßnahme bei einem Unternehmen durchlief. Die praktische Mitarbeit in einem Unternehmen, um Kenntnisse zu erwerben oder zu vertiefen oder eine Berufsausbildung zu absolvieren, kann somit den autonomen AN-Begriff erfüllen. Daher konnte die AN-Eigenschaft auch im vorliegenden Fall bejaht werden, schließlich handelte es sich hierbei nach den spärlichen Angaben im Sachverhalt eher um ein richtiges Arbeitsverhältnis als um ein bloßes Ausbildungsverhältnis.

Abschließend ist anzumerken, dass, selbst wenn in dem Fall ein Probedienstverhältnis vorgelegen hätte, die Aussage des EuGH mE trotzdem gültig wäre, weil das Diskriminierungsverbot auch während der Probezeit gilt.

3.
Der unionsrechtliche Behindertenbegriff versus nationaler Kündigungsrechtfertigungsgrund

Das HR Rail-Urteil macht deutlich, dass die EuGH-Judikatur zum antidiskriminierungsrechtlichen Behinderungsbegriff den Kriterien der Zulässigkeit der krankheitsbedingten Kündigungen in der österreichischen Rsp widerspricht. Der Gerichtshof hat im Wesentlichen dieselben Bedingungen für den geschützten Behindertenbegriff ausgearbeitet, die in Österreich die Kriterien eines krankheitsbedingten Kündigungsrechtfertigungsgrundes bilden: Langfristigkeit und Fehlzeiten oder dauerhaft verminderte Arbeitsleistung. Falls diese zwei wesentlichen Bedingungen erfüllt sind, kann eine Krankheit sowohl eine Behinderung – und somit ein relatives Kündigungsverbot wegen des Diskriminierungsverbots – als auch einen Kündigungsrechtfertigungsgrund darstellen (siehe im Detail Kovács, Ein europäisches Grundrecht auf Kündigungsschutz [2022] 443 ff; Windisch-Graetz, DRdA 2014/2, 30, 35 f).

Eine Krankheit kann umso mehr einen triftigen Grund für die einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses bilden, je länger sie vorliegt, weil sie die betrieblichen Interessen intensiver beeinträchtigt. Gemäß dem EuGH kann aber eine Krankheit gerade dann eine Behinderung darstellen, wenn sie die Arbeitsleistung langfristig verhindert. Somit kann eine auf die verminderte Arbeitsfähigkeit beruhende Kündigung diskriminierend sein (Windisch-Graetz, Doppelgleisiger Rechtsschutz für Arbeitnehmer mit Behinderung, ZAS 2018, 150, 153). Diese EuGH-Rsp stellt die Akzeptanz einer längeren Krankheit als Kündigungsrechtfertigungsgrund infrage.

4.
Außervertragliche Versetzungspflicht: keine Arbeitsplatzbezogenheit der angemessenen Vorkehrungen

Der EuGH hat sich mehrmals mit der Frage befasst, unter welchen Umständen die Kündigung oder Entlassung einer behinderten Person zulässig ist (siehe insb EuGH 18.1.2018, C-270/16, Ruiz Conejero, DRdA 2019/2, 40 [Windisch-Graetz/Bertsch]). Bisher war jedoch umstritten, ob unter den Begriff „angemessene Vorkehrungen“ auch die Verweisung auf einen Tätigkeitsbereich außerhalb des vertraglich vereinbarten Rahmens zu subsumieren ist. Die Unsicherheit ergab sich insb aus dem Wortlaut der Präambel der RL 2000/78/EG. Art 5 der RL 2000/78/EG formuliert allgemein und spricht über die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu sieht der Erwägungsgrund 17 der RL 2000/78/EG von der Weiterbeschäftigungspflicht ausdrücklich ab, „wenn diese Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes“ nicht kompetent oder fähig ist. Dieser Satz könnte so interpretiert werden, dass er den AG von seiner Weiterbeschäftigungspflicht entbindet, wenn der AN zur Ausübung seiner arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit nicht fähig ist.

Die bisherige EuGH-Judikatur war diesbezüglich nicht eindeutig (zutreffend Windisch-Graetz/Bertsch, DRdA 2019, 40, 44). In der Rs Chacón Navas kam der EuGH unter Berufung auf Art 5 und den Erwägungsgrund 17 zum Ergebnis, dass die Kündigung einer Person wegen Behinderung durch die Unfähigkeit zur Ausübung ihrer Tätigkeiten gerechtfertigt werden kann (EuGH 11.7.2006, C-13/05, Chacón Navas, Rz 51). In den Rs Kaltoft, Daouidiund Ruiz Conejerowurde dieser Erwägungsgrund nicht mehr erwähnt.

Im Urteil DW wurden Art 5 und der Erwägungsgrund 17 wieder thematisiert und der EuGH führte aus, dass, wenn der AG angemessene Vorkehrungen iSv Art 5 der RL 2000/78/EG getroffen hat, eine auf den umstrittenen Auswahlkriterien beruhende Kündigung nicht als eine mittelbare Diskriminierung anzusehen ist, weil die Weiterbeschäftigung eines AN, der seine Arbeitspflichten nicht (mehr) erfüllen kann, von der RL nicht gefordert wird (EuGH 11.9.2019, C-397/18, DW, Rz 65 ff).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem Fall DW insofern, dass der Kl nicht nur eine gerin 562gere Produktivität und hohe Fehlzeitenquote hatte, sondern überhaupt nicht in der Lage war, seine arbeitsvertraglichen Aufgaben zu erfüllen. Daher stellte sich hier die Frage, ob der Begriff der angemessenen Vorkehrungen iSd Art 5 der RL 2000/78/EG so weit zu interpretieren ist, dass er die Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes verlangt, auf dem der AN nicht mehr die arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit verrichten muss.

Der Gerichtshof führte aus, dass die Anpassung des Arbeitsplatzes gemäß dem Erwägungsgrund 20 der RL 2000/78/EG Vorrang vor der Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes hat (HR Rail-Urteil, Rz 41). Wenn jedoch ein AN aufgrund des Eintritts einer Behinderung dauerhaft nicht mehr in der Lage ist, die Tätigkeiten auf seinem Arbeitsplatz durchzuführen, kann die Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes sehr wohl eine angemessene Maßnahme iSd Art 5 der RL 2000/78/EG darstellen (HR Rail-Urteil, Rz 43). Folglich trifft den AG die Verpflichtung, vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines behinderten AN wegen Dienstunfähigkeit, die Möglichkeit einer Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz zu prüfen. Mit diesem Urteil stellte der EuGH klar, dass die angemessenen Vorkehrungen nicht auf den konkreten Arbeitsplatz und auch nicht auf die vertraglich vereinbarten Tätigkeiten eingeschränkt werden dürfen.

Da § 6 Abs 1a BEinstG den Art 5 der RL 2000/78/EG umsetzt, muss unter dem Ausdruck „die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen“ auch die Verweisungspflicht auf einen anderen geeigneten, freien Arbeitsplatz verstanden werden.

5.
Die Grenze der Versetzungspflicht: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Die Grenze der Versetzungspflicht bildet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Eine Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz kann vom AG nicht verlangt werden, wenn diese für ihn mit unverhältnismäßigem Aufwand oder unverhältnismäßigen Kosten verbunden wäre. Bei der Belastung sind die Kriterien des Erwägungsgrundes 21 zu berücksichtigen, so insb der finanzielle und sonstige Aufwand, die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz des Unternehmens sowie die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten. Der EuGH betonte, dass das Erfordernis, eine behinderte Person auf einen anderen Arbeitsplatz zu verweisen, nur dann besteht, wenn es mindestens eine freie Stelle gibt, die der AN besetzen kann, dh, für die er kompetent und fähig ist. Weitere Kriterien für die Schranken der Versetzungspflicht können mE der OGH-E zur Versetzungspflicht bei Dienstverweigerung aus religiösen Gründen entnommen werden (siehe unten Pkt 6.).

Im konkreten Fall hat der AG selbst seine eigene Position geschwächt, schließlich hat er durch den Einsatz des Kl als Lagerist bewiesen, dass dessen anderweitige Verwendung möglich ist. Das war ein Indiz für die Versetzbarkeit des AN und dafür, dass die Versetzung den AG nicht übermäßig belastet.

Gerade bei solchen großen AG, wie dem einzigen AG der belgischen Eisenbahnen, ist es schwer vorstellbar, dass es keine freie Stelle für einen AN gibt, dessen Behinderung noch die Ausübung vielfältiger Tätigkeiten erlaubt.

6.
Parallele zu der Judikatur zur Versetzungspflicht aus religiösen Gründen

ME sind einige Grundsätze, die der OGH hinsichtlich der Versetzungspflicht zwecks Vorbeugung einer Diskriminierung aufgrund der Religion aufgestellt hat, auf die Kündigung bzw Entlassung eines behinderten AN übertragbar. In dem Urteil vom 14.9.2021 (8 ObA 59/20iDRdA 2022/4, 402 [Dullinger] = ZASJudikatur 2022/4, 36 [Kager/Schöffmann]) musste der OGH über die Zulässigkeit einer Kündigung entscheiden, wobei der AN sich aus religiösen Gründen weigerte, einen Teil der ihm aufgetragenen Tätigkeiten (Hantieren mit Lebensmittelcontainern) zu verrichten. Gemäß dem OGH hätte der AG dem AN eine geeignete Position zuweisen müssen, wenn dies ohne organisatorischen Aufwand und ohne gleichzeitige Benachteiligung eines anderen AN möglich gewesen wäre. Der AG sei im Rahmen seiner Fürsorgepflicht verpflichtet, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die ideellen und materiellen Interessen des AN gewahrt bleiben. Der OGH führte aus, dass ein partiell arbeitsunfähiger AN nur dann iSd § 27 Z 2 AngG wegen Dienstunfähigkeit entlassen oder (als Vertragsbediensteter) gekündigt werden dürfe, wenn der AG „keine zumutbare Möglichkeit hat, ihm eine andere Arbeit zuzuweisen oder wenn der Arbeitnehmer ein entsprechendes Angebot des Arbeitgebers ablehnt“ (Rz 3.2.). Der OGH konkretisierte, dass der AG nicht verpflichtet sei, „geeignete Verweisungsarbeitsplätze durch Kündigung anderer Arbeitnehmer frei zu machen, seine Arbeitsorganisation umzustrukturieren oder gar nicht existierende Arbeitsplätze neu zu schaffen“ (siehe bereits OGH 29.9.2009, 8 ObA 43/09w). Dem OGH ist beizupflichten, wenn er darauf hinweist, dass die Kündigung anderer AN und die Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht gefordert werden kann. Gleichzeitig ist auch Dullinger zuzustimmen, dass jede Versetzung mit einem gewissen (insb organisatorischen) Aufwand verbunden ist; daher muss der AG eine gewisse Umstrukturierung seiner Arbeitsorganisation hinnehmen und für die Versetzungspflicht kommt es letztendlich auf eine Abwägung der gegenseitigen Interessen an (Dullinger, DRdA 2022/4, 405). Diese Grundsätze für die Verweisungspflicht sind mE auf „die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen“ iSd § 6 Abs 1a BeinstG übertragbar.

7.
Die bisherige OGH-Judikatur zur Versetzungspflicht bei (partieller) Dienstunfähigkeit

In seiner früheren Rsp vertrat der OGH die Meinung, dass der AG nicht aufgrund der Fürsorgepflicht gezwungen werden kann, dem AN im Fall einer längeren Dienstunfähigkeit eine andere, außerhalb des Arbeitsvertrages liegende Tätigkeit zuzuweisen (OGH 4 Ob 50/81

, 563 215 [Mosler]). Auch Kuderna teilte die Auffassung, dass die Fürsorgepflicht den AG lediglich zu prüfen verpflichtet, ob er dem (zum Teil) dienstunfähigen AN eine andere – aber noch innerhalb des Arbeitsvertrages liegende – Tätigkeit anbieten kann (Kuderna, Entlassungsrecht2 [1994] 93 f).

Später hat der OGH hinsichtlich der Entlassungsgründe der dauernden Dienstunfähigkeit iSd § 27 Z 2 AngG bzw der Arbeitsunfähigkeit iSd § 82 lit b GewO 1859 ausgearbeitet, dass der AG verpflichtet ist, dem aufgrund von Krankheiten nur mehr beschränkt leistungsfähigen AN nach Möglichkeit Arbeiten zuzuweisen, zu deren Verrichtung er weiterhin in der Lage ist. Diese Verpflichtung betraf jedoch den nur zum Teil arbeitsunfähigen AN und blieb im Rahmen des dem AG Zumutbaren; der AG war insb nicht verpflichtet, seinen Betrieb umzuorganisieren, um eine Stelle überhaupt erst zu schaffen (OGH 13.6.2002, 8 ObA 79/02d).

Der OGH prüfte 2014 in einer einschlägigen E (OGH9 ObA 165/13zDRdA 2015/14, 110 [Auer-Mayer]), ob der AG dem AN eine andere Beschäftigung außerhalb des mit ihm arbeitsvertraglich vereinbarten Rahmens verschaffen muss. Unter Berufung auf die Erwägungsgründe 16 und 20 der RL 2000/78/EG argumentierte der OGH dahingehend, dass der AG lediglich verpflichtet sei, den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, dh, die angemessenen Maßnahmen beschränken sich auf die barrierefreie Einrichtung des Arbeitsplatzes. Somit reduzierte er den Umfang der erforderlichen Maßnahmen gem Art 5 der RL 2000/78/EG und der geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen iSd § 4b Abs 3 VBO 1995 auf solche, die die entsprechende Einrichtung des Arbeitsplatzes und die zumutbaren Änderungen der Arbeitsbedingungen betreffen. Gemäß dem Erwägungsgrund 17 sei es nicht das Ziel der RL und entspreche nicht den Wertungen der RL 2000/78/EG, arbeitsunfähige AN in Arbeitsverhältnissen zu halten. Die RL 2000/78/EG verlange nicht die Weiterbeschäftigung einer Person, wenn diese zur Erfüllung der wesentlichen Funktionen ihres Arbeitsplatzes nicht mehr fähig ist. Auch aus dem vom EuGH geforderten weiten Verständnis der angemessenen Maßnahme iSd Art 5 RL 2000/78/EG ergebe sich keine Verpflichtung des AG, die AN, die ihre arbeitsvertraglich vereinbarten Aufgaben aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben können, außerhalb der vertraglich vereinbarten Tätigkeiten weiter zu beschäftigen.

Dieses Urteil stieß in der Lehre teilweise auf Kritik. Auer-Mayer vertrat mE zu Recht die Auffassung, dass es verfehlt sei, auf den vertraglich geschuldeten Tätigkeitsbereich abzustellen und die Reichweite der erforderlichen Maßnahmen auf Änderungen des konkreten Arbeitsplatzes zu reduzieren. Vielmehr müssen alle Maßnahmen, auch die Zuweisung eines Ersatzarbeitsplatzes, zum Einsatz kommen, sofern sie die Kriterien der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit erfüllen (Auer-Mayer, Kündigung wegen langer Krankheit – Diskriminierungsverbot und Verpflichtung zu „angemessenen Maßnahmen“, DRdA 2015, 110, 114; vgl auch Windisch-Graetz/Bertsch, Diskriminierungsschutz wegen Behinderung bei längeren Krankenständen, DRdA 2019/2, 40, 44).

Auch mMn kann aus Art 5 der RL 2000/78/EG nicht abgeleitet werden, dass die angemessenen Vorkehrungen auf den vorhandenen Arbeitsplatz einschränkbar wären, schließlich fordert diese Norm pauschal geeignete und erforderliche Maßnahmen, um den Menschen die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen, solange diese den AG nicht unverhältnismäßig belasten (vgl Windisch-Graetz, Begriff der Behinderung und zumutbare Maßnahmen, DRdA 2014/2, 30, 36). Die Arbeitsunfähigkeit, die den AG von der Weiterbeschäftigungspflicht entlastet, sollte somit nicht mit Blick auf den konkret vereinbarten Tätigkeitsbereich, sondern unter Berücksichtigung sonstiger Einsatzmöglichkeiten beurteilt werden (Auer-Mayer, DRdA 2015/14, 110, 114).

8.
Fazit: Änderungsbedarf der OGH-Rechtsprechung

Der EuGH hat in de 2000/78/EG verpflichtet ist, dem AN, der seine Arbeitsleistung aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr erbringen kann und als Behinderter anzusehen ist, auch solche Arbeitsplätze anzubieten, auf denen er nicht mehr die arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit verrichten muss. Diese Interpretation gilt entsprechend auch für § 6 Abs 1a BEinstG. Obwohl es sich in der HR Rail-E um eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft handelte, sind die Argumente und das Ergebnis auf private Arbeitsverhältnisse übertragbar.

Die OGH-Judikatur zur Verweisungspflicht des AG hinsichtlich eines teilweise dienstunfähigen AN muss in den Fällen geändert werden, in denen der AN behindert ist. Eine arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses des behinderten AN (Kündigung, Entlassung, Auflösung während der Probezeit) ist nur dann zulässig, wenn eine Versetzung des AN auf einen anderen Arbeitsplatz dem AG nicht zumutbar ist oder der AN den angebotenen Arbeitsplatz abgelehnt hat. Das Angebot eines neuen Arbeitsplatzes ist zwecks Vorbeugung einer Diskriminierung aufgrund einer Behinderung erforderlich. Die Aussagen des OGH vom 14.9.2021 im Urteil 8 ObA 59/20i zu den geeigneten Verweisungsarbeitsplätzen sind auf die Beurteilung der Versetzungspflicht von AN mit Behinderung im Wesentlichen übertragbar.

Schließlich ist anzumerken, dass bei der Versetzung des behinderten AN auf einen anderen, vom Arbeitsvertrag nicht gedeckten Arbeitsplatz die vertraglichen und betriebsverfassungsrechtlichen Grenzen eingehalten werden müssen. Eine solche Verweisung ist nur mit der Zustimmung des AN zulässig, außerdem hat der AG die Mitwirkungspflicht des BR gem § 101 ArbVG zu berücksichtigen. 564