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„Wochengeldfalle“ unionsrechtswidrig – Arbeitnehmer hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung oder angemessene Sozialleistung

ANDREASWELLENZOHN
Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL 92/85/EWG; § 3 Abs 3 MSchG; § 8 Abs 4 AngG; § 61 DO.A

Die Kl vereinbarte mit ihrer AG, der Österreichischen Gesundheitskasse, einen Elternkarenzurlaub vom 9.9.2016 bis 15.6.2018. Der Bezug des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes endete mit 15.6.2017, woraufhin die Kl über kein eigenes Einkommen mehr verfügte. Am 8.5.2018 meldete die Kl eine erneute Schwangerschaft. Da es sich um eine Risikoschwangerschaft handelte, unterlag die Kl ab 5.6.2018 einem vorzeitigen Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 3 MSchG. Auf das Dienstverhältnis der Kl kommt die Dienstordnung A für Angestellte bei den Sozialversicherungsträgern Österreichs (DO.A) zur Anwendung, deren § 61 lautet:

„Angestellten, die nach den Bestimmungen des MSchG nicht beschäftigt werden dürfen, gebühren keine Dienstbezüge, wenn die laufenden Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung für diese Zeit die Höhe der Dienstbezüge unmittelbar vor Beginn der laufenden Barleistungen erreichen. Ist dies nicht der Fall, so gebührt ihnen […] die Ergänzung auf die unmittelbar vor Beginn der laufenden Barleistungen gebührenden Dienstbezüge, höchstens jedoch im Ausmaß von 49 % dieser Bezüge.“

Die Kl begehrt mit ihrer Klage für die Zeit ihres Beschäftigungsverbots von 5.6.2018 bis 4.2.2019 einen Ergänzungsbetrag nach § 61 DO.A von € 11.712,- brutto sA. Die Bekl wendet ein, dass die Kl die Anspruchsvoraussetzungen des § 61 DO.A nicht erfülle, weil sie im Zeitpunkt des Eintritts des Beschäftigungsverbots keinen Anspruch auf Wochengeld und auch keine Dienstbezüge gehabt habe.

Das Erstgericht gab der Klage statt. Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Der OGH erachtete die dagegen erhobene Revision der Kl für zulässig und auch berechtigt, hob die Urteile der Vorinstanzen auf und wies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Ein Anspruch auf Wochengeld aus der KV setzt nach § 122 Abs 1 ASVG voraus, dass der Versicherungsfall der Mutterschaft vor dem auf das Ende der Versicherung nächstfolgenden Arbeitstag eingetreten ist. Der Versicherungsfall der Mutterschaft ist nach § 120 Z 3 ASVG mit dem Beginn der achten Woche vor der voraussichtlichen Entbindung anzunehmen. Das Wochengeld ist nach § 122 Abs 3 ASVG aber auch dann noch zu gewähren, wenn der Beginn der 32. Woche vor dem Eintritt des Versicherungsfalls in den Zeitraum des Bestands der beendeten Pflichtversicherung fällt und gewisse weitere Voraussetzungen vorliegen. Im Fall einer Karenzierung besteht der Anspruch auf Wochengeld somit praktisch nur, wenn die Schwangerschaft noch während des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld eingetreten ist, was mitunter als „Wochengeldfalle“ bezeichnet wird. Die Kl hatte daher keinen Anspruch auf Wochengeld.

Seit 1.1.2016 besteht nach § 8 Abs 4 AngG auch kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn sich die Angestellte vor Eintritt des Beschäftigungsverbots in einer mit dem DG zur Kinderbetreuung vereinbarten Karenz befindet. Ein allfälliger Anspruch auf einen Zuschuss des DG zum Krankengeld bleibt aber unberührt.

Nach § 14 Abs 2 MSchG hat eine DN während des Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs 3 MSchG Anspruch auf das Entgelt, das dem Durchschnittsverdienst gleichkommt, den sie während der letzten 13 Wochen „vor Eintritt des Beschäftigungsverbots“ bezogen hat. Eine DN, die sich noch aufgrund einer früheren Schwangerschaft in Karenz befindet, hat somit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Daraus ergibt sich, dass die Kl nach geltender österreichischer Gesetzeslage weder Wochengeld aus der KV noch eine Entgeltfortzahlung gegenüber der Bekl beanspruchen kann.

Die Kl stützt ihre Ansprüche deshalb auf § 61 DO.A. Der Kl ist dahin zuzustimmen, dass der Ergänzungsbetrag nach § 61 DO.A Einkommenseinbußen, die Angestellte dadurch erleiden, dass die Barleistungen aus der KV nicht die Höhe ihres Dienstbezugs 380erreichen, zumindest teilweise kompensieren soll. Der OGH hat zur Vorgängerbestimmung die Auffassung vertreten, dass ein Ergänzungsbetrag selbst dann beansprucht werden kann, wenn keine Barleistungen bezogen werden. Dies darf aber nicht zu einer Veränderung der Bemessungsgrundlage des Ergänzungsbetrags führen, weshalb sich der Ergänzungsbetrag auch in einem solchen Fall nach den Dienstbezügen unmittelbar vor Eintritt des Beschäftigungsverbots richten muss. Da die Kl aufgrund ihres Karenzurlaubs unmittelbar vor ihrem Beschäftigungsverbot keine Dienstbezüge hatte, kann sie nach dem eindeutigen Wortlaut des § 61 DO.A auch keinen Ergänzungsbetrag beanspruchen.

Die Kl stützte sich aber auch auf Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL 92/85/EWG, wonach während des Mutterschaftsurlaubs von zumindest 14 Wochen die Fortzahlung eines Arbeitsentgelts und/oder ein Anspruch auf eine angemessene Sozialleistung gewährleistet sein muss. Dass dieses Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren nicht erstattet wurde, verstößt nicht gegen das Neuerungsverbot, da damit kein neues Tatsachenvorbringen verbunden ist.

Eine RL ist grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar. Wenn eine RL nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt wurde, kann sich der Einzelne dennoch gegenüber dem Staat auf die RL berufen, wenn die dort enthaltenen Regelungen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau bestimmt sind (EuGH 4.12.1974, C-41/74, van Duyn, Rn 12; EuGH 19.11.1991, C-6/90 und C-9/90, Francovich, Rn 11; EuGH 5.10.2004, C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer, Rn 103; EuGH 24.1.2012, C-282/10, Dominguez, Rn 33). Dies gilt auch für DN einer mit der öffentlichen Gesundheitsvorsorge betrauten staatlichen Einrichtung (EuGH 26.2.1986, C-152/84, Marshall, Rn 56; EuGH 26.5.2005, C-297/03, Sozialhilfeverband Rohrbach, Rn 27). Die Bekl ist als Sozialversicherungsträger eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und zählt damit zu den staatlichen Einrichtungen. Die Kl kann sich deshalb auf die Mutterschutz-RL berufen, da der EuGH auch bestätigt hat, dass Art 11 Z 1 bis 3 der Mutterschutz-RL hinreichend bestimmt ist, um unmittelbare Wirkung zu entfalten und für den Einzelnen Rechte zu begründen (EuGH 1.7.2010, C-194/08, Gassmayr, Rn 53).

Der EuGH hat außerdem bereits ausgesprochen, dass eine nationale Bestimmung, nach der eine schwangere AN, die einen unbezahlten Elternurlaub unterbricht, um einen Mutterschaftsurlaub iSd Mutterschutz-RL anzutreten, keinen Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts hat, dem Recht auf Elternurlaub (RL 96/34/EG) widerspricht (EuGH 13.2.2014, C-512/11 und C-513/11, Terveysja sosiaalialan neuvottelujärjestö [TSN] ry, Rn 52). Die geltende österreichische Gesetzeslage, nach der die Kl aufgrund ihrer Karenz weder Wochengeld noch eine Entgeltfortzahlung beanspruchen kann, widerspricht damit dem Unionsrecht.

Nach Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL haben AN Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts und/oder angemessene Sozialleistung. Nach Art 11 Z 3 der Mutterschutz-RL gelten Sozialleistungen nur dann als angemessen, wenn sie zumindest den Bezügen entsprechen, welche die betreffende AN im Falle einer Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen erhalten würde.

Dass die RL den Mitgliedstaaten überlässt, ob sie diesen Anspruch als Sozialleistung oder Entgeltfortzahlung ausgestalten wollen, steht der unmittelbaren Anwendung nicht entgegen, weil – mangels nationaler Umsetzung – der Berechtigte entscheiden kann, auf welchem System er seine Ansprüche geltend machen will, wobei er aber naturgemäß keinen Anspruch auf doppelte Auszahlung hat. Die Bekl hat auch gar keinen Einwand erhoben, dass der Kl vorrangig andere Ansprüche zustehen oder anzurechnen wären.

Die Kl kann ihre Ansprüche deshalb auch im vorliegenden Verfahren unmittelbar auf Art 11 Z 2 lit b der Mutterschutz-RL stützen. Die Kl beansprucht mit ihrer Klage 49 % ihrer Bezüge für die Zeit ihres Beschäftigungsverbots. Das ist jedenfalls weniger, als sie im Falle einer Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen erhalten würde. Art 8 Abs 1 der Mutterschutz-RL garantiert aber nur einen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen, weshalb die Klage, soweit sie sich auf einen darüber hinaus gehenden Zeitraum bezieht, abzuweisen sein wird. Da das Erstgericht keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat, um beurteilen zu können, welcher Anteil der Klagsforderung auf den nach Art 8 Abs 1 der Mutterschutz-RL geschützten Zeitraum entfällt, ist die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.