Unfallversicherungsschutz bei Covid-19
Unfallversicherungsschutz bei Covid-19
Der dritte „Corona-Winter“ steht vor der Tür und zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit dem Virus sind nach wie vor unbeantwortet. So gibt es noch keine höchstgerichtliche Rsp zur Anerkennung einer Infektion mit Covid-19 als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall. Da hiervon wichtige unfallversicherungsrechtliche Leistungen abhängen, wie bspw eine Versehrtenrente, ist die Anerkennung insb für Personen wesentlich, die an den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion, wie Konzentrationsschwäche, Erschöpfungserscheinungen oder psychischen Symptomen, leiden und deren Erwerbsfähigkeit hierdurch eingeschränkt ist. Anhand der geltenden Rechtslage und bereits bestehender Judikatur wird zunächst erörtert, unter welchen Voraussetzungen eine Covid-19-Infektion als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall eingestuft werden kann. Einige Fälle aus der Praxis sollen diese Grundsätze veranschaulichen und beleuchten, mit welchen Hürden Versicherte bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche rechnen müssen.
Gem § 177 Abs 1 ASVG gelten als Berufskrankheiten die in der Anlage 1 zum ASVG – der sogenannten Berufskrankheitenliste („BK-Liste) – bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in der BK-Liste bezeichneten Unternehmen verursacht wurden.
Unter der Nr 38 der BK-Liste findet sich die „Infektionskrankheit.“ Diese Berufskrankheit beschäftigte die Höchstgerichte bislang insb im Zusammenhang mit Hepatitis-C-Infektionen.* Es wurden aber auch bereits eine Infektion mit Tuberkulose oder eine Streptokokkeninfektion vom OGH auf das Vorliegen der Berufskrankheit Nr 38 überprüft.* Grundsätzlich kann daher jede Infektionskrankheit eine Berufskrankheit darstellen – so auch eine Infektion mit dem Covid-19-Virus.
Damit eine Ansteckung mit dem Corona-Virus als Berufskrankheit anerkannt wird, muss diese in einem der in der BK-Liste genannten Unternehmen erfolgt sein. Ob die versicherte Person mit dem Träger des Unternehmens ein Dienstverhältnis begründet hat, ist nicht entscheidend, vielmehr ist ausreichend, dass eine berufliche Beschäftigung in einem solchen Unternehmen vorlag.* Ausdrücklich genannt werden Gesundheitseinrichtungen, wie Kranken- und Pflegeanstalten, öffentliche Apotheken, Bildungseinrichtungen, Laboratorien und Justizanstalten. Die Einschränkung auf bestimmte Unternehmen erfolgte mit dem Ziel, Personen, die nicht in einem geschützten Unternehmen beschäftigt sind, aber dennoch mit infizierten Personen in Kontakt kommen können, auszuschließen, da diese Personen im Regelfall wohl überwiegend mit gesunden Personen zu tun haben.* Seit der 55. Novelle zum ASVG am 1.8.1998 werden allerdings auch „Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung“
besteht, erfasst.* Ziel war, „alle anderen potentiell in Frage kommenden Unternehmen durch eine Generalklausel“
zu erfassen.* Der Gesetzgeber verfolgte mit dieser Regelung klar das Ziel, nicht wiederum auf bestimmte Unternehmen einzuschränken, sondern der Vollziehung bei der Beurteilung künftig auftretender Infektionen den notwendigen Entscheidungsspielraum zu gewähren. Der Versicherungsschutz sollte daher auch jenen Personen zugutekommen, bei denen eine nach Art und Intensität vergleichbare besondere Infektionsgefährdung besteht.*
Die vergleichbare Gefährdung stellt eine von einem Sachverständigen zu klärende medizinische Fachfrage dar.* Die Beurteilung hat daher nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erfolgen. Demgemäß wird das Corona-Virus von Mensch zu Mensch und zwar hauptsächlich über die Atemwege übertragen.* Menschen verbreiten über die ausgeatmete Luft ua Aerosolpartikel in unterschiedlicher Größe. Beim normalen Atmen, Sprechen und Singen werden vorwiegend kleinere Partikel (< 5 µm) ausgeschieden, wobei naturgemäß beim Sprechen und Singen mehr Partikel in die Luft gelangen. Beim Husten und Niesen werden hingegen 416größere Partikel (bis 100 µm) ausgeschieden. Während die größeren Partikel mehr Corona-Viren enthalten und damit potenziell infektiöser sind, enthalten kleinere Partikel tendenziell weniger Viren. Allerdings sinken die größeren Aerosolpartikel rascher zu Boden als die kleinen, weshalb letztere auch bei Kontakt über größere Distanzen als 1 bis 2 Meter und für längere Zeiträume ein Infektionsrisiko darstellen.* Ob eine vergleichbare Gefährdung vorliegt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Entsprechend den genannten Kriterien sind vor allem Versicherte, die bei ihrer Tätigkeit regelmäßigen und intensiven persönlichen Kontakt zu anderen Personen haben, einem vergleichbaren Infektionsrisiko ausgesetzt wie Beschäftigte von in der BK-Liste ausdrücklich aufgezählten Unternehmen.
Sofern eine Geltendmachung als Berufskrankheit am Vorliegen eines Listenunternehmens scheitert, besteht die Möglichkeit, dass die Infektion als Arbeitsunfall anerkannt wird. Gem § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle „Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen“
. Erforderlich ist ein „von außen auf Geist und/oder Körper einwirkendes, meist plötzlich eintretendes, zumindest aber zeitlich eng begrenztes Ereignis“
.*
Müller vertritt die Ansicht, dass „ansteckende Erkrankungen von DN (zB nach Urlaubsreisen) […] im Falle der Ansteckung anderer DN […] nicht Folgen eines Arbeitsunfalls [sind], da die Übertragung idR unbemerkt und daher zeitlich nicht eingrenzbar verläuft und sich Infektionskrankheiten – sofern sie überhaupt ausbrechen – über längere Zeiträume als über eine Arbeitsschicht entwickeln“
.* Der höchstgerichtlichen Rsp folgend können allerdings auch Infektionen als Arbeitsunfälle anerkannt werden. Beispielsweise wurde eine Hepatitis C-Infektion, die bei einer Plasmaspende erfolgte, als Arbeitsunfall eingestuft, da das schadenstiftende Ereignis „nicht unbedingt ein mechanischer Vorgang sein [muss], sondern […] – wie bei Krankheiten – auch ein chemo-physikalischer Vorgang sein“
kann.* In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass auch eine Hepatitis C-Infektion unbemerkt erfolgt und sich nicht innerhalb einer Arbeitsschicht entwickelt, sondern innerhalb von ungefähr sechs Monaten.* Dem OGH folgend erfüllen zudem auch mehrere kurz aufeinander folgende Einwirkungen das Erfordernis der „Plötzlichkeit“, wenn sich diese innerhalb einer Arbeitsschicht oder eines sich auf mehrere Tage erstreckenden Dienstauftrages ereignen. Ebenso ist unbeachtlich, ob die gesundheitsschädigenden Folgen sogleich oder erst später eintreten.* Sofern eine Infektion mit dem Virus daher aufgrund eines Kontaktes zu einer infizierten Person oder einem Cluster einer bestimmten Arbeitsschicht zugeordnet werden kann, kann mE auch eine Corona-Infektion als Arbeitsunfall eingestuft werden, dies unabhängig davon, ob die Infektion selbst unbemerkt erfolgt und die Gesundheitsschädigung erst später eintritt. Auch die deutsche Lehre und Rsp geht davon aus, dass Infektionskrankheiten als Arbeitsunfall in Betracht kommen, wenn die Infektion durch Einwirkungen innerhalb einer Arbeitsschicht die Gesundheitsstörung hervorruft.*
Ein zentrales Thema im Zusammenhang mit der Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall stellt die Beweisführung dar. Im sozialgerichtlichen Verfahren gilt – wie im allgemeinen Zivilverfahren – die objektive Beweislast: Der Versicherte muss den rechtserzeugenden Sachverhalt beweisen. Sofern dies nicht gelingt, wird die Anerkennung als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall scheitern.* Diese strengen Anforderung an die Beweisführung würden Versicherte in der praktischen Durchsetzung ihrer Ansprüche oftmals vor unüberwindbare Hürden stellen, weshalb die Rsp mit Blick auf die „soziale Rechtsanwendung“ den „modifizierten Anscheinsbeweis“ ins Leben gerufen hat.
Entsprechend dem Konzept des „modifizierten Anscheinsbeweises“ muss der Versicherte nur einen Grundsachverhalt beweisen, aus dem sich mit Hilfe der allgemeinen Lebenserfahrung auf die Kausalität schließen lässt.* Der Versicherungsträger auf der anderen Seite muss zur Widerlegung dieses Anscheinsbeweises die zumindest gleich hohe Wahrscheinlichkeit eines anderen Geschehensablaufs aufzeigen.* Seine Grenze findet der Anscheinsbeweis dort, wo durch bloße Vermutungen Lücken in 417der Beweisführung gefüllt werden. Sofern daher auch andere Verursachungsmöglichkeiten offen sind, gelangt diese Beweiserleichterung nicht zur Anwendung.* Der Anscheinsbeweis ist beispielsweise in einem Fall nicht gelungen, bei dem der Kl sich entweder bei einer Tätowierung unter Gefängnisbedingungen oder bei einer Blutplasmaspende mit Hepatitis C infiziert hat.*
Anhand einiger Fälle aus der Praxis sollen die oben dargelegten Grundsätze veranschaulicht und verschiedene Problemstellungen beleuchtet werden.
Ein Pflegeassistent, der in einem Pensionistenheim tätig ist, infizierte sich im Jänner 2021 mit Corona. Er hatte in diesem Zeitraum zu mehreren positiv getesteten Bewohner:innen des Heimes Kontakt. Infolge der Infektion litt er an einer Herzmuskelerkrankung und einem Psychosyndrom. Der Unfallversicherungsträger lehnte die Anerkennung als Berufskrankheit bzw Arbeitsunfall mit der Begründung ab, dass kein Kontakt zu Corona-positiven Personen und keine erhöhte Gefährdung bei der Tätigkeit des Kl bestanden habe. Mit rechtskräftigem Urteil des Erstgerichts wurde die Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt, da der Kl nachweisen konnte, dass er vor seiner Infektion über einen längeren Zeitraum in unmittelbarem physischen Kontakt mit den positiv getesteten Bewohner:innen stand (Inkontinenzversorgung, Mundpflege und Lagerungswechsel) und im Zeitraum vor der Infektion keine privaten Kontakte pflegte, sondern lediglich den Supermarkt aufsuchte und die öffentlichen Verkehrsmittel benützte. Aufgrund der Gesundheitsschädigung wurde ihm eine Versehrtenrente im Ausmaß von 25 % zugesprochen.
Beim Pensionistenheim handelt es sich um ein in der BK-Liste genanntes Unternehmen, weshalb sich die Frage nach der vergleichbaren Gefährdung gegenständlich nicht stellte. Auch die Beweisführung war insofern einfach zu führen, als ein intensiver Kontakt zu mehreren Indexpersonen aufgezeigt werden konnte und der Versicherte mit Hilfe eines Kalenders glaubhaft darlegen konnte, dass er im Infektionszeitraum privat keinerlei Kontakte pflegte.
Eine Supermarktkassiererin steckte sich im April 2022 mit Corona an. Annähernd die gesamte Filiale (17 Mitarbeiter:innen) wurde im gleichen Zeitraum infiziert. Die Betroffene hatte engeren Kontakt zum ebenfalls positiv getesteten Filialleiter. Der Unfallversicherungsträger lehnte die Anerkennung als Berufskrankheit ab, da es sich beim Supermarkt um kein Unternehmen iSd BK-Liste handeln würde und ein systemimmanenter gehäufter Kontakt mit Infizierten, vergleichbar einem Krankenhaus, nicht gegeben sei. Darüber hinaus gehe mit der konkreten Beschäftigung der Kl kein ständiger und über das normale Maß gehäufter Kontakt mit Infizierten einher. Einen Arbeitsunfall könne eine Erkrankung mit Covid-19 nicht darstellen. Das dagegen erhobene Klagebegehren wurde vom Erstgericht abgewiesen. Das Nichtvorliegen eines Arbeitsunfalles wurde mit Verweis auf die oben zitierte Lehrmeinung von Müller begründet. Es sei nicht genau feststellbar, wann die Viren in den Körper der Versicherten eingedrungen sind, wann sie sich vermehrten und wann schließlich die Virenlast dazu führte, dass eine Erkrankung ausbrach. Das Vorliegen einer Berufskrankheit wurde unter Berufung auf die Urteile des OGH vom 6.9.1988 zu 10 ObS 159/88 und 10 ObS 175/88 abgelehnt. Nach dieser Judikatur sei wesentlich, dass der Gesetzgeber in den Kreis der geschützten Unternehmen nur jene aufgenommen habe, die nach durchschnittlicher Betrachtung und im Regelfall ein ganz besonders erhöhtes Ansteckungsrisiko mit sich bringen, während sich in den nicht genannten Unternehmen der Kontakt im Regelfall auf gesunde Personen beschränke.
Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung Folge und verwies die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Begründet wurde dies damit, dass für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls unerheblich sei, wenn die Körperschädigung erst viel später eintritt. Beispielsweise trete in dem von Müller angeführten Fall eines Zeckenbisses die Borreliose auch erst später auf. Das zeitliche Auseinanderklaffen zwischen schadensstiftendem Ereignis und Körperschädigung schade daher nicht. Die ungewollte Aufnahme von ausgestoßenen Viren anderer Personen sei laut Berufungsgericht ein plötzliches Ereignis, das von außen auf die angesteckte Person einwirkt. Eine Infektion mit dem Virus könne daher einen Arbeitsunfall darstellen. Hinsichtlich der Beweisbarkeit führt das Berufungsgericht aus, dass der Nachweis, dass die Infektion in (irgend)einer Arbeitsschicht erfolgt ist, wohl genügen muss, da es im Kern um die Abgrenzung des geschützten Lebensbereichs der Arbeit von der restlichen Lebensgestaltung gehe. Hinsichtlich des Vorliegens einer Berufskrankheit vertrat das Berufungsgericht die Ansicht, dass die Kl aufgrund ihrer Berufstätigkeit „zu keiner vergleichbaren Risikogruppe“ zähle. Das Berufungsgericht arbeitete mit Verweis auf die Entscheidungen des OGH vom 6.9.1988 zu 10 ObS 159/88 und 10 ObS 175/88 folgende Kriterien heraus, unter denen von einer vergleichbaren Gefährdung ausgegangen werden könne: 1. der Versicherte ist bei seiner Tätigkeit vermehrt Kontakt mit kranken Personen ausgesetzt oder 2. der Kern der Tätigkeit besteht in einem intensiven ständigen Kontakt mit Menschen 418in geschlossenen Räumen. Im gegenständlichen Fall sei die Kl als Beschäftigte im Lebensmitteleinzelhandel nicht vermehrt kranken Personen ausgesetzt, wie dies etwas in Krankenhäusern oder Apotheken der Fall sei. Zudem entstehe beim Kassiervorgang zu Kunden in der Regel weder über einen längeren Zeitraum Kontakt, noch ein intensiver körperlicher Kontakt, der die Gefahr einer Ansteckung mit Infektionskrankheiten besonders erhöhe.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist insofern zu begrüßen, als eine Klarstellung dahingehend erfolgte, dass eine Infektion mit dem Corona-Virus sehr wohl einen Arbeitsunfall darstellen kann und ausreichend ist, wenn die Infektion in irgendeiner Arbeitsschicht erfolgte. Hinsichtlich der Berufskrankheit ist zunächst festzuhalten, dass die genannten höchstgerichtlichen Entscheidungen aus 1988 nicht eins zu eins auf die jetzige Situation und den gegenständlichen Fall übertragbar sind, zumal das Risiko, sich mit Corona zu infizieren, allgemein sehr hoch ist – Stichwort Pandemie. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Kontakt zu anderen Personen im Arbeitsumfeld (in concreto im Supermarkt) sich im Regelfall auf gesunde Menschen beschränkt. Im gegenständlichen Fall kann mE hingegen sehr wohl argumentiert werden, dass eine vergleichbare Gefährdung vorliegt – beispielsweise durch Gegenüberstellung mit dem Infektionsrisiko einer in einer Apotheke tätigen Person: Eingangs sei darauf verwiesen, dass bei einer in einer Apotheke angestellten Person, die sich bei der Kollegenschaft ansteckt, eine Berufskrankheit vorliegt. Demgegenüber soll die Ansteckung durch Kontakt mit Kolleg:innen bei einer im Supermarkt tätigen Person nicht ausreichen. Da in Zeiten einer Pandemie nicht davon ausgegangen werden kann, dass in öffentlichen Apotheken angestellte Personen häufiger infiziert sind als andere, ist dies nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich der Ansteckungsgefahr durch Kund:innen ist angesichts der Beschränkung der Anzahl der Kund:innen, die sich zugleich in der Apotheke befinden dürfen,* und da der Einkauf im Supermarkt generell meist mehr Zeit in Anspruch nimmt, davon auszugehen, dass sich Kund:innen im Supermarkt länger aufhalten und dementsprechend mehr Aerosol-Partikel verteilen als in der Apotheke. Schließlich arbeiten Angestellte in einer Apotheke in der Regel hinter einem Plexiglas, während die im Supermarkt Beschäftigten auch Artikel in Regale einräumen, sich generell freier im Raum bewegen und dementsprechend auch näheren Kontakt zu Kund:innen haben. Zudem kann in Zeiten einer Pandemie nicht davon ausgegangen werden, dass der Supermarkt als lebensnotwendiger Handel von weniger infizierten Personen aufgesucht wird als eine Apotheke. Seit 1.6.2022 kommt risikoerhöhend hinzu, dass im Supermarkt keine Maskenpflicht mehr besteht, in der Apotheke hingegen schon. Aufgrund des zeitgleichen Rückgangs der Testungen betreten unwissend infizierte Personen nunmehr ohne Maske den Supermarkt. Da auch von Infizierten, die keine oder nur leichte Symptome zeigen, ein Ansteckungsrisiko ausgeht, ist durch den Wegfall der Maskenpflicht und das ungebremste Ausstoßen von kleinen und großen Aerosolpartikeln in die Luft das Infektionsrisiko im Supermarkt gestiegen und dementsprechend höher als jenes in der Apotheke.* Der Begründung des Berufungsgerichts kann daher mit sachlichen Argumenten entgegengetreten werden.*
Eine Vertreterin im Außendienst eines Unternehmens infizierte sich im November 2020 mit Corona. Eine Indexperson oder ein Cluster sind ihr nicht bekannt, allerdings verrichtete sie im Infektionszeitraum insgesamt 13 Kund:innentermine, die zwischen 45 Minuten und 1 ½ Stunden dauern. Bei den Terminen sind auf der Kund:innenseite zeitweise auch mehrere Personen anwesend. Als Schutzvorkehrung während der Beratungsgespräche wurde grundsätzlich ein Mund- und Nasenschutz getragen. Ein korrektes Tragen der Maske, insb vollständige Bedeckung des Mundes und der Nase und regelmäßiges Wechseln durch die Kund:innen (vgl § 3 Abs 1 COVID-19-Verkehrsbeschränkungsverordnung [-VbV]) wurde weder kontrolliert noch bei Nichtvorliegen beanstandet. Die Frau lebte im Infektionszeitraum alleine und hatte keinerlei privaten Kontakt zu anderen Personen. Generell ist sie in Bezug auf Corona eine sehr vorsichtige Person. Mit Ausnahme des Supermarkts, den sie einmal pro Woche aufsuchte, hatte sie im November 2020 keinerlei öffentliche Orte aufgesucht. Den Weg in die Arbeit und auch alle sonstigen Wege bestreitete sie mit ihrem Dienstauto; öffentliche Verkehrsmittel nützte sie nicht. Der Unfallversicherungsträger begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass die AN in keinem in der Spalte 3 der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Unternehmen tätig sei und auch in keinem Unternehmen, in dem eine ähnlich hohe Gefährdung bestehe.
Auch in diesem Fall lässt sich mit Blick auf das Infektionsrisiko einer in einer öffentlichen Apotheke tätigen Person begründen, dass eine vergleichbare Gefährdung vorliegt: Sowohl in öffentlichen Apotheken als auch bei den Kund:innengesprächen war grundsätzlich ein Mund- und Nasenschutz zu tragen. Im Gegensatz zur öffentlichen Apotheke wurden die Kund:innengespräche nicht hinter einem in der Praxis üblichen Plexiglas durchgeführt. Darüber hinaus ist die Verweildauer der Kund:innen in der Apotheke wesentlich kürzer als bei den Gesprächen, die zwischen 45 Minuten und 1 ½ Stunden 419dauerten. Zudem wird bei diesen Kund:innengesprächen selbsterklärend sehr viel gesprochen, weshalb vermehrt kleinere Aerosolpartikel in die Luft gelangen, die für längere Zeiträume ein Infektionsrisiko darstellen. Schließlich herrschte im November 2020 ein hohes Infektionsgeschehen („Lockdown Light“), weshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass lediglich Kontakt zu gesunden Personen bestand. In einem zweiten Schritt muss mit Hilfe des modifizierten Anscheinsbeweises nachgewiesen werden, dass keine andere Verursachungsmöglichkeit offen ist, vielmehr mit Hilfe der allgemeinen Lebenserfahrung aus dem geschilderten Sachverhalt auf die Kausalität geschlossen werden kann. Dies ist insofern diffiziler als in den anderen beiden Fällen, zumal keine Indexperson und kein Cluster am Arbeitsplatz vorliegen. Da die AN sich allerdings privat weitestgehend isolierte und demgegenüber am Arbeitsplatz längeren Kontakt zu anderen Personen hatte, liegt es mE in der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Ansteckung am Arbeitsplatz erfolgte. Private Verursachungsmöglichkeiten können jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Auch in diesem Fall bleibt abzuwarten, wie die Gerichte den Sachverhalt beurteilen.
Bislang gibt es keinerlei höchstgerichtliche Rsp zur Anerkennung einer Covid-19-Infektion als Berufskrankheit oder Arbeitsunfall. Anhand der geschilderten Fälle wird deutlich, dass in der Praxis sehr unterschiedliche Fallkonstellationen auftreten können, die die Betroffenen vor diverse Hürden bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche stellen. In Zeiten einer Pandemie liegt bei einer Tätigkeit in einem Unternehmen, das nicht in der BK-Liste genannt ist, in dem allerdings regelmäßiger und intensiver Kontakt zu anderen Personen besteht, unweigerlich eine vergleichbare Gefährdung wie in den ausdrücklich aufgelisteten Unternehmen vor. Die Unfallversicherungsträger sind daher angehalten, eine entsprechende Prüfung durchzuführen und dies nicht von vornherein pauschal zu verneinen. Ebenso kann eine Covid-19-Erkrankung im Einklang mit bereits bestehender höchstgerichtlicher Judikatur bei Erfüllung der Voraussetzungen als Arbeitsunfall anerkannt werden. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung geht mit gutem Beispiel voran: Mit Stand 6.9.2022 wurden bereits 22.752 Infektionen als Arbeitsunfall anerkannt.* Demgegenüber wurde von der österreichischen Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) mit Stand 30.5.2022 lediglich eine Erkrankung als Arbeitsunfall anerkannt.* ISd von Long-Covid betroffenen Versicherten bleibt sowohl im Hinblick auf das Vorliegen einer Berufskrankheit als auch eines Arbeitsunfalles auf eine Klarstellung durch die Rsp und ein Umschwenken in der Verwaltungspraxis zu hoffen.