Kinderarbeit: Eine Tragödie ohne Ende? Ein historischer Streifzug
Kinderarbeit: Eine Tragödie ohne Ende? Ein historischer Streifzug
Das Thema der Kinderarbeit wurde und wird vielfach als historisches Phänomen begriffen. Das dem nicht so ist, zeigen die aktuellen Berichte der verschiedensten Organisationen, die Kinderarbeit auch im 21. Jahrhundert, etwa in Asien, Afrika, Lateinamerika und vielen anderen Ländern anprangern* und auch jüngste Initiativen rund um das Thema Kinderrechte. Der folgende Beitrag soll sich kursorisch mit dem Thema der Kinderarbeit in Österreich beschäftigen. Auch soll in Erinnerung gerufen werden, dass in Österreich am 19.12.1918 ein Gesetz über Kinderarbeit erlassen wurde. Dennoch ziehen sich Ausnahmen von gesetzlichen Normen wie ein roter Faden durch die Geschichte. Spezifische Formen von Kinderarbeit sind auch leider heute noch in Österreich anzutreffen. Auch ist das Thema der Kinderarbeit nach wie vor ein umstrittenes Thema.*
Die ersten gesetzlichen Maßnahmen zum Schutz arbeitender Kinder reichen bis in das 18. Jahrhundert zurück, angesprochen etwa sei das Hofkanzleidekret vom 18.2.1786. Darin wurde bestimmt, dass in Fabriken verwendete Kinder „vom Antritt des sechsten Jahres die Schule sehr fleißig besuchen und vor dem Antritt des neunten Jahres nicht ohne Not zur Fabriksarbeit aufgenommen werden sollen“
.* Weiters sollten Mädchen und Burschen getrennte Schlafzimmer haben, sie sollten wöchentlich gewaschen werden, einmal pro Woche frische Wäsche erhalten und einmal pro Monat sollten die Schlafstätten gereinigt werden. Für die Überwachung dieser Vorschriften war der Kreisphysikus, das Kreisamt, die Ortsobrigkeit und der Seelsorger des Ortes zuständig.*
Das Hofkanzleidekret vom 11.6.1842 untersagte die regelmäßige Beschäftigung von Kindern beiderlei Geschlechts in Fabriken vor ihrem zwölften Lebensjahr. Für andere Beschäftigungen wurde für Kinder unter zwölf Jahren der zehnstündige Maximalarbeitstag, zwischen 12 und 16 Jahren eine Höchstarbeitszeit von zwölf Stunden festgelegt.*5) Nachtarbeit von Kindern und Jugendlichen war bis zum 16. Lebensjahr verboten. Die Realität sah wohl anders aus. Etwa gibt es Berichte aus den Eisenhüttenwerken, wo die sogenannten „Türljungen“ die ganze Nachtschicht hindurch vor den Schmelzöfen die schweren eisernen Türen an einer Kette hochziehen und wieder zu schließen hatten.*
Die Gewerbeordnung vom 20.12.1859 brachte das Verbot der Kinderarbeit vor dem zehnten Lebensjahr, zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr durften sie nur noch Arbeiten verrichten, die weder ihre Gesundheit schädigen noch den Besuch der Schule verhindern würden. Die erlaubte Arbeitszeit betrug (je nach Alter) zwischen zehn und zwölf Stunden.*
In der II. Gewerbenovelle vom 8.3.1885 wurde Arbeit in Fabriken für Kinder unter 14 Jahren verboten, vor dem vollendeten zwölften Lebensjahr durften sie auch nicht zu regelmäßigen gewerblichen Beschäftigungen verwendet werden. Zwischen vollendetem 12. und dem vollendeten 14. Lebensjahr durften Jugendliche und Hilfsarbeiter auch zu regelmäßigen gewerblichen Beschäftigungen verwendet werden, wenn die Arbeit nicht für ihre Gesundheit nachteilig wäre, die körperliche Entwicklung hindert und sie die Schulpflicht erfüllen konnten.* Bereits 1884 wurden Verordnungen gegen Verwendung von Kindern vor dem vollendeten 14. Lebensjahr bei Regiebauten der Eisenbauten und beim Bergbau erlassen.* Doch konnten diese Bestimmungen mittels Ausnahmegenehmigungen umgangen werden, wie etwa Adelheid Popp, eine der Wegbereiterinnen der sozialdemokratischen Frauenbewegung und Politikerin, es in ihrem Bericht über die Kinderarbeit in Österreich in der deutschen Zeitschrift „Die Neue Zeit“ im Zusammenhang 422 mit der Schulpflicht kritisierte. „Das Reichsvolkschulgesetz schreibt die achtjährige Schulpflicht vor, aber einer ganzen Reihe von Ländern ist das Recht eingeräumt, im eigenen Wirkungskreis die Schulpflicht auf sechs Jahre herabzusetzen.“
* Zudem zeigte sich, so Adelheid Popp, die in ihren „Jugenderinnerungen einer Arbeiterin“*ihre schwere Kindheit beschrieben hat, „daß die Paragraphen, die in der Gewerbeordnung 1885 schwarz auf weiß gedruckt sich, eben nur Papier und Druckerschwärze sind“
.*
Der Hauptgrund für Kinderarbeit lag nicht nur in der Not der Familien, die auf das Zubrot von Kindern für sich und die Familie angewiesen waren, sondern wurde von den Befürworter:innen der Kinderarbeit, von Grundbesitzern, im Handwerk, in industriellen Betrieben oder der Heimarbeit als wirtschaftliche Existenzfrage betrachtet.* So etwa schreibt der Wirtschaftswissenschafter Ludwig von Mises über die Ursachen der Kinderarbeit: „Der österreichische Staat des 18. Jahrhunderts ist Freund und Förderer der gewerblichen Kinderarbeit. Das Ziel seiner Wirtschaftspolitik ist die Schaffung einer mächtigen Großindustrie, und es gilt ihm als anerkannte Wahrheit, daß diese sich nur durch Heranziehung der billigen Arbeitskraft der Frauen, Kinder und Greise entfalten könne.“
*
Die hier in aller Kürze angeführten Maßnahmen stellten Kinderarbeit als solche nicht infrage, sondern es ging hauptsächlich darum, wie Josef Weidenholzer aufgezeigt hat, die negativen Folgen der Fabriksarbeit, die langfristig zur Dezimierung der Wehrtüchtigen führte, zu reduzieren.* Die ersten Keime der Arbeiterschutzgesetzgebung wurden ihm zufolge durch die „Bedürfnisse des Militärstaates unterstützt. ... Der erste gesetzliche Arbeiterschutz war in allen Ländern ein Kinderschutz“
.* Oft wurde auch argumentiert, dass die Kinder durch ihren Arbeitseinsatz beaufsichtigt wurden und somit nicht in den Tag hinein leben würden, wodurch lediglich ein „neuer Grund zu ihrer physischen und moralischen Verderbnis“
* oder der Keim einer Rebellion gelegt werden würde.* Von anderen wieder wurde behauptet, dass die Arbeiter:innen und Eltern selbst an der Tragödie der Kinderarbeit schuld seien, weil sie ihre Kinder als Helfer:innen einsetzen würden.* Eine Sichtweise, auf die Jahre später auch der Staatssekretär für soziale Fürsorge (bzw soziale Verwaltung), Ferdinand Hanusch, einging, in dem er meinte, dass die Kinder mittels des Kinderschutzgesetzes vom Dezember 1918 auch vor den Eltern geschützt werden können, die ihre Kinder, vor allem in der Leiharbeit und in der Landwirtschaft, als billige Arbeitskräfte zum Einsatz brachten.*
„Arbeitende Kinder hätte es wohl immer gegeben“
,* schrieb Adelheid Popp, zu deren politischen Hauptanliegen auch die Bekämpfung der Kinderarbeit gehörte und die sie am eigenen Leib zu spüren bekam. Erste Untersuchungen über den Umfang der Kinderarbeit wurden um 1900 vom Zentralverein der Wiener Lehrerschaft unter dem Lehrer Sigmund Kraus in einigen hundert Volksschulen durchgeführt. Die Untersuchungen zeigten auch deutlich, dass Kinderarbeit, wie bereits bekannt, nicht nur im häuslichen Bereich und in der Landwirtschaft gang und gäbe war, sondern in vielen anderen Bereichen. Es wurde auch ersichtlich, dass die Zahl jener Kinder, die zu Kinderarbeit herangezogen wurden, wesentlich höher war, als etwa in den Berichten der Gewerbeinspektoren angegeben wurde.*
Am 20.3.1903 wurde im Deutschen Reich das Kinderschutzgesetz beschlossen, es sollte dem österreichischen Gesetz als Vorbild dienen.* In Österreich wurde am 9.12.1903 von dem bürgerlichen Demokraten Dr. Julius Ofner,* unter Hinweis auf die Erhebungen des Zentralvereines der Wiener Lehrer, ein Gesetzesentwurf über die Regelung der Kinderarbeit im Abgeordnetenhaus eingebracht. Demzufolge sollten alle Kinder, die das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, sowohl in landwirtschaftlichen als auch in gewerblichen Betrieben besonders geschützt werden.* Der Antrag wurde auch von den sozialdemokratischen Abgeordneten unterstützt, fand aber dennoch im Reichsrat nicht die nötige Unterstützung. Er wurde in den folgenden Sessionen immer wieder neu eingebracht. Einziger Erfolg war die Veranlassung einer Enquete über Kinderarbeit, die am 31.7.1907 stattfand. Weitere Überarbeitungen des Gesetzesentwurfs 423 brachten vor allem Änderungen für die Landwirtschaft. *
1907/08 führte das Arbeitsstatistische Amt staatliche Erhebungen über Kinderarbeit durch. Die Ergebnisse wurden 1912 von der Regierung veröffentlicht. *Walter Schiff (1866-1950), Leiter des arbeitsstatistischen Amtes, verfasste dazu eine kurze Zusammenfassung.* Die Untersuchung unter Schulkindern widmete sich verschiedensten Formen der Kinderarbeit: in Haushalt, bei der Heimarbeit, Landwirtschaft, Industrie, Gast- und Schankgewerbe, Handel und Verkehr und sonstigen Beschäftigungen. Weiters wurde das Alter bei Arbeitsbeginn erhoben, ob die Arbeit bei den Eltern, bei nahen Verwandten oder bei Fremden geleistet wurde. Gefragt wurde auch nach der Dauer der Arbeit nach Jahreszeiten, Wochen im Jahr, Tagen in der Woche, Stunden pro Tag, das Ausmaß der Nachtarbeit, die Summe der Schul- und Arbeitsstunden, die Entlohnungsform. Auch wurden Aufzeichnungen zum Einfluss der Kinderarbeit auf die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung gemacht.*
Die Untersuchung zeigte, dass im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts 34,8 %, also mehr als ein Drittel aller Schulkinder, zu Kinderarbeit herangezogen wurden, Burschen häufiger als Mädchen. Ausschlaggebend war, ob die Mutter bzw die Eltern des Kindes noch lebte(n), ob die Kinder ehelich waren oder nicht oder ob sie Pflegekinder waren, denn diese Kinder hatten es besonders schwer.* Im landwirtschaftlichen Bereich gab es Kinder, die zur Hopfenernte oder Rübenernte nach Böhmen, Mähren, in die Steiermark oder andere nach Deutschland, Dänemark, Rumänien, Russland oder Schweden wandern mussten. In der Literatur bekannt geworden sind die sogenannten „Schwabenkinder“, die aus Tirol oder Vorarlberg auf deutschen „Kindermärkten“ gehandelt wurden oder die Tessiner Kaminfegerkinder.* Auch zeigte sich, dass zwei Fünftel der Kinder seit ihrem fünften, sechsten oder einem noch früheren Lebensjahr zu Arbeiten herangezogen wurden. Bei 22,6 % der Kinder war der Gesundheitszustand nicht befriedigend. Leichte Arbeit, dazu zählte etwa ein bis zwei Stunden landwirtschaftliche oder häusliche Arbeit, wurde als nicht gesundheitsschädlich betrachtet, zu schwerer Kinderarbeit zählte Nachtarbeit.*
Auf dem I. Kinderschutzkongress 1907 standen die Themen Kinderschutz, Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht auf der Agenda.* Im Zuge des Kongresses wurde die „Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge“ gegründet, dessen Agenden vom damaligen Ministerialsekretär, Max Lederer (1874-1942), geleitet wurden. Er hat in den 1920er-Jahren eines der Standardwerke des österreichischen SoSozialrechtes verfasst.* Der II. Kinderschutzkongress 1913, an dem ua Delegierte aus zahlreichen Ministerien, Justiz- und Schulbehörden, Gemeindevertretungen und auch von Gewerkschaften teilnahmen, war das Hauptthema die Kinderarbeit und die Diskussion über den Schutz arbeitender Kinder.* Hier wurden auch wieder die Ergebnisse der 1908 durchgeführten und 1912 veröffentlichten Untersuchung diskutiert. Die Positionen von Befürworter:innen und Gegner:innen der Kinderarbeit konnten unterschiedlicher nicht sein. Ein ranghoher Vertreter der katholischen Kirche etwa prangerte weniger die Arbeitsbedingungen der Kinder an, sondern fürchtete vielmehr, dass „ohne Religion vielfach nur Vagabunden entstehen würden“.* Oft war auch von der „Verschleppung des Gesetzes“ die Rede, von der vor allem Agrarier und Industrielle profitieren würden. An ein generelles Verbot der Kinderarbeit allerdings sei aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gar nicht zu denken, gab auch Dr. Michael Hainisch, Bundespräsident in der Ersten Republik, der auf dem II. Kinderschutzkongress als Referent auftrat, zu bedenken. Er forderte aber die Einführung eines Mindestalters für Arbeiten in der Landwirtschaft, ein Arbeitspensum an Schultagen bis zu drei Stunden, an schulfreien bis zu vier Stunden. Kinder sollten durch die Arbeit nicht von der Schulpflicht abgehalten werden dürfen. Gefährliche und schwere Arbeiten sollten verboten werden. Auch sollte der Staat Eltern, die durch die Beschränkung oder dem Verbot der Kinderarbeit finanzielle Einbußen erleiden würden, staatliche Unterstützung gewähren. Vertreter der Arbeiter:innenbewegung auf dem Kinderschutzkongress waren Julius Deutsch, Otto Glöckel und Johann Smitka, die die Kinderarbeit als „Kulturschande“ betrachteten, „die einem das Blut in den Adern erstarren ließ“
.*37)
Wohnungsnot, mangelnde Ernährung und medizinische Versorgung zählten ebenso zur Lebensrealität 424 der Kinder und Jugendlichen, wie etwa deren besondere Anfälligkeit für Berufskrankheiten. Mit diesen kamen sie entweder durch ihre Eltern oder durch ihre eigene Tätigkeit in gesundheitsgefährdenden Arbeitsstätten, sei es in einer Fabrik, einem Gewerbetrieb, in der Heimarbeit, der Hausindustrie oder in der Landwirtschaft in Berührung.* Die Befürworter:innen der Kinderarbeit meinten hingegen, die Krankheiten der „Fabrikskinder“ würden „weit weniger in den Fabriksverrichtungen der jungen Leute, als gerade in ihrem Thun und Treiben während der Erholungsphase“
verursacht.*
Die häufigsten Erkrankungen waren im Bereich der Metallindustrie, der chemischen Industrie in der Gas-, Stein- und Bauindustrie, der Kohlenund Quecksilbergewinnung, in der Textil- und Wäscheerzeugung und anderen Industrie- und Gewerbezweigen. Besonders häufig waren Bleivergiftungen, die in der Heimarbeit, etwa bei den Fransenknüpferinnen, zu Lähmungen und Versteifungen der Fingerknochen und Nervenschädigungen führten. Bleivergiftungen bei Kindern und Säuglingen kamen auch in der Edelsteinschleiferei, bei der Erzeugung von Blechinstrumenten, bei den Feilenhauern und bei der Spielwarenerzeugung und Kindern von Töpfer- und Hafnerfamilien vor. In der Seidenindustrie waren Kinder, vor allem Mädchen, besonders von der Bleichsucht und Verdauungsstörungen betroffen. Besonders gefährlich war der sogenannte „Perlmutterstaub“, der beim Schleifen und Drechseln von Perlen entstand und Entzündungen des Knochenmarks hervorrufen konnte und der Umgang mit weißem Phosphor bei der Erzeugung von Zündhölzchen.*
An Infektionen, wie etwa die Milzbrandinfektion und der Wundstarrkrampf, die durch die schlechte Ernährungsgewohnheiten und Übermüdung begünstigt wurden, konnten Kinder bei der Bearbeitung von Fleisch, tierischen Häuten, Borsten oder in der Landwirtschaft erkranken. Besonders viele Kinder unter sechs Jahren arbeiteten in der Haarindustrie, wo sie sich vor allem Augenkrankheiten zuzogen. Über Kinder, die in der Heimarbeit mit dem „Haarnetzen“ beschäftigt waren, wird berichtet: „Die Kinder sitzen in der Winterszeit bei elender Beleuchtung bis 10 und 11 Uhr nachts in kleinen, mit Dünsten erfüllten Stuben. Kaum aufgestanden, netzen sie schon wieder, so daß diese Arbeit die ganze Zeit während des Winters einnimmt.“
* Andere berichteten: „Die Kinder sitzen oft vom frühen Morgen (5 Uhr) bis in die späte Nacht (11 bis 12 Uhr) gebückt auf bei einer anstrengenden Arbeit. Wie verderblich das auf die Augen, die Entwicklung des Brustkorbes und andere Körperteile wirkt, läßt sich gar nicht beschreiben. So graben sie Tag und Nacht den ganzen Winter hindurch selbst ihr Grab.“
*
Häufig waren auch Betriebsunfälle in der Landwirtschaft durch das Hantieren mit Maschinen, Werkzeugen und Geräten sowie bei Forst- und Holzarbeiten im Wald.* Zu zahlreichen Unfällen kam es auch im Baugewerbe, beim Schotterschlagen und bei der Steinmetzgerei.* Um die Kinder wachzuhalten, gaben ihnen die Eltern Tee mit Rum, Schnaps oder schwarzen Kaffee mit Branntwein als Aufputschmittel.*
„Der Krieg hat mit seinen Begleiterscheinungen die Kinderarbeit noch vermehrt, vergrößert und gefährlicher gemacht, als sie es vordem war“
, hieß es in der AZ über die weitere Entwicklung der Kinderarbeit.* Im Verlauf des Ersten Weltkrieges wurden Kinder und Jugendliche, davon auch viele Waisenkinder, zu den verschiedensten Arbeiten oder Diensten herangezogen, sei es an der Front, selbst bei der Versorgung von Verwundeten oder in der Landwirtschaft.*
Gegen Ende des Krieges und mit der Gründung des Ministeriums für soziale Fürsorge wurde das Thema der Kinderarbeit wieder aufgegriffen und ein neuer Gesetzesentwurf vorbereitet. Meinungsverschiedenheiten bei der Vorbereitung gab es (wie schon 1907) vor allem bei dem Thema Kinderarbeit in der Landwirtschaft und bei der Verwendung von Kindern im Haushalt. Ein neuer Entwurf wurde am 25.7.1918 vom sozialpolitischen Ausschuss vorgelegt und am 19.12.1918 in der Provisorischen Nationalversammlung beschlossen.* Dem Gesetz zufolge durften Kinder nur dann zu Arbeiten herangezogen werden, wenn sie dadurch weder gesundheitlich noch körperlich oder geistig beeinträchtigt werden würden. Arbeit vor dem vollendeten zwölften Lebensjahr wurde verboten. Nur in der Landwirtschaft und im Haushalt dürften Kinder bereits nach dem zehnten Lebensjahr zu leichten Arbeiten verwendet werden (zB Bierholen, Auskehren der Wohnung). Nachtarbeit von Kindern wurde verboten.*425
Das Gesetz enthielt auch eine Liste der „verbotenen Betriebsstätten und Beschäftigungen“. Verboten wurde Kinderarbeit in Betriebsstätten, wie Brüchen, Gruben, Werkstätten, wo Blei, Zink, Kupfer und Quecksilber verarbeitet wurde. Weiters in Bäckereien, Fleischhauereien, chemischen Waschanstalten, Mühlen und Beschäftigungen, bei denen es zu Staub- oder Gasentwicklung kommen konnte, etwa bei den Rauchfangkehrern. Verboten wurde auch das Einsammeln von Hadern und Lumpen, das Steinklopfen, das Bedienen von Kraftmaschinen und Arbeit mit Motoren betriebenen Maschinen, sowie Dreschen, Mähen, Holzfällen und Holzhacken.*
Das neue Gesetz sei, so wurde von sozialdemokratischer Seite argumentiert, zwar ein Fortschritt, aber nur ein kleiner Schritt nach vorwärts.* Selbst Ferdinand Hanusch, Gewerkschafter und Initiator vieler sozialpolitischer Errungenschaften in den ersten beiden Jahren der Ersten Republik, betrachtete das Gesetz nur als Etappensieg. In der Debatte der provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich meinte er: „Ich bitte also nicht zu glauben, daß ich persönlich bei einem Kinderschutzgesetz nicht weiter gehen wollte, im Gegenteil, ich wäre sehr froh, wenn ich die Kinderarbeit überhaupt verbieten könnte. Aber ich habe das im gegenwärtigen Augenblick für unmöglich gehalten, weil die ganze Sache verschleppt worden wäre. ... Nur aus diesem Grunde habe ich das Gesetz unverändert angenommen.“
*
Mit dem Arbeiterkammergesetz 1920 (StGBl 1920/100) wurden auch Jugendschutzstellen zur Überwachung der Arbeitsbedingungen von Kindern und Jugendlichen eingerichtet.* Besondere Schutzbestimmungen für Jugendliche fanden sich auch in einer Reihe weiterer Gesetze, wie etwa dem Bäckereiarbeitergesetz (StGBl 1919/217), im Hausgehilfengesetz (StGBl 1920/101) und im Schauspielergesetz (BGBl 1922/441).* Auch brachten andere Gesetze, wie etwa das Acht-Stunden-Tag-Gesetz (Dezember 1919), die auch für Kinder und Jugendliche galten, Verbesserungen.*
Mit dem neuen Gesetz wurden auch „Arbeitskarten“ eingeführt. Eine Maßnahme, die auf den ersten Blick verwunderlich scheint, war doch eines der ersten Gesetze, die Abschaffung des Arbeitsbuches, doch wurden sie als Schutz- und Überwachungsinstrument betrachtet, nicht für die eigenen, sondern für Kinder aus anderen Familien, die für Arbeiten herangezogen wurden.* Sie waren auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg üblich.
Arbeit in Kinder- und Jugendjahren zählte auch in der ersten Republik zur Lebensrealität vieler Kinder,* wie auch in einem Artikel der Zeitschrift „Die Arbeiterin“ 1928 festgestellt wurde, wo es heißt, dass zehn Jahre nach Ausrufung der demokratischen Republik in Österreich das Kinderelend noch immer schlimmer sei als in vielen anderen kapitalistischen Ländern. „Viele Tausende schulpflichtiger Buben tragen vor der Schule Milch, Semmeln, Zeitungen usw. aus und arbeiten nachmittags in der Heimarbeit ihrer Eltern mit, die selbst entweder solche Schundlöhne bekommen, daß sie gezwungen sind, sie mit mühseliger Heimarbeit zu ergänzen, oder überhaupt arbeitslos und auf den Verdienst der Kinder angewiesen sind. Viele kleine schwache Hände lesen Nüsse aus, in der dumpfen Stube sitzend, nähen Knöpfe an, rennen sich die Füße wund beim Blumenverkaufen (am Ring, wo die vornehmen Leute promenieren, oft bis 10, 11 Uhr abends). Am flachen Lande hüten die 10 bis 12 Jahre alten Buben von 4 Uhr früh die Rinder, helfen den Boden bebauen und schuften und rackern 14 bis 18 Stunden im Tag – 10- bis 12-jährige Buben!!!“
*
1928 wurde das Gesetz von 1918 geändert.* Mittels dieses Gesetzes wurde die achtjährige Schulpflicht eingeführt, unabhängig davon, ob das Kind schon das 14. Lebensjahr vollendet hatte oder nicht. Ausnahmeregelungen – vor allem in der Landwirtschaft – konnten von Landesbehörden erlassen werden. In der Praxis hatte diese Gesetzesänderung nur geringe Auswirkungen, denn wer kennt nicht die Erzählungen der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern über ihre Erfahrungen in der Arbeitswelt. Auch in zahlreichen autobiografischen Texten wird vom Zeitungs- und Brotaustragen, vom Viehhüten, der Erntearbeit berichtet, während Mädchen für die Beaufsichtigung der Geschwister zuständig waren, wenn die Mutter bei der Arbeit war, oder wie so oft schon früh verstorben ist.* Auch die bereits zitierte Adelheid Popp prangerte im österreichischen Nationalrat an, dass es in Österreich noch immer Kinderarbeit gibt und in der Krisenzeit wohl im Steigen begriffen war.* Angemerkt sei, 426 dass es schon in der Ersten Republik aufgrund von Übereinkünften der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu einer Reihe von Vereinbarungen zu Regelungen über das Mindestalter von Kindern für gewerbliche Arbeiten, in der Landwirtschaft und einer Übereinkunft bezüglich der gewerblichen Nachtarbeit gab.*
1935 kam es zu einem neuen Gesetz über die Arbeit von Kindern und Jugendlichen, allerdings wieder mit Ausschluss der Kinderarbeit in der Land- und Forstwirtschaft.* Die Verwendung von Kindern in diesem Bereich sollte durch entsprechende Landesgesetze geregelt werden.* Am 1.1.1939 ist das NS-Gesetz über Kinderarbeit und die Arbeitszeit von Jugendlichen in Kraft getreten. * Es brachte die Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden und konnte, wenn erforderlich, auf 54 Stunden ausgedehnt werden. Die Dauer des Urlaubes wurde für Jugendliche bis 16 Jahre mit 15 Werktagen, über 16 mit 12 Werktagen festgesetzt. Auch konnte sich der Urlaubsanspruch ohne Rücksicht auf das Alter „bei der längeren Teilnahme an einem Lager oder einer Fahrt der Hitlerjugend erhöhen“
.* Zudem wurden Kinder und Jugendliche zunehmend in der Rüstungsindustrie und gegen Ende des Krieges auch junge Burschen für den Volkssturm eingesetzt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war ein neues Jugendschutzgesetz neben dem Betriebsrätegesetz, dem Kollektivvertragsgesetz und Sozialversicherungsgesetz eines der dringendsten demokratischen und sozialen Herausforderungen. Ein neues Bundesgesetz konnte nach heftigen Kontroversen am 1.7.1948 verabschiedet werden.* Es bestimmte, dass Kinder vor dem 14. Lebensjahr „zu Arbeiten irgendwelcher Art nicht herangezogen werden dürfen“ (ausgenommen waren weiterhin Kinder in der Land- und Forstwirtschaft).* Nicht unter das Verbot fielen auch Beschäftigungen zum Zweck des Unterrichts oder der Erziehung und die Heranziehung von Kindern zu vereinzelten Dienstleistungen sowie die Beschäftigung von eigenen Kindern mit geringfügigen leichteren Arbeiten im Haushalt. Weitere Ausnahmen von diesen konnten von den Landesregierungen für Musikaufführungen, Theatervorstellungen und sonstigen Aufführungen sowie bei Filmaufnahmen unter bestimmten Voraussetzungen bewilligt werden.*
Das Gesetz erfuhr in der Zweiten Republik zahlreiche Ergänzungen und Veränderungen, von denen nur einige wenige angeführt seien: mit dem Bundesgesetz über die Beschäftigung der Kinder und Jugendlichen des Jahres 1962 wurden Ausnahmen für den familiären Bereich definiert und Vorsorgeuntersuchungen für Kinder (gemeint sind unter Zwölfjährige) und Jugendliche eingeführt. * Weitere wichtige Schritte iSd Kinder- und Jugendschutzes waren das Jugendeinstellungsgesetz* und die Einführung des Jugendvertrauensrätegesetzes. * 1987 wurde das Bundesgesetz über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen (KJBG) wieder verlautbart.* 1988 gab es nach Angaben des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Dr. Walter Geppert, 3.294 Übertretungen des KJBG und acht Fälle des Verbotes der Kinderarbeit (dies in den Bereichen des Beherbergungs- und Gaststättenwesens, im Handel und in Lagern).*
Der Blick auf die jüngste Entwicklung in Österreich zeigt, dass es nach wie vor Kinderarbeit, auf dem Weg von Ausnahmebestimmungen, aber auch in neuen Formen gibt. Etwa den sogenannten „Young Carers“, ein Phänomen, das nicht nur in Österreich, sondern europaweit auftritt.* Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die regelmäßig ein Familienmitglied mit Pflegebedarf und/oder Behinderung pflegen und betreuen. Nach den Angaben des Sozialministeriums gibt es in Österreich rund 43.000 Young Carers mit einem Durchschnittsalter von zwölf Jahren, die meisten von ihnen sind Mädchen.*427
Am 20.1.2011 wurde das Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern beschlossen, in Art 3 wurde festgelegt, dass Kinderarbeit in Österreich verboten ist (Ausnahmen gibt es weiterhin im Gastgewerbe und im Film- und Fernsehbereich).* Einem Bericht des ÖGB zufolge ließ die Covid-Pandemie die Kinderarbeit auf internationaler Ebene auch wieder steigen. Nach Angaben der UNO müssen derzeit rund 152 Mio Kinder arbeiten, 73 Mio von ihnen unter schlimmsten, sklavenähnlichen Bedingungen, als Kindersoldaten, in Bergwerken oder in der Prostitution.*
Zuletzt sei angeführt, dass die Entwicklung des österreichischen Kinder- und Jugendschutzes durch die internationale Sozialpolitik sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten Republik durch ILO-Übereinkommen und Empfehlungen wesentliche Impulse erhielt. So etwa die von Österreich unterzeichnete Sozialcharta (BGBl 1969/460), worin das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz als soziales Grundrecht normiert wird.* 1973 verabschiedete die ILO das „Übereinkommen über das Mindestalter für die Zulassung von Beschäftigung“.* Wohl aber arbeiten nach wie vor Kinder und Jugendliche sowohl in Europa als auch in vielen anderen Ländern der Welt. Schritte zur Abschaffung von Kinderarbeit wären die Durchsetzung von besseren Arbeitsbedingungen, fairen Löhnen und bessere Sozialleistungen, sowohl für die Eltern als auch für die Kinder und Jugendlichen und die Armutsbekämpfung in allen angesprochenen Ländern. Ein weiterer Beitrag kann durch die Kontrolle der Lieferketten in allen Produktionsstätten und die Förderung von Fairtrade-Produkten und dessen bewusstem Konsum sein. Laut ILO soll das Verbot der Kinderarbeit bis 2025 erreicht werden. Multinationale Konzerne und die Politik sind dafür ebenso gefordert, wie jede/r einzelne, der/die durch den Kauf von Fairtrade-Produkten und den Verzicht auf Billigprodukte aus dem Textilbereich zumindest einen kleinen Beitrag leisten kann.*428