HiltlAutonomiekollisionen in multidiversifizierter Gesellschaft – Arbeitsrechtliche Abwägungen bei Ethosgemeinschaften
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2022, 458 Seiten, € 99,90
HiltlAutonomiekollisionen in multidiversifizierter Gesellschaft – Arbeitsrechtliche Abwägungen bei Ethosgemeinschaften
Gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften kommt ein weitreichendes Selbstbestimmungsrecht zu, welches auch die zu diesen Körperschaften bestehenden Arbeitsverhältnisse beeinflusst. Das kann wiederum Spannungen im Verhältnis zum (staatlichen) Arbeitsrecht hervorrufen. An diesem Spannungsverhältnis setzt die Dissertation Oliver Hiltls an.
Das erste, dem Individualarbeitsrecht gewidmete Kapitel untersucht die Auswirkungen des Antidiskriminierungsrechts auf kirchliche Arbeitsverhältnisse. Im kollektiven Arbeitsrecht unterscheidet der Autor sodann zwischen dem Spannungsverhältnis von Kirchenautonomie und Streikrecht einerseits (Kapitel 2) und dem Kollektivarbeitsvertrag als Rechtsregelungsrecht andererseits (Kapitel 3). Kapitel 4 behandelt darauf aufbauend die Entwicklung der Stellung der Kirche. Da für die österreichische Rechtsordnung aufgrund der gemeinsamen unionsrechtlichen Vorgaben insb die Überlegungen zu den Diskriminierungsverboten relevant erscheinen, fokussiert sich die Rezension hierauf sowie auf die einschlägigen Teile des 4. Kapitels.
Ihren Ausgang nehmen die Überlegungen zum Individualarbeitsrecht beim Fall eines wegen Wiederverheiratung gekündigten Chefarztes, der sowohl BAG und BVerfG als auch den EuGH (11.9.2018, C-68/17, IR) befasst hat. An die ausführliche Darstellung des Prozessverlaufs und der Entscheidungen der beteiligten Gerichte (S 34 ff) schließt eine kritische Untersuchung (S 51 ff) an. Dabei wird schnell klar, dass der Autor die bisherige Linie des BVerfG, das den Kirchen weitreichende Autonomie zugestanden hatte, der Ansicht des EuGH vorzieht, der die Kirchen einer effektiven Kontrolle unterwirft. Der Autor spart dabei nicht mit Kritik am EuGH, die in der Sache teilweise durchaus berechtigt sein mag. Allerdings vermag sie methodisch nicht immer zu überzeugen: So führt der Autor aus, die Frage der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechtecharta (GRC) könne „am Rande dahinstehen“ und erörtert diese folglich rechtsdogmatisch kaum. Im folgenden Absatz kommt er dennoch zu dem Schluss, der EuGH verstoße in dieser Frage „gegen europarechtliche Festlegungen“
(S 104). Auch an anderen Stellen wird nicht immer klar, welche methodischen Fehler dem EuGH in concreto vorgeworfen werden.
An mehreren Stellen (S 97 f, 105, 288) wird angedeutet, die E des EuGH könnte ultra vires
erfolgt und damit für deutsche Gerichte unverbindlich sein, ohne dass dieser Vorwurf näher ausgeführt wird. Angesichts der Schwere dieses Vorwurfs und der damit verbundenen praktischen Folgen (siehe nur BVerfG 5.5.2020, 2 BvR 859/15) würde man hier fundierte Argumente erwarten. Auch andere Fragen werden zwar eröffnet, bleiben letztlich aber unbeantwortet – zB die Frage, ob ein katholischer AN von einer katholischen Einrichtung überhaupt aufgrund seiner Religion benachteiligt werden kann (S 85 f; siehe auch S 90).
Inhaltlich folgt der Autor dem BVerfG, das bei Konflikten betreffend Loyalitätsobliegenheiten eine zweistufige Prüfung vornimmt: Zunächst seien – vereinfacht ausgedrückt – die Interessen der Kirche entsprechend dem kirchlichen Selbstverständnis festzustellen. Daran schließe eine „Gesamtabwägung zwischen einerseits der Kirchenautonomie unter dem Aspekt der Schranken des ‚für alle geltenden Gesetzes‘ und andererseits den Interessen und Rechten der Arbeitnehmerseite“
(S 52 f) an. Die Interessen und Grundrechte der AN fänden damit einen „gebührenden Platz im Rahmen der offenen Gesamtabwägung“
(S 53 f). Dem könnte tatsächlich so sein, wenn in der Folge die als Schranken in Betracht kommenden für alle geltenden Gesetze nicht systematisch so interpretiert würden, dass den Interessen der Kirche Vorrang vor den Interessen der AN zukommt: Der Berufsfreiheit (Art 12 Abs 1 GG) werde durch den Kündigungsschutz (§ 1 KSchG) Genüge getan. Bei seiner 434 Anwendung sei jedoch die Autonomie der Kirche zu berücksichtigen, die ihn im Zusammenhang mit den hier interessierenden Loyalitätsobliegenheiten weitgehend aushebelt (S 64 ff). Ähnlich wird mit dem Schutz der Ehe (Art 6 Abs 1 GG) verfahren (S 70 ff). Eine tatsächliche Abwägung findet nicht statt, schon gar keine „offene Gesamtabwägung“ – das entspricht aber einer in Deutschland weit verbreiteten Ansicht. Bemerkenswert sind jedoch die Ausführungen zur EMRK, die die Interessen der Kirche (Art 9 EMRK) sowie die Interessen der AN (insb Art 8 EMRK) schützt: Der gut zwei Seiten umfassende Abschnitt hierzu (S 81 ff) fußt ganz überwiegend auf der Rsp des BVerfG und einer einzigen Meinung im Schrifttum. Eine Auseinandersetzung mit der Rsp der Europäischen Kommission für Menschenrechte und des EGMR (zB mit den Rs Rommelfanger, Schüth und Obst) bzw der Literatur hierzu findet nicht statt.
Positiv hervorzuheben ist, dass sich der Autor bemüht, Lösungsvorschläge zu erarbeiten – etwa die Schärfung des Profils bestimmter Tätigkeiten (S 266 ff). Teils scheinen die Ansätze aber nicht zu Ende gedacht: Der gekündigte Chefarzt hätte aus der Kirche austreten können, was zwar als Kündigungsgrund zu qualifizieren gewesen wäre. Er hätte sich dann aber unter Umständen neu bewerben und arbeitsrechtlich als nicht einer Religionsgemeinschaft Angehöriger eingestuft werden können, wodurch für ihn weniger strenge Regeln gegolten hätten. Im folgenden Absatz führt der Autor aus, der AG habe den Chefarzt „ursprünglich jedenfalls wohl gerade wegen der Zugehörigkeit zur selben Religionsgemeinschaft leitend angestellt“
, offenbar ohne darin einen Widerspruch zu erkennen (S 90 f). Auch der zumindest angedeutete Vorschlag, die Loyalitätsobliegenheiten dadurch zu retten, für die betreffenden Positionen nur noch Christen einzustellen und diesen gegenüber dann einheitliche Loyalitätsobliegenheiten vorzusehen (S 99; siehe auch S 94), wäre angesichts der E des EuGH in der Rs Egenberger (11.4.2018, C-414/16) kritisch zu hinterfragen gewesen. Dass sich die eigentliche Tragweite der RL 2000/78/EG erst aus der Kombination der beiden Entscheidungen ergibt, deutet Hiltl zwar an (zB S 91, 107), führt diesen Aspekt jedoch nicht konsequent zu Ende.
Letztlich berücksichtigt die Arbeit nicht ausreichend, dass es mit der Gleichbehandlungsrahmen-RL einen unionsrechtlichen Rechtsakt gibt, der – unmittelbar anwendbar oder nicht – über der deutschen Rechtsordnung steht und für deren Auslegung allein der EuGH zuständig ist. Das bedeutet freilich nicht, dass nationalen Besonderheiten keinerlei Bedeutung mehr zukommt, primär sind aber die unionsrechtlichen Anforderungen zu prüfen. Nur dort, wo diese einen Beurteilungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber eröffnen, kann es auf nationale Vorstellungen und Garantien ankommen. Die Abwägung zwischen der korporativen Religionsfreiheit und dem primär individuell geprägten Antidiskriminierungsrecht (vgl Rebhahn/Windisch-Graetz in Windisch-Graetz, GlBG2 § 8 Rz 8) fällt durchwegs zugunsten der Religionsfreiheit aus, ohne dass dies dogmatisch überzeugend begründet wird. Die Arbeit bietet aber jedenfalls einen spannenden und lehrreichen Einblick in die deutsche Rsp und Literatur. Vor allem ist aber der Blick aus der Perspektive der Kirche auf diese meist nur rechtswissenschaftlich behandelte Problematik besonders interessant.