47Invaliditätspension: Zumutbarkeit der Nutzung eines privaten Fahrzeugs
Invaliditätspension: Zumutbarkeit der Nutzung eines privaten Fahrzeugs
Versicherte werden wegen einer Gehbehinderung solange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als sie ohne wesentliche Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen (und die dazu erforderlichen Arbeitswege zurücklegen) können.
Ist der Wohnort der Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel kaum oder nur schlecht erschlossen, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz oder zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, ist auch zu berücksichtigen, ob die Versicherten die Wege zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte, gegebenenfalls zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen können.
Von Versicherten ist grundsätzlich zu verlangen, dass sie – sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen – durch entsprechende Wahl ihres Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für AN im Allgemeinen gegeben sind.
[1] Revisionsgegenständlich ist die Frage, ob die Kl, die noch eine einzige Verweisungstätigkeit ausüben kann und entsprechende Arbeitsplätze von ihrem (entlegenen) Wohnort mangels Existenz eines behindertengerechten öffentlichen Verkehrsmittels nicht erreichen kann, als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen ist.
[2] Die * 1967 geborene Kl war bis Jänner 2019 als Reinigungskraft tätig. Seit Februar 2020 ist sie arbeitslos. Sie hat insgesamt 52 Beitragsmonate überwiegend als Reinigungskraft erworben.
[3] [...] Mit der verbliebenen Leistungsfähigkeit kann die Kl nur noch einer Teilzeitbeschäftigung als Telefonistin im Ausmaß von 25 Stunden pro Woche und fünf Stunden täglich nachgehen. Ein öffentliches Verkehrsmittel kann benützt werden. Mit dem Rollstuhl kann ein Arbeitsweg von 500 m zurückgelegt werden. Ein Tages- oder Wochenpendeln, nicht aber eine Wohnsitzverlegung, sind möglich.
[...]
[5] Am bundesweiten Arbeitsmarkt existieren ausreichend Arbeitsplätze als Telefonistin, die mit dem Leistungskalkül der Kl vereinbar sind. Die Kl lebt in einer typischen Pendlergemeinde. Ausgehend vom Wohnort der Kl existiert kein Arbeitsmarkt von zumindest 30, auch nicht 15 Arbeitsstellen, die nicht kalkülsüberschreitend sind, und auch kein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel, das den Arbeitsweg zu einer Arbeitsstelle ermöglichen könnte.
[6] Die Kl besitzt den Führerschein, verfügt aber nicht über ein eigenes behindertengerechtes Fahrzeug. Mit einem eigenen Fahrzeug könnte die Kl große Teile des oberösterreichischen Zentralraumes erreichen. Es existieren in dieser Region jedenfalls zumindest 30 Arbeitsplätze als Telefonistin, die mit ihrem Leistungskalkül vereinbar sind. Die Kl kann bei Aufnahme dieser Verweisungstätigkeit jedenfalls mehr als die Hälfte des Einkommens einer gesunden Person erzielen.
[7] Mit Bescheid [...] lehnte die Bekl den Antrag der Kl [...] auf Gewährung einer Invaliditätspension ab.
[...]
[10] Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab.
[...]
[11] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge. [...]
[12] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Kl mit dem Antrag auf Abänderung im zur Gänze klagsabweisenden Sinn; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[...]
[14] Die Revision ist zulässig und iSd hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[15] 1. Die Revision thematisiert ausschließlich die Frage, ob die Kl als invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG anzusehen ist, sodass nur diese Frage zu prüfen ist.
[16] 2.1. Grundsätzlich kommt es nach der Rsp für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit nicht auf die Verhältnisse am Wohnort der versicherten Person an, sondern auf die Verhältnisse am allgemeinen Arbeitsmarkt, weil die versicherte Person sonst durch die Wahl des Wohnorts die Voraussetzungen für die Gewährung der Pension beeinflussen könnte (10 ObS 107/22s; 10 ObS 47/18m SSV-NF 32/40). Auch die Lage des Wohnorts des Versicherten hat daher als persönlicher Moment bei der Beurteilung der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (RS0085017; RS0084871).
[17] 2.2. Dahinter steht die Überlegung, dass von einem Versicherten grundsätzlich zu verlangen ist, dass er – sofern nicht medizinische Gründe dem entgegenstehen – durch entsprechende Wahl seines Wohnorts, allenfalls Wochenpendeln, die Bedingungen für die Erreichung des Arbeitsplatzes herstellt, die für AN im Allgemeinen gegeben sind (RS0084939; RS0085017 [T7]; RS0084871 [T4]).
[18] 2.2.1. Da eine Wohnsitzverlegung für die Kl nach dem festgestellten Sachverhalt aus medizinischen Gründen ausgeschlossen ist, kann eine solche von ihr jedenfalls nicht verlangt werden. Es stellt sich aber die Frage, ob von der Kl, der grundsätzlich die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel möglich ist, gefordert werden kann, die Erreichbarkeit verfügbarer Arbeitsplätze durch Wochenpendeln herzustellen, obwohl ausgehend von ihrem konkreten Wohnort ein behindertengerechtes öffentliches Verkehrsmittel nicht existiert.
[19] 2.2.2. Zwar wird ein Versicherter wegen einer Gehbehinderung solange nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, als er ohne wesentliche 408 Einschränkung ein öffentliches Verkehrsmittel benützen (und die dazu erforderlichen Arbeitswege zurücklegen) kann (RS0085049; zur insofern ausreichenden Vorsorge für Behinderte vgl 10 ObS 301/88 SSV-NF 3/10). Dies ist nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen (Pkt 2.1.) abstrakt und somit unabhängig vom konkreten Wohnort (oder von konkret verfügbaren öffentlichen Verkehrsmitteln) zu prüfen.
[20] 2.2.3. Dies schließt jedoch im Einzelfall nicht aus, dass eine Wohnsitzverlegung oder ein Wochenpendeln aus individuellen Umständen nicht zumutbar sein können (vgl 10 ObS 107/22s; 10 ObS 168/13y SSV-NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSVNF 24/41 zur Berücksichtigung des erzielbaren Entgelts bei Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze). Insoweit kommt es auf die Besonderheiten des Einzelfalls an.
[21] 2.2.4. Dieses Zumutbarkeitskriterium findet sich in § 255 Abs 3 ASVG [...]. Die – von der rein abstrakten Prüfung abweichende – Zumutbarkeitsprüfung im Einzelfall stellt ein Korrektiv dar, das in Ausnahmefällen (vgl RS0084991) eine Berücksichtigung verschiedener vom gesundheitlichen Befinden unabhängiger Umstände erlaubt und einen unzumutbaren Einkommensverlust verhindern soll (10 ObS 107/22s; 10 ObS 128/20a; 10 ObS 168/13y SSV-NF 27/81; 10 ObS 72/10a SSV-NF 24/41).
[22] 2.3. Die dargestellte Zumutbarkeitsprüfung ergibt im vorliegenden Fall, dass der Kl ein Wochenpendeln nicht zuzumuten ist. [...]
[23] 2.4. Der vorliegende Fall ist daher jenen gleichzuhalten, in denen Wohnsitzverlegung und Wochenpendeln gleichermaßen unmöglich sind. Dann ist auf eine entsprechende Zahl von im Umkreis der möglichen Gehstrecke – allenfalls erweitert um benützbare Massenverkehrsmittel – erreichbaren adäquaten Arbeitsplätzen abzustellen (vgl RS0084994). [...]
[24] 3. Die Rechtssache ist allerdings nicht iS einer Stattgebung der Klage spruchreif, weil sich dem festgestellten Sachverhalt nicht die dafür erforderlichen Tatsachen entnehmen lassen.
[25] 3.1.1. Grundsätzlich ist ein Versicherter, der nicht in der Lage ist, ein öffentliches Verkehrsmittel zu benützen, nicht verpflichtet, den Weg zum Arbeitsplatz mit dem eigenen Kraftfahrzeug zurückzulegen (RS0085083). Ist hingegen der Wohnort des Versicherten abgelegen und daher durch öffentliche Verkehrsmittel kaum oder nur schlecht erschlossen, sodass die Wege zum und vom Arbeitsplatz bzw zum und vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt werden, ist auch zu berücksichtigen, ob der Versicherte die Wege zwischen seiner Wohnung und der Arbeitsstätte, gegebenenfalls zur Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels, in zumutbarer Weise mit einem privaten Fahrzeug zurücklegen kann (RS0085083 [T1]; RS0084907).
[26] 3.1.2. Die Kl lebt nach dem festgestellten Sachverhalt in einer typischen Pendlergemeinde. Die Wege zum oder vom Arbeitsplatz bzw zum oder vom nächsten öffentlichen Verkehrsmittel werden somit üblicherweise mit dem privaten Fahrzeug zurückgelegt, weswegen die Kl verpflichtet ist, ein ihr zur Verfügung stehendes Kraftfahrzeug zu benützen, um adäquate Arbeitsplätze zu erreichen.
[27] 3.1.3. Die Kl stützte sich bereits in erster Instanz darauf, dass sie nicht über ein eigenes Fahrzeug verfüge und ihr auch kein Fahrzeug zur Nutzung zur Verfügung stehe, sowie darauf, dass ihr die Anschaffung eines solchen auch nicht zumutbar sei (ON 26 Seite 2 [Punkte 1. und 2.]).
[...] Den getroffenen Feststellungen ist [...] nur zu entnehmen, dass die Kl nicht über ein eigenes behindertengerechtes Fahrzeug verfügt, sodass die Frage, ob sie zur Erreichung adäquater Arbeitsplätze ein (etwa im Familienverband vorhandenes und ihr tatsächlich überlassenes) Fahrzeug nutzen könnte, daraus nicht abschließend beantwortet werden kann.
[28] 3.1.4. Es liegt daher ein sekundärer Feststellungsmangel vor, der [...] von Amts wegen aufgegriffen werden muss (RS0043304 [T4]).
[...]
[30] 4.1. Der Kl ist eine Verlegung des Wohnsitzes nicht möglich und von ihr ist auch ein Wochenpendeln nicht zu verlangen. [...] Zur abschließenden Prüfung der Invalidität iSd § 255 Abs 3 ASVG sind allerdings noch Feststellungen zur Frage der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen mit einem privaten Kraftfahrzeug erforderlich, was zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und Zurückverweisung der Sozialrechtssache an das Erstgericht zwingt.
[31] 4.2. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zu prüfen und Feststellungen darüber zu treffen haben, ob der Kl, der Tagespendeln an sich medizinisch möglich wäre, für die an jedem Arbeitstag zurückzulegenden Strecken ein ihren gesundheitlichen Einschränkungen entsprechendes (wenn auch nicht eigenes) Kraftfahrzeug tatsächlich zur Verfügung steht (s 10 ObS 145/14t SSV-NF 28/77 [Pkt 2.6]; 10 ObS 121/09f SSV-NF 23/62).
[...]
In der Entscheidung geht es um den Anspruch auf Invaliditätspension (§ 255 Abs 3 ASVG) und damit verbunden um die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes. Der Wohnort der Versicherten ist abgelegen und Teil einer typischen Pendler:innengemeinde. Ein Verlegen ihres Wohnsitzes oder ein Wochenpendeln ist ihr nicht zuzumuten. Zu klären war, ob ein Tagespendeln noch möglich ist: Sie sei dann nicht invalid, wenn sie adäquate Arbeitsplätze auch mit einem privaten Fahrzeug erreichen kann. Die Entscheidung fügt sich damit in die Rsp zur Zumutbarkeit der Nutzung eines privaten Fahrzeugs ein (etwa OGH10 ObS 28/18tDRdA 2019, 159 [Weißensteiner]; OGH10 ObS 145/14t SVSlg 63.757).
Dabei soll es nicht auf ein eigenes Fahrzeug ankommen, sondern schon ausreichen, dass ein Fahrzeug im Familienverband vorhanden ist und ihr tatsächlich 409 überlassen wird. In ähnlicher Weise stellte der OGH etwa bereits in seiner E 10 ObS 153/02a vom 28.5.2002darauf ab, ob ein Fahrzeug „im Haushalt“ vorhanden ist (SSV-NF 16/62; ebenso OGH10 ObS 121/09fDRdA 2010, 354 [de Brito]).
Die Entscheidung behandelt eine Versicherte ohne Berufsschutz beim Anspruch auf Invaliditätspension (§ 255 Abs 3 ASVG). Der Berufsschutz fehlt neben den ungelernten Arbeiter:innen auch all jenen Versicherten, die ihn mangels Ausübung eines qualifizierten Berufs verloren haben. Für diese ist der gesamte Arbeitsmarkt Verweisungsfeld, das in erster Linie nur durch das Leistungskalkül der Versicherten und die Lohnhälfteregel begrenzt wird. Zudem sind jene Tätigkeiten auszuscheiden, die am Arbeitsmarkt praktisch nicht (mehr) vorkommen (OGH10 ObS 12/87 SVSlg 33.167). Hingegen ist unerheblich, ob die Arbeitsstellen zwar vorhanden, aber besetzt sind. Dass die Versicherten eine Tätigkeit noch ausüben können, sie aber keine offene Stelle finden, ist vielmehr ein Risiko der AlV (Neumayr, ZAS 2003, 196 [197]). Auch ist auf die bisher ausgeübte Tätigkeit, schon nach dem Wortlaut des § 255 Abs 3 ASVG, billige Rücksicht zu nehmen. Nach hA werden dadurch aber lediglich höher qualifizierte Berufe und selbstständige Erwerbstätigkeiten ausgeschlossen. Die Versicherten könnten diese Tätigkeiten bei ihrem Gesundheitszustand noch ausüben, bräuchten dafür aber eine grundlegende Umschulung, die sie oft gar nicht absolvieren könnten (Pfeil/Auer-Mayer, Österreichisches Sozialrecht13 [2021] 111; RIS-Justiz RS0084991 [insb T6]).
Die Umrisse des Verweisungsfeldes werden damit abstrakt gezogen. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit liegt solange nicht vor, als weiterhin eine abstrakte Chance besteht, eine Beschäftigung auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt zu finden. Durch diese abstrakte Betrachtung soll die Gleichbehandlung der Versicherten gewährleistet werden. Die Voraussetzungen des Leistungsbezugs sind damit dem Einfluss der Versicherten entzogen (vgl etwa OGH 26.6.2008, 10 ObS 83/08s).
Für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist nicht nur die Tätigkeit selbst maßgeblich: Arbeitsfähig ist nur, wer auch die typischen Anforderungen der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes erfüllt. Eine Gehbehinderung schließt die Versicherten damit solange nicht vom Arbeitsmarkt aus, als sie die üblichen erforderlichen Arbeitswege (von zumindest 500 m) zurücklegen und ohne wesentliche Einschränkungen ein öffentliches Verkehrsmittel benützen können (RIS-Justiz RS0085049; zuletzt OGH 21.3.2023, 10 ObS 21/23w). Die Fähigkeit, den Arbeitsplatz zu erreichen, zählt damit zum Leistungskalkül und ist Teil des versicherten Risikos.
Die Versicherten werden so verpflichtet, ihre Arbeitsfähigkeit so weit als möglich am Arbeitsmarkt zu verwerten. Damit ist ihre Mitverantwortung angesprochen: Im Sozialversicherungsrecht setzt diese häufig bei einem konkreten Verhalten an, wie etwa der Versagung des Krankengeldanspruchs nach § 142 ASVG (etwa bei Arbeitsunfähigkeit infolge von Trunkenheit) oder dem Ruhen des Arbeitslosengeldes bei mangelnder Arbeitswilligkeit nach § 10 AlVG. Die Voraussetzungen für den Leistungsbezug sind zwar prinzipiell erfüllt, der Verstoß gegen dieses Pflichtenprogramm wird dann aber mit dem Ausscheiden aus dem Leistungsbezug sanktioniert. Indem die Mitverantwortung bei der Invaliditätspension abstrakt formuliert ist, wird keine Erwartung an ein konkretes Verhalten formuliert, sondern der Umfang des Pflichtenprogramms selbst festgelegt. Es geht also darum, ob überhaupt noch eine Mitverantwortung unterstellt werden darf. Der Leistungsbezug setzt insofern voraus, dass sie den Versicherten gerade nicht mehr abverlangt werden kann (vgl Neumayr, DRdA 2005, 471 [477]).
Diese abstrakte Perspektive schließt andere Zugangsschranken zum Arbeitsmarkt aus, die nur auf rein persönliche Umstände zurückzuführen sind. Hierfür gibt es zwei Begründungsansätze: Zunächst wird darauf verwiesen, dass ihre Berücksichtigung es den Versicherten erlauben würde, die Voraussetzungen der Pensionsleistung (etwa durch Wahl des Wohnsitzes) selbst zu beeinflussen (zuletzt etwa OGH 13.9.2022, 10 ObS 107/22s). Zudem betreffen diese persönlichen Umstände nicht die (geminderte) Arbeitsfähigkeit, sondern Vorbereitungshandlungen zur Verrichtung der Arbeit (etwa Ankleiden) und unterliegen damit nicht dem hier versicherten Risiko (OGH10 ObS 120/90 SSV-NF 4/78).
Nach dem OGH enthalte § 255 Abs 3 ASVG aber ein allgemeines Zumutbarkeitskriterium, bei dessen Anwendung der zunächst abstrakten Prüfung individuell-konkrete Umstände als Korrektiv gegenübergestellt werden (Rn 20 f). ME kann dieses weit verstandene Zumutbarkeitskriterium nicht unmittelbar dem Abs 3 leg cit entnommen werden. Der Wortlaut ist dafür zu eng, denn er misst die Zumutbarkeit (nur) an den von den Versicherten (bisher) ausgeübten Tätigkeiten. Eine darüberhinausgehende Zumutbarkeitsprüfung kann vielmehr nur angenommen werden, indem sie generell dem Sozialversicherungsrecht als ungeschrieben, aber mitgedacht unterstellt wird (vgl dazu Födermayr, JAS 2017, 285 [290 f]).
Umfasst die Verweisung das gesamte Bundesgebiet, verpflichtet dies implizit zur Wohnsitzverlegung oder zum Wochenpendeln (Neumayr, DRdA 2005, 471 [476]). Entspricht dies nicht dem Leistungskalkül der Versicherten, steht auch der allgemeine Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. In diesem Fall wird das geographische Verweisungsfeld auf einen regionalen Arbeitsmarkt eingeschränkt, für den die individuellen Gegebenheiten maßgeblich sein sollen (etwa OGH10 ObS 34/93 SSV-NF 7/18). 410
Für die Erreichbarkeit wird daher nicht mehr zwangsläufig nur auf einen Fußweg und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel abgestellt: Soweit dies für den betreffenden regionalen Arbeitsmarkt typisch ist, kann den Versicherten auch die Nutzung eines privaten Fahrzeugs abverlangt werden (OGH 28.5.2002, 10 ObS 153/02a). Dabei orientiert sich der OGH an der Rsp des VwGH zur Arbeitswilligkeit nach §§ 9 ff AlVG (etwa VwGH99/08/0104DRdA 2002, 424 [Krapf ]).
Sowohl in der PV wie auch in der AlV muss es sich nicht um ein eigenes Fahrzeug der Versicherten handeln, erheblich ist vielmehr, ob es ihnen tatsächlich zur Verfügung steht. Dies kann dann der Fall sein, wenn die Versicherten ein Fahrzeug eines:einer Familienangehörigen nutzen können. Steht ein Fahrzeug hingegen nicht zur Verfügung, wäre die Pension zuzusprechen. Die Anschaffung eines eigenen Fahrzeugs ist hingegen nur denkbar, wenn die Kosten des Ankaufes (fast) zur Gänze vom Sozialversicherungsträger getragen werden (OGH10 ObS 347/88 SSV-NF 3/142).
Damit offenbaren sich zwei Probleme der individuellen Prüfung der konkreten Umstände: Erstens verschwimmt die Abgrenzung zur AlV. Die Invaliditätspension soll vor dem Risiko der geminderten Arbeitsfähigkeit schützen, die ihre Ursache im körperlichen oder geistigen Zustand der Versicherten hat. Sind sie hingegen aus anderen Gründen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, etwa weil sie über kein privates Fahrzeug verfügen, ist dies nicht unmittelbar Risiko der PV (OGH10 ObS 218/94 SVSlg 40.560; Neumayr, ZAS 2003, 196 [198]).
Zweitens bleiben persönliche Umstände bei der Prüfung der Frage, ob Invalidität besteht, prinzipiell außer Betracht. Hier werden aber nicht nur persönliche Umstände der Versicherten zugrunde gelegt, sondern auch jene der Familienangehörigen einbezogen. Dies wirft weitere Bedenken auf: Zunächst scheint es so, als würde der OGH darauf abstellen, dass den Versicherten das Fahrzeug tatsächlich zur Verfügung steht. Demnach kann es nicht ausreichen, dass ein Zurverfügungstellen bloß sozial zu erwarten ist oder die Angehörigen gar dazu verpflichtet sind, ihr Fahrzeug zur Verfügung zu stellen, weil sie darauf gerichtete Beistandspflichten treffen (als Ehegatt:innen nach § 90 ABGB oder als Verwandte in gerader Linie nach § 137 ABGB; vgl dazu auch OGH2 Ob 83/88 ZVR 1989/77). Für ein Abstellen auf die tatsächliche Nutzungsmöglichkeit spricht, dass Beistandspflichten als solche nicht unmittelbar klagbar sind (dazu Hopf/Kathrein, Eherecht3 § 90 ABGB Rz 18 ff [Stand 1.4.2014, rdb.at]; Gitschthaler in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB PraxKomm I5 [2018] § 137 Rz 22 ff).
Wird aber allein auf das Faktum und nicht die Pflicht abgestellt, tritt der Versicherungsfall auch dann ein, wenn Familienangehörige ein Fahrzeug nicht zur Verfügung stellen, obwohl sie aufgrund ihrer Beistandspflicht dazu verpflichtet wären. Dies hat in praktischer Hinsicht für sich, dass die Beistandspflicht ihrerseits einer Zumutbarkeitsprüfung unterliegt, was die Ermittlung, ob eine solche Pflicht besteht, erheblich erschwert.
Andererseits haben es damit die Angehörigen aber auch in der Hand, den Versicherungsfall gezielt eintreten zu lassen, indem sie gegen ihre Beistandspflicht verstoßen. De Brito weist zudem zutreffend hin, dass der Eintritt des Versicherungsfalls von Umständen abhängt, die wechselhaft sein können: So könnte etwa das Fahrzeug wieder entzogen werden, wenn der:die Angehörige dieses (etwa aufgrund geänderter eigener Dienstzeiten) selbst benötigt (DRdA 2010, 354 [357]).
Gerade diese Volatilität, ob die Voraussetzungen für den Leistungsbezug erfüllt sind oder nicht, lässt sich nur schlecht mit der Grundkonzeption der PV in Einklang bringen, deren Leistungen auf längere Dauer oder überhaupt auf Dauer angelegt sind (Neumayr, DRdA 2005, 471 [477 f]). Mit dem „Changieren“ zwischen abstraktem und konkretem Prüfungsmaßstab bei der Invaliditätspension (Müller, ZAS 2019, 222 [225]) versucht der OGH die komplexe Koordinierung zwischen AlV und PV zu lösen. Weitestgehend gelingt dies überzeugend. Hier wird der Leistungsbezug aber von Umständen abhängig gemacht, die nicht mehr unmittelbar mit der (geminderten) Arbeitsfähigkeit der Versicherten verknüpft sind, sondern sogar von persönlichen Umständen Dritter abhängen. Dies spricht mE dafür, solche individuellen Umstände auszublenden (vgl auch de Brito, DRdA 2010, 354 [357]) und diese stattdessen dem Risiko der AlV zu überlassen, in der die Frage der Zumutbarkeit schon grundsätzlich konkret auf einen bestimmten Arbeitsplatz abstellt. 411